Entscheidungsdatum
11.11.2020Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W191 2141750-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christian Schmaus, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.11.2016, Zahl 1104632608-160187135, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.10.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides gemäß §§ 3 und 8 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden behoben und die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 9 BFA-Verfahrensgesetz auf Dauer für unzulässig erklärt.
III. XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und § 58 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 05.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Dem Verwaltungsakt liegen mehrere Seiten eines offenbar beim BF sichergestellten und abgenommenen Reispasses in Kopie ein.
1.2. In seiner Erstbefragung am folgenden Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, gab der BF an, er stamme aus XXXX , Distrikt Jaghori, Provinz Ghazni, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und ledig. Er habe fünfzehn Jahre lang Grund- und höhere Schulen in Ghazni und Kabul besucht und auch als Fliesenleger und Elektriker gearbeitet. Seine Familie (Eltern, ein Bruder, sechs Schwestern) lebe zuhause, zwei weitere Schwestern würden im Iran leben.
Er habe seine Reise vor ca. dreieinhalb Monaten begonnen und sei über den Iran (Aufenthalt knapp zwei Monate), die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien bis nach Österreich gereist.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er in Kabul Straßenbau studiert und für eine deutsche Firma gearbeitet habe, die Straßen baue. Solche Personen würden jedoch von den Taliban bedroht oder getötet. Außerdem habe er als Hazara wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit Angst vor den Taliban.
1.3. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) am 14.11.2016, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und beantwortete nähere Fragen zu seinen Lebensumständen. Er stamme aus dem Dorf XXXX . In Kabul habe er zwei Jahre lang an der Universität Straßenbau studiert und auch drei Monate in diesem Bereich gearbeitet.
Er legte seine Tazkira (afghanisches Personaldokument), ein Schulzeugnis, einen Praktikumsausweis der Universität und ein „Logbuch“ des Praktikums vor. Neben der Schule habe er vier Jahre lang als Verkäufer in einem Bekleidungsgeschäft in XXXX und bei seinem Onkel als Imkergehilfe gearbeitet.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF an (Auszug aus der Einvernahmeniederschrift, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„VP [Verfahrenspartei]: Der erste Grund ist wegen meiner Religion. Man kann wegen der Religion nicht frei herumreisen.
Der zweite Grund ist wegen meiner Volksgruppenzugehörigkeit. Hazara kann man von der Ferne erkennen. Wir werden aufgegriffen, auch 9-jährige Kinder. Es ist schon eine Straftat, Hazara zu sein. Man kann nicht einmal sich von Kabul nach Jaghouri bewegen.
Die Heimat habe ich aber auch wegen meiner Arbeit aufgegeben. Dort, wo ich gearbeitet habe, in Gardan-e Poly Technik (Universität Ingenieurwesen). Ich habe dort gearbeitet. Gegen 12 Uhr oder 12:15 haben sich drei Arbeiter auf der Baustelle aufgehalten. Die Pläne hatte ich bei mir. Die Arbeiter haben nicht gemäß den Plänen gearbeitet. Einer der Arbeiter, den ich darauf angesprochen habe, hat mir widersprochen. Er hat mir vorgeworfen, was ich mir überhaupt erlaube. Ich habe ein Foto von der Arbeit gemacht, um es dem Ingenieur zu zeigen. Er hat mir das Telefon aus der Hand gerissen und zerstört. Ich hatte meinen Dienstausweis um den Hals gehängt. Er griff danach und hat meine Daten gelesen. Der Arbeiter hat gesagt, er wird sich über mich beschweren, und mich geohrfeigt. Er sagte: Der Staat und die Taliban sind auf meiner Seite. Bei wem willst du dich beschweren? Hazara hat man nicht einmal als Hilfsarbeiter aufgenommen, jetzt kommst du und willst dich über mich beschweren.
Es war Mittagspause und der Ingenieur nicht da. Ich bin zurück ins Studentenheim. Dieser Mann hat mich angegriffen und mein Handy zerstört und meinen Dienstausweis genommen. Ich bin am nächsten Tag nicht Arbeiten gegangen. Am nächsten Tag musste ich Arbeiten gehen, weil der Professor den Grund meiner Abwesenheit wissen wollte. Ich war beim Professor und habe ihm den ganzen Vorfall geschildert. Dieser Mann hat die Absicht gehabt, dass ich meine Arbeit verliere und aus Kabul verschwinde. Der Professor meinte, er wird das Gespräch mit diesem suchen. Ich hatte keinen Beweis, da er mein Telefon zerstört hatte. Der Professor meinte, ob ich eine Entschuldigung akzeptieren werde. Ich sagte zu und wollte nur nicht bedroht werden. Wir wurden gegenübergestellt. Vor dem Professor meinte er, es war ein Missverständnis. Es kommt zu keiner Wiederholung. Am Tag nach dem Gespräch, als ich wieder arbeiten war, hat er mich mehrfach verbal bedroht. Ich bekam große Angst und konnte mich nicht mehr frei bewegen. Vier bis fünf Tage war ich nicht auf der Baustelle. Ich habe eine Telefonverpackung zugeschickt bekommen, darin war ein Zettel, auf dem stand: Morgen gegen 19 oder 19:30 soll ich nach Kot-e Sangi kommen. Ich vergebe dir. Meine Angst hat sich vermehrt. Wenn er mir vergibt, warum bestellt er mich. Wenn ich rausgegangen bin, hatte ich Verfolgungsangst. Schlussendlich hatte ich mich entschlossen zu fliehen. Die Drohung, die er verbal ausgesprochen hat, war, dass er früher oder später mich egal wo erwischen wird. Er hat sich von mir gedemütigt gefühlt und in seiner Ehre verletzt. Ich habe mich nur mit meinem Vater beraten, meine Mutter weiß nichts davon. Es war eine Notsituation, nach Jaghouri konnte ich nicht zurück. Ich habe im Bereich von Straßenbau gearbeitet. In Kabul habe ich mich nicht mehr sicher gefühlt. Auch woanders war das Leben nicht mehr möglich. Ich habe aus Not Kabul verlassen.
Nachdem ich entschieden habe, die Heimat zu verlassen, bin ich nebenbei noch Arbeiten gegangen, damit dieser Mann nicht stutzig wird. Deswegen habe ich meine Heimat verlassen.
[...]
LA [Leiter der Amtshandlung]: Wann war dieser Vorfall mit dem Arbeiter?
VP: In Afghanistan nimmt man Daten nicht so ernst. Es war glaube ich ein Mittwoch. Zwischen 10:00 und 10:15.
LA: Was hatte der Arbeiter falsch gemacht?
VP: Er hätte in dem Bereich zum Zement anbringen müssen. Er hat das nicht gemacht und einfach die Masse hineingeschüttet. In dem Moment war niemand da. Er hat sich die Arbeit vereinfacht. Das Fixieren mit Zement ist notwendig. Nachgefragt: Es hätten Ziegeln gestapelt werden müssen, und er hat keinen Zement verwendet.
LA: Wie haben Sie das bemerkt?
VP: Ich bin dort gestanden und habe überprüft und habe das beobachtet.
LA: Warum sind Sie nicht schon vorher eingeschritten?
VP: Ich bin eingeschritten und habe gesehen, dass er nicht die Masse verwendet, die gehört.
LA: Schildern Sie mir das Gespräch mit dem Arbeiter in allen Details!
VP: Ich habe ihn angesprochen und gesagt, dass dies ein Fehler ist. Ich habe ihn aufgefordert, planmäßig zu arbeiten. Wer bist du, dass du es dir erlaubst, so mit mir zu sprechen. Ich habe ein Foto gemacht, und er hat nach meinem Handy gegriffen und es zerstört. Er hat nach meinem Ausweis gegriffen. Er hat meine Personaldaten gelesen und mich geohrfeigt.
LA: Wie viele Tage sind vom Vorfall bis zum Ausreiseentschluss vergangen?
VP: Ca. acht bis zehn Tage.
LA: Wie viele Tage sind vom Ausreiseentschluss bis zur Ausreise vergangen?
VP: Ca. ein bis eineinhalb Monate. Ich hatte abgewartet und gehofft, eine Besserung tritt ein.
LA: Was war nun konkret das fluchtauslösende Moment? Was gab den Ausschlag, dass Sie Ihr Heimatland verlassen mussten?
VP: Als mir das Paket zugesendet wurde, mit dem Zettel. Ich hatte Verfolgungswahn.
LA: Wann nach dem Vorfall kam dieses Paket?
VP: Neun bis elf Tage nach dem Vorfall.
LA: Wie haben sich jetzt die Bedrohungen dargestellt, die Sie erfahren haben?
VP: Auf der Baustelle wurde ich geohrfeigt und verbal bedroht.
LA: Wie oft wurden Sie geohrfeigt?
VP: Ich wurde einmal geohrfeigt.
LA: Wie oft wurden Sie verbal bedroht?
VP: Sehr oft.
LA: Präzisieren Sie mir sehr oft!
VP: Am Tag des Vorfalls, am fünften Tag danach. Nachgefragt: ca. über 30 Mal.
LA: Schildern Sie mir eine Drohung? Suchen Sie sich eine aus!
VP: Ich wurde geohrfeigt. Er sagte, ich werde dich nicht einfach davonkommen lassen. Ich schwöre auf die Milch meiner Mutter, wenn du mir entkommst, dann habe ich Eselmilch bekommen.
LA: Schildern Sie mir die für Sie schlimmste Drohung!
VP: Er sagte: Wo du auch immer hingehst, ich werde dich finden. Ich werde dich mit meinen eigenen Händen töten. Ich finde dich, ob früher oder später.
LA: Wie oft hatten Sie eine Todesdrohung erfahren?
VP: Genau kann ich mich nicht erinnern. Es war aber oft.
LA: Wer war das überhaupt?
VP: Ich weiß nicht sehr viel über ihn. Er wurde als Usta (laut Asylwerber ein Ausdruck für Hilfsarbeiter) bezeichnet. Ich habe dann meinen Professor gefragt, und er meinte, ich soll keine Nachforschungen machen. Ich sagte, ich will mich nicht rächen.
LA: Wie alt?
VP: Er war ca. 50 Jahre alt. Mittelgroß.
LA: Welche Ethnie?
VP: Er hat Dari gesprochen, ich konnte ihn nicht zuordnen. Mit Sicherheit kein Hazara. Ich vermute Paschtune, weil er gesagt hat, dass er auch von den Taliban Unterstützung hat.
LA: Was haben Sie diese ein bis eineinhalb Monate gemacht?
VP: Ich bin selten Arbeiten gegangen, ich habe gelernt und war selten draußen.
LA: Wie oft haben Sie den Mann in dieser Zeit gesehen?
VP: Am Arbeitsplatz habe ich ihn gesehen. Acht bis zehn Mal am Arbeitsplatz habe ich ihn gesehen. Dann kam das Paket.
LA: Ist bei diesen acht bis zehn Mal etwas vorgefallen?
VP: Er hat mich angesprochen, vergiss meine Worte nicht, wo auch immer. Das hat meine Angst verstärkt.
LA: Wann ungefähr nach dem Ausreiseentschluss haben Sie den Reisepass beantragt?
VP: Genau kann ich mich nicht erinnern, ca. … (es kommt keine Antwort). Ich glaube zehn bis zwölf Tage nach dem Ausreiseentschluss habe ich den Antrag gestellt.
LA: Warum haben Sie sich überhaupt einen Reisepass ausstellen lassen?
VP: Ich hatte Angst illegal auszureisen. Ich hatte keine Probleme mit dem Staat, sondern mit einer privaten Person.
LA: Warum haben Sie dann nicht den Staat um Hilfe ersucht?
VP: Ich hatte keine Beweismittel.
LA: Haben Sie die Straße wieder abgerissen?
VP: Ich weiß nicht, was dort passiert ist. Welche Straße meinen Sie?
LA: Die Straße, wo schlecht gearbeitet wurde?
VP: Ich vermute, dass der Fehler behoben wurde, nachdem ich es gemeldet habe.
LA: Von wem?
VP: Ich vermute, dass er es selber gemacht hat.
LA: Wissen Sie den Namen der Person?
VP: Nein.
LA: Warum nicht?
VP: Er hatte keinen Ausweis. Ich habe den Professor später gefragt, und er hat gesagt, ich soll davon ablassen.
LA: Warum haben Sie dann nicht den Staat um Hilfe ersucht?
VP: Ich hatte keine Beweise.
LA: Man hätte doch rasch zu der Baustelle gehen können?
VP: Ich hatte Angst um mein Leben. Er sagte, er hätte Leute, die für den Staat arbeiten, und die Taliban. Ich war mir sicher, dass mir niemand in Afghanistan helfen wird.
LA: Glauben Sie, dass dieser Mann Sie nach wie vor sucht?
VP: Ja, zu 100%.
LA: Und woher wissen Sie das?
VP: Er hat mich bedroht.
LA: Glauben Sie, dass er Sie nach diesem halben Jahr noch immer sucht?
VP: Wenn Afghanen einmal schwören, dann hält das.
LA: Wenn Sie jetzt nach Kabul zurückkehren würden, was droht ihnen dort?
VP: Bei einer Rückkehr wird man einen Aufenthalt in Europa als Straftat sehen. Wenn dieser Mann erfährt, dass ich wieder da bin, wird er sich an mir rächen. Ich fürchte auch die Taliban und die Daesh.
LA: Woher soll dieser Mann erfahren, dass Sie wieder da wären?
VP: Jene, die zurückgeschoben werden, darüber wird berichtet im Fernsehen. Ich hätte keine Sicherheit und kein ruhiges Leben mehr.
LA: In Kabul wohnen über vier Millionen Menschen. Selbst wenn dieser Mann Kenntnis über Ihre Rückkehr erlangen würde, wie könnte er Sie finden?
VP: Er weiß, wie ich aussehe, er hat meinen Ausweis. Ich gehöre einer Volksgruppe an, die man erkennt. Weil ich Zeit im Ausland verbracht habe, droht mir auch seitens der Taliban und der Daesh Gefahr.
LA: Glauben Sie wirklich, der Mann hat nichts anderes zu tun, als Sie zu suchen? Wie soll er seinen Lebensunterhalt verdienen, wenn er die ganze Zeit nur Sie sucht?
VP: Ich weiß nicht, wie er es macht, aber ich lebe in ständiger Angst, weil ich mich verfolgt fühle.
Mit dem BF wurden laut Niederschrift „Länderfeststellungen“ erörtert, wozu er angab:
„Ich war in Afghanistan, ich möchte aber auch leben können. Ich werde wegen meiner Volksgruppe diskriminiert. Meine Eltern leben in Jaghouri. Sie sind dort geboren, aufgewachsen und leben wie in einem Käfig. Es wird behauptet, dass einige Orte in Afghanistan sicher sind, dem ist aber nicht so. Ich möchte am Leben bleiben und meine Rechte als Mensch beibehalten.“
Zu seinen Integrationsbemühungen legte der BF Deutschkursbestätigungen und ein Referenzschreiben eines Imkers vor.
1.4. Mit Bescheid vom 15.11.2016 wie das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 05.02.2016 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF „2“ [zwei] Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Sein Fluchtvorbringen beurteilte das BFA als vage, widersprüchlich und unplausibel und somit nicht glaubhaft. Zudem könne er zwar nicht in seine Heimatprovinz Ghazni zurückkehren, es stehe ihm aber eine innerstaatliche Fluchtalternative mit Kabul offen.
1.5. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit knappem Schreiben seines damals zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 05.12.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) „wegen inhaltliche Fehler, Verfahrensmängeln und falscher rechtlicher Beurteilung“ ein.
Die Beschwerdebegründung blieb rudimentär.
Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
1.6. Der BF brachte mit Schreiben vom 30.01.2017 eine Beschwerdeergänzung ein, in der er auf beweiswürdigende Überlegungen zu seinem Fluchtvorbringen im angefochtenen Bescheid einging und vorbrachte, er habe dem BFA eine Bestätigung seines Arbeitgebers in Afghanistan, im Bescheid „Arbeitslogbuch“ genannt, vorgelegt, dem das BFA nicht die erforderliche Bedeutung zugemessen habe.
Beigelegt waren dieser Eingabe zwei weitere Empfehlungsschreiben sowie eine Deutschkursbestätigung.
1.7. Im Folgenden bemühte sich der BF um den Rückerhalt dieser Bestätigung vom BFA und übermittelte es sodann an das BVwG. Im Begleitschreiben vom 06.03.2017 versuchte er, vom BFA angenommene Widersprüche aufzuklären.
1.8. Mit weiteren Eingaben vom 07.11.2017, 04.07.2019 (mit Vollmacht seines nunmehrigen anwaltlichen Vertreters) und 10.09.2019 legte der BF weitere Bescheinigungsmittel für seine Integrationsbemühungen in Österreich vor (Integrationsprüfung, Genehmigung für Bachelorstudium TU Wien, Bestätigungen gemeinnützige Tätigkeiten Pflegeheim und Behindertenbetreuung, Deutschzertifikat B2, Einstellungszusage, Referenzschreiben Judoklub und Kegelklub, Empfehlungsschreiben Imker u.a.m.).
1.9. Das BVwG führte am 09.10.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF in Begleitung seiner Vertreterin und mehrerer Vertrauenspersonen sowie ein Vertreter des BFA persönlich erschienen.
Der BF machte dabei auf richterliche Befragung Angaben, die im Wesentlichen mit seinen bisher im Verfahren gemachten Angaben über seine Herkunft und seine Lebensverhältnisse übereinstimmten.
Zu seiner Integration gab er ergänzend an, dass er sich den Besuch des Bachelorstudiums an der TU Wien nicht leisten könne. Er besuche nun die Schule für Sozialbetreuungsberufe – Behindertenarbeit in Wien. An die islamischen Gebets- und Ernährungsvorschriften halte er sich nicht mehr.
Die anwesenden Vertrauenspersonen – darunter eine gute Bekannte, mit der er gleichsam ein Mutter-Sohn-Verhältnis aufgebaut habe – gaben als Auskunftspersonen befragt übereinstimmend an, dass sich der BF ganz außergewöhnlich verlässlich und tüchtig verhalte und bei zahlreichen sozialen Tätigkeiten hervorsteche (Behindertenhilfeverein, Sportklubs, privat).
Bezüglich seines Fluchtvorbringens bestätigte bzw. wiederholte der BF im Wesentlichen seine bisher gemachten Angaben und legte keine weiteren Bescheinigungsmittel vor. Er habe seine Arbeit richtig machen wollen und sei dafür, dass er einen Vorarbeiter darauf hingewiesen habe, dass dieser die Zementmischung nicht richtig erstellt und mit billigeren Materialien gearbeitet habe, öfter bedroht worden. Der Bedroher habe angegeben, dass er selber zu den Taliban gehöre und viele Taliban kenne.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde er von diesem Vorarbeiter wohl nur dann gefunden werden können, wenn er wieder an dieser Stelle eingesetzt werden würde, aber er wäre in Gefahr, weil er als Rückkehrer zu „westlich“ erscheine. Ihm würde unterstellt, dass er mit Christen zusammen gewesen sei, Alkohol trinke und ein Ungläubiger geworden sei.
Der Vertreter des beantragte die Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II., nicht aber hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV., und begründete dies wie folgt:
„Zum Asylstatus: Aus Sicht des BFA ist der Fluchtgrund nicht dergestalt, dass eine wohlbegründete Furcht vor einer individuellen, aktuellen Bedrohung/Verfolgung im Sinne der GFK vorliegt. Speziell vor dem Hintergrund der seitens des erkennenden Gerichts eingebrachten Länderinformationen (im Speziellen jene von Dr. Rasuly). Überdies hat auch der VwGH eine landesweite Bedrohung der Taliban bei „low-profile“-Personen ausgeschlossen (Ra 2020/14/0004 vom 28.01.2020). Im Übrigen stünde dem BF eine IFA mit den Großstädten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat zumutbar zur Verfügung, und dies auch unter Berücksichtigung der aktuellen EASO-Guidance, womit der Asylantrag schon gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 AsylG abzuweisen wäre.
Zum subsidiären Schutz: Nachdem eine IFA schon bei der Frage des Asylstatus als zumutbar aus der Sicht des BFA angesehen wurde, ist dies auch hinsichtlich des subsidiären Schutzes so zu erkennen. Auch gehört der BF zu keiner Risikogruppe im Sinne des COVID-19, weshalb es auch hier zu keiner „real risk“-Bedrohung gemäß EMRK kommt.“
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es beantragte in der Verhandlung die Abweisung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. (betreffend Asyl und subsidiärer Schutz), nicht jedoch gegen die Spruchpunkte III. und IV. (betreffend Rückkehrentscheidung und Aufenthaltstitel).
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 06.02.2016 und der Einvernahme vor dem BFA am 14.11.2016, die vom BF vorgelegten Bescheinigungsmittel zu Identität, Fluchtvorbringen und Integration, den angefochtenen Bescheid sowie die gegenständliche Beschwerde
? Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 87 bis 132)
? Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 30.10.2020 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zu seiner Integration (Integrationsprüfung, Deutschzertifikat B2, Genehmigung für Bachelorstudium TU Wien, Bestätigungen gemeinnützige Tätigkeiten Pflegeheim und Behindertenbetreuung, Einstellungszusage, Referenzschreiben Judoklub und Kegelklub, mehrere Empfehlungsschreiben, Referenzschreiben eines Imkers u.a.m.)
? Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Ghazni und über die Lage der Hazara sowie zu den Auswirkungen der Covid 19 Pandemie (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020)
o Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Länderkundigen Dr. Sarajuddin Rasuly (in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009) zum Vorbringen des BF, er werde von den Taliban verfolgt
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , stammt aus XXXX , XXXX , Distrikt Jaghori, Provinz Ghazni, Afghanistan, ist Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam und ist ledig. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Farsi.
Der BF hat im Herkunftsstaat zwölf Jahre lang die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen und anschließend zwei Jahre lang in Kabul Straßenbau studiert. Seine Eltern, ein Bruder und sechs Schwestern leben in Ghazni, zwei weitere Schwestern leben im Iran.
3.1.2. Der BF verließ seine Heimat aus angegebenen Gründen und reiste nach Europa, wo er am 05.02.2016 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat nicht inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst Probleme. Er war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.
3.2.2. Der BF hat mit seinem Vorbringen, dass er beim Straßenbau von einem Vorarbeiter unter Hinweis auf Beziehungen zu den Taliban bedroht worden sei, weil er diesen darauf hingewiesen habe, dass er die Zementmischung nicht richtig erstellt und mit billigeren Materialien gearbeitet habe, eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung – etwa aus den oben in Punkt 3.2.2. angeführten Gründen – aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.
3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
3.4. Zur Integration des BF in Österreich:
3.4.1. Der BF ist spätestens seit 02.02.2016 in Österreich aufhältig. Er ist als junger Mann (mit 22 Jahren) nach Österreich gekommen und hat ernsthaft, seriös und außergewöhnlich erfolgreich Integrationsbemühungen gesetzt. Er hat die Integrationsprüfung mit Deutschzertifikat B2 abgelegt, gemeinnützige Tätigkeiten im Pflegeheim und in der Behindertenbetreuung (Verein „Bunt Gemisch“) ausgeübt, ist in einem Judo- und in einem Kegelklub aktiv, hat einem Imker bei seiner Tätigkeit geholfen, hat eine Genehmigung für das Bachelorstudium Informatik an der TU Wien, besucht die Schule für Sozialbetreuungsberufe – Behindertenarbeit in Wien, betreibt zwei eigene Radiosendungen am Sender Ypsilon in Hollabrunn und verfügt über sehr gute soziale Kontakte zu Österreichern.
3.4.2. Der BF ist irregulär in das Bundesgebiet eingereist. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Das Vorliegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen ist nicht bekannt.
3.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
3.5.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan („Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[…] 1. Politische Lage
Letzte Änderung: 18.05.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020; UNGASC 17.03.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28.09.2019 stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum, wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.04.2020). Am 09.03.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020) einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten, und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.05.2020; vgl. BBC 17.05.2020; DW 17.05.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.05.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.05.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs die Gespräche (AJ 07.05.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 06.05.2020)], andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innenpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 07.05.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.04.2020).
Das Abkommen mit den US-Amerikanern
Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020).
2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).
Für den Berichtszeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.03.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.01.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
[…]
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (08.11.2019 - 06.02.2020) fort: acht Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (09.08. - 07.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres zwölf Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).
Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (NYT 26.03.2020; vgl. TN 26.03.2020; BBC 25.03.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sei ein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LWJ 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018) bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.03.2020). Jahrelange konzentrierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.02.2020; vgl. MT 27.02.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.03.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 02.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.03.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.03.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 02.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban a