TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/12 W191 2138581-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.11.2020
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Entscheidungsdatum

12.11.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W191 2138581-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert Bitsche, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.10.2016, Zahl 1124714808-161057191, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.11.2020 zu Recht:

A)

I.       Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II.      Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.




Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 30.07.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Eine EURODAC-Abfrage ergab keine Übereinstimmung bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten des BF.

1.2. In seiner Erstbefragung am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:

Er stamme aus [der Provinz] Laghman, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und verheiratet. Er habe sechs Jahre die Grundschule besucht und zuletzt als Fahrer gearbeitet. Seine Eltern, seine Ehefrau und seine vier Söhne und eine Tochter sowie seine sechs Brüder und drei Schwestern lebten zuhause.

Afghanistan habe er vor ca. fünf Monaten verlassen und sei über den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich gelangt.

Zum Fluchtgrund befragt gab der BF an, dass er Afghanistan verlassen habe, weil sich sein Vater den Taliban angeschlossen und ihn zwingen habe wollen, dass er sich ihnen ebenfalls anschließe. Andererseits sei er von der Regierung öfters festgenommen worden, nur weil sich sein Vater den Taliban angeschlossen habe.

1.3. Bei seiner Einvernahme am 07.10.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben und führte sie auf Befragung näher aus. Ein Kind sei noch nachgekommen, seine Frau sei damals schwanger gewesen, jetzt habe er sechs Kinder.

Seine Tazkira und seinen Führerschein habe er bei einem Freund angefordert, sie seien auf dem Weg.

Der BF gab an, er sei in Pakistan geboren und habe dort vier Klassen die Schule besucht. Dann habe ihn sein Vater von der Schule genommen und in eine religiöse Einrichtung geschickt. Als Karzai Präsident geworden sei, seien sie nach Afghanistan zurückgegangen. Seine Großeltern und Eltern seien in Laghman geboren. In Laghman habe er vor neun Jahren geheiratet.

Der BF gab an, ein Bruder sei im Gefängnis und ein anderer sei am 29.04.2016 von einer Drohne getötet worden. Seine Familie würde in Dörfern in Laghman und in Kabul leben. Sein Vater lebe bei den Taliban in den Bergen.

Zu seinen Flucht- und Asylgründen befragt gab der BF u.a. an (Auszug aus der Niederschrift, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„VP [Verfahrenspartei]: Wie ich schon gesagt habe, war ich elf Mal im Gefängnis. Die Regierung konnte nichts gegen meinen Vater anstellen, deswegen haben sie mich verhaftet. Ich habe fleißig gearbeitet und konnte meine Familie ernähren. Ich wurde aber immer willkürlich verhaftet. Sie haben immer, wenn es eine Schießerei gab, mich verhaftet und mein Geschäft zugesperrt. Ich habe der Regierung zu erklären versucht, dass dies mein Vater ist und nicht mein Bruder. Ich wurde mehrmals von meinem Vater angerufen, und er sagte, ich solle mich ihm anschließen, da ich belästigt werde. Ich wollte das nicht, habe ihm erklärt, dass ich keine unschuldigen Leute verletzen oder umbringen möchte. Ich wurde dadurch von meinem Vater und der Regierung bedroht. Deswegen musste ich Afghanistan verlassen. Die Regierung wollte, dass ich für sie arbeite, und dann hätte ich Probleme mit meinem Vater gehabt und umgekehrt. Ich bin dann geflüchtet, und deswegen wurde nun mein jüngerer Bruder von der Regierung verhaftet. Er wurde ins Gefängnis eingesperrt. Er ist komplett unschuldig. Mein Vater verübt Straftaten, und wir müssen darunter leiden. Meinen Kindern geht es finanziell gerade sehr schlecht, sie leben heruntergekommen. Ich bitte Sie darum, sich darüber zu informieren. Sie haben die Möglichkeit dazu, meinen Fluchtgrund zu überprüfen. Ich habe politische Probleme, deswegen bin ich geflüchtet. Ich möchte nicht nochmal ins Gefängnis gehen, das war auch ein Fluchtgrund. Sie schicken mich ins Gefängnis, obwohl ich unschuldig bin. Außerdem wurde mein ältester Sohn festgehalten, mit der Drohung, wenn ich mich ihnen nicht anschließe, werden sie ihn mitnehmen.

LA [Leiterin der Amtshandlung]: Haben Sie dem Vorbringen zur Gefährdungslage etwas hinzuzufügen? Haben Sie noch Details Ihrer Schilderung hinzuzufügen?

VP: Nein, das wars.

LA: Wo sind Ihre politischen Probleme?

VP: Mein Vater ist ein großer Kommandant von einem kleinen Dorf. Auf mich wurde mehrmals geschossen, weil die Feinde meines Vaters hinter mir her sind.

LA: Seit wann ist Ihr Vater bei den Taliban?

VP: Ungefähr seit zehn Jahren. Drei Jahre nachdem die Karzai Regierung an die Macht kam.

LA: Wann wurden Sie das erste Mal verhaftet?

VP: Vor ca. drei Jahren.

LA: Wie lange waren Sie da im Gefängnis?

VP: Elf Tage.

LA: Was hat man Ihnen vorgeworfen?

VP: Sie wären gezwungen, mich zu verhaften, wegen meines Vaters.

LA: Wo operiert Ihr Vater?

VP: In Laghman, in den Distrikten Alingar und Alishan.

LA: In welchem Distrikt lebt Ihre Mutter?

VP: In der Stadt XXXX .

LA: Und Ihre Frau?

VP: In XXXX . Das ist ein Dorf. Es gehört zur Stadt, ist aber weiter weg.

LA: Wie weit ist die Stadt von den Distrikten, in denen Ihr Vater operiert, entfernt?

VP: Zehn Kilometer ungefähr.

LA: Wann hat Sie Ihr Vater das erste Mal angerufen?

VP: Vor fünf Jahren hat er mich das erste Mal aufgefordert, mich ihm anzuschließen.

LA: Wie oft hat Sie Ihr Vater angerufen?

VP: Er hat mich wöchentlich angerufen. Fünf Jahre lang hat er mich belästigt.

LA: Was war nun der ausschlaggebende Grund, warum Sie Ihre Heimat verlassen haben?

VP: Nach seiner Drohung, entweder ich schließe mich ihm an, oder er bringt mich um. Auch wegen den Problemen mit dem Staat.

LA: Wann war die Drohung?

VP: Vor ca. sieben Monaten.

LA: War diese auch telefonisch?

VP: Er hat mir einen Brief geschickt.

LA: Wo ist der Brief?

VP: Es war ein kleines Stück Zettel, und ich habe es weggeschmissen.

LA: Was ist in dem Brief gestanden?

VP: Dass ich mich ihm anschließen soll, oder er würde mich umbringen.

LA: Wo haben Sie den Brief weggeschmissen?

VP: Ich habe ihn zerrissen und verbrannt.

LA: Warum sollte die Regierung Sie einsperren, wenn Sie nichts tun?

VP: Das ist halt Afghanistan.

LA: Warum haben Sie so lange gewartet bis zur Ausreise?

VP: Mit der Hoffnung, dass sich die Situation verbessern wird.

LA: Warum sind Sie nicht umgezogen?

VP: Ich wollte auch nach Dschalalabad umziehen, aber die Taliban sind wie der Geheimdienst. Sie finden dich überall.

LA: Also auch in Österreich?

VP: Ja, vielleicht. In Afghanistan würden sie mich aufspüren.

LA: Warum ist Ihr Vater zu den Taliban gegangen?

VP: Mein Großvater war schon politisch tätig. Nachdem er gestorben ist, hat er seine Rolle übernommen.

LA: Warum sind Sie nicht nach Pakistan zurückgegangen?

VP: Wir hatten keine Flüchtlingskarte dort, und ohne Aufenthaltstitel kann man dort nicht leben.

LA: Wie haben Sie dann die ersten zehn Jahre dort verbracht?

VP: Wir waren dort, wir hatten Flüchtlingskarten dort, nachdem wir nach Afghanistan gezogen sind, wurden diese Karten einbehalten, und wir bekamen Geld.

LA: Wie hat Sie die Regierung bedroht?

VP: Sie haben gesagt, wenn sich mein Vater nicht stellt, werden sie weiterhin so vorgehen.

LA: Wer hat das gesagt?

VP: Die Regierung.

LA: Wer genau?

VP: Die unterschiedlichen Behörden. Die Polizei und auch der Geheimdienst.

LA: Wie hat man Ihnen das gesagt?

VP: Ich habe bei den Behörden nachgefragt, warum man das mit mir macht. Sie sagten, bis sich mein Vater stellt, müssen sie so vorgehen.

LA: Bei welcher Behörde haben Sie nachgefragt?

VP: Beim Geheimdienst von Afghanistan.

LA: Wie sind Sie zu dem gekommen?

VP: Sie haben ein eigenes Büro, dort wurde ich auch öfters verhaftet, und dort bin ich hingegangen.

LA: Wo ist das Büro?

VP: In Laghman, im Zentrum.

LA: Glauben Sie, dass Sie dem Geheimdienst so wichtig sind?

VP: Das Problem ist wegen meines Vaters. Sie wollen mich so lange quälen, bis sich mein Vater stellt.

LA: Macht der Geheimdienst das mit allen Söhnen von Talibanangehörigen?

VP: Ja.

LA: Warum verhaften die nicht Ihren Vater?

VP: Das habe ich der Regierung auch gesagt.

LA: Warum wurden nur Sie festgenommen und nicht auch gleich Ihr Bruder?

VP: Er wurde vor zweieinhalb Jahren schon einmal verhaftet.

LA: Wie lange ist Ihr Bruder nun schon im Gefängnis?

VP: Seit zwei Monaten.

LA: Wie lange waren Sie immer im Gefängnis?

VP: 15 Monate auf einmal.

LA: Warum wurden Sie immer freigelassen?

VP: Weil das Gericht mich freigelassen hat, da ich unschuldig war.

LA: Warum waren Sie dann einmal 15 Monate in Haft?

VP: Bis sie meinen Fall nach Kabul geschickt haben, hat es gedauert.

LA: Warum ist es die anderen Male schneller gegangen?

VP: Ich war auch sechs Monate in Einzelhaft und wurde gefoltert.

LA: Warum ist es die anderen Male schneller gegangen?

VP: Weil die Oberhäupte vom Dorf gekommen sind und um meine Freilassung gebeten haben. Sie haben auf die Oberhäupte gehört.

LA: Warum bei dem einen Mal nicht?

VP: Sie haben mich in Laghman festgenommen und das nach Kabul weitergeschickt. Es kam der Befehl zur Überstellung nach Kabul. Nach sechs Monaten Einzelhaft wurde der Fall zum Gericht gebracht. Ich hatte dann mehrere Gerichtsverhandlungen mit jeweils einem Monat Wartezeit.

LA: Wie viele Gerichtsverhandlungen waren das?

VP: Drei.

LA: Wie lange war die Wartezeit zwischen den Verhandlungen?

VP: Ca. drei Monate.

LA: Nach der letzten Verhandlung, wie lange waren Sie da noch in Haft?

VP: Zwei Monate noch.

LA: Wann war die 15-monatige Haft?

VP: Vor ca. drei Jahren.

LA: Wie oft waren Sie davor schon in Haft?

VP: Davor war ich schon neun Mal in Haft.

LA: Wie viel nach der ersten Haft war diese 15-monatige Haftstrafe?

VP: Zweieinhalb Jahre.

LA: Wann wurde Ihr Sohn festgehalten?

VP: Als ich hier nach Österreich gekommen bin, haben sie es mir erzählt. Sie wussten nicht, dass ich in Europa bin.

LA: Wer hat Ihnen das erzählt?

VP: Meine Frau.

LA: Also ist dies kein Fluchtgrund gewesen?

VP: Doch es war ein Fluchtgrund. Sie sind zu uns nach Hause gekommen, weil ich mich nicht gemeldet habe.

LA: Wie oft wurde auf Sie geschossen?

VP: Ein Mal.

LA: Wer hat auf Sie geschossen?

VP: Ich weiß es nicht.

LA: Wann wurde auf Sie geschossen?

VP: Vor drei Jahren. Das war bei einem Talibanstützpunkt, weil ich nicht angehalten habe. [...]“

Mit dem BF wurden laut Niederschrift Länderfeststellungen des BFA zu seinem Heimatland erörtert.

Der BF gab dazu an, er habe nicht mehr die Möglichkeit zurückzukehren, er wäre wieder in derselben Situation, also zwischen der Regierung und den Taliban.

1.4. Das BFA wies mit Bescheid vom 11.10.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 30.07.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2015 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 2 [zwei] Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Sein Fluchtvorbringen beurteilte das BFA als nicht glaubhaft und begründete dies im Wesentlichen damit, dass die Angaben des BF in angeführten Punkten unstimmig und unplausibel gewesen seien.

1.5. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit von seinem Rechtsberater unterstützt erstelltem Schreiben vom 20.10.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

In der Beschwerdebegründung wiederholte der BF zusammengefasst sein bisheriges Vorbringen und versuchte, vorgehaltene Unstimmigkeiten aufzuklären. Sein Vater heiße XXXX . Er werde versuchen, sich Bestätigungen über seine Inhaftierungen schicken zu lassen.

Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.

1.6. Mit Schreiben des Magistrates der Stadt Wien, Magistratisches Bezirksamt für den 2./20. Bezirk vom 28.06.2019 wurde mitgeteilt, dass der BF am 26.06.2019 das freie Gewerbe „Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen [...]“ an einem Standort in 1020 Wien angemeldet hatte.

1.7. Das BVwG führte am 06.11.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF persönlich in Begleitung seiner nunmehrigen anwaltlichen Vertreterin erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an einer Verhandlung.

Auf richterliche Befragung wiederholte bzw. bestätigte der BF seine im Verfahren bisher gemachten Angaben. Er habe zuletzt in XXXX , Distrikt Mehtarlam, Provinz Laghman, gelebt. Der BF legte seine Tazkira im Original samt beglaubigter Übersetzung vor.

Er habe in Pakistan vier Jahre lang eine Schule und dann ein Jahr lang auf Gebot seines Vaters eine Madrassa (Koranschule) besucht. Nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan habe er dort weitere drei Jahre eine Schule besucht. Er habe einen Laden betrieben und dort Getränke wie Fanta und Coca-Cola verkauft.

Er telefoniere ca. zweimal wöchentlich mit seiner Frau, sie lebe inzwischen gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder im Iran. Die Frau und die drei minderjährigen Kinder des Bruders des BF, der seit fünf Jahren im Gefängnis sei, lebe bei ihrem Vater.

Der BF machte Angaben zu seinen Lebensumständen in Österreich und zu seinen Integrationsbemühungen. Er habe am Werte- und Integrationskurs teilgenommen, besuche einen Deutschkurs und sei selbständig erwerbstätig (Güterbeförderung).

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF an, es sei ihm nicht gelungen, eine Bestätigung über seine Gefängnisaufenthalte sowie über jenen seines Bruders, der nun schon fünf Jahre eingesperrt sei, zu erlangen. Sein Schwiegervater sei aber bei der Polizeidirektion gewesen, wo der BF seinerzeit Anzeige erstattet habe, und habe ein Foto davon machen können, welches er nun vorlege.

Auf Ersuchen des erkennenden Richters übersetzte der Dolmetsch in der Verhandlung dieses Schriftstück wie folgt (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

„[...] Weiters legt er eine Anzeigenbestätigung des BF an die Polizei in Farbkopie vor.

D [Dolmetsch] übersetzt auf Ersuchen des RI den wesentlichen Inhalt dieses Schriftstücks:

Ankläger XXXX , Sohn des XXXX , Sohn des XXXX .

(Diese Anzeige wird an die Regierung an die Regierung der Provinz Laghman gestellt).

Mein Vater XXXX ist einer der aktiven Mitglieder der regierungsfeindlichen Truppen, gleichzeitig ist er einer der Anführer der terroristischen Gruppen der Taliban. Er ist aktiv beteiligt an den Gefechten, an bewaffneten Einsätzen gegen die Regierung in den Gebieten der Distrikte der Provinz Laghman. Ich bin ein selbständiger Tagelöhner, leider hat mein Vater mich bereits ermahnt und bedroht, aus dem Gebiet, welches unter der Herrschaft der Regierung steht, wegzugehen, um mich den regierungsfeindlichen Gruppen anzuschließen. Ich habe mich geweigert, das zu tun. Infolgedessen wurde ich mit dem Tode bedroht und wieder aufgefordert, so schnell wie möglich das Gebiet, welches von der Regierung beherrscht wird, zu verlassen und mich den regierungsfeindlichen Truppen anzuschließen. Sollte ich das nicht tun, dann wäre meine Tötung eine Pflicht und ich solle meinen Tod erwarten. Daher ersuche ich die zuständigen Behörden auf Grund dieser Todesbedrohungen um die Sicherheit meines Lebens.

24.12.1394 (= 14.03.2016)

(Seriennummer auf Latein: 13201899)“

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

„RI [Richter]: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.

Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint?

BF: Ja, es stimmt alles, und ich habe alles gesagt.

RI: Wann und warum ist Ihr Bruder von einer Drohne getötet worden?

BF: Am 29., das Jahr habe ich leider vergessen, den Monat auch, es war im Jahr 2016, es war ein Freitag. Mein Bruder war unterwegs zu Fuß. Er hatte nichts Wichtiges bei sich. Er befand sich in Chapliar. Er wurde mit weiteren drei Personen von den Drohnen erwischt bzw. getötet. Ich war zu der Zeit auf dem Weg nach Österreich. Ich habe von dem Tod meines Bruders erst erfahren, als ich in Österreich angekommen bin. Ich vermute, es war eine amerikanische Drohne.

Anmerkung: BF weint.

BF: Der Körper wurde von der Drohne zerstückelt, man hat seine Identität an seiner Unterwäsche erkannt.

RI: Warum ist Ihr Bruder seit fünf Jahren im Gefängnis?

BF: Weil mein Vater mit den Taliban im Gebirge lebt und wir in einem Ort mit Regierungsherrschaft lebten. Sie haben ihn einsperrt, weil sie meinen Vater nicht bekommen konnten. Uns wurde vorgeworfen, dass wir ihn unterstützen würden.

RI: Wie lange, wo und wie waren Sie im Gefängnis?

BF: Ich war in zwei Gefängnissen, einmal 15 Monate, davon sechs Monate in Einzelhaft, so eng, klein wie dieser Tisch (Verhandlungssaal), im Gefängnis der nationalen Sicherheitsdirektion, bis mein Akt nach Kabul geschickt wurde, und dann wurde ich von dem Gefängnis in ein anderes verlegt. Darüber hinaus wurde ich neunmal ins Gefängnis gesteckt.

Manchmal fünf Tage, manchmal sechs Tage, manchmal zehn Tage. Ich wurde ins Gefängnis gesteckt, weil mein Vater sie – die Menschen – angegriffen hat und Konflikte hatte und weil sie nicht meinen Vater erwischten konnten, anstattdessen haben sie mich immer wieder ins Gefängnis gesteckt, weil ich für sie leicht zu erreichen war.

Anmerkung: Laut D handelt es sich bei Gefängnissen der nationalen Sicherheitsdirektion um spezielle Einrichtungen des Geheimdiensts, in denen Personen von besonderer Wichtigkeit angeblich unter sehr harten Bedingungen festgehalten werden.

RI: Warum sind Sie nicht zu den Taliban gegangen?

BF: Weil die Taliban die Menschlichkeit bzw. die Menschen getötet haben, und das konnte ich nicht, weil ich auch Familie habe. Ich habe Kinder, ich könnte nie auf die Kinder anderer Menschen schießen. Die Menschen, die getötet werden, haben auch Mütter, Väter, Kinder. Ich war nicht dazu in der Lage.

RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

BF: Die Regierung würde mich wieder ins Gefängnis stecken, und die Taliban würden mich umbringen, sie wissen bereits, dass ich in Europa bin.

RI: Obwohl Ihr Vater bei den Taliban ist?

BF: Sie haben keine Gesetze, weil sie „Bergmenschen“ sind, sie vollziehen nach ihrer Willkür, man könnte sofort exekutiert werden. Mein Hauptproblem ist mein Vater. Ich solle seinen Platz einnehmen, weil ich der älteste Sohn von ihm bin. Ich habe mich geweigert, das zu tun. Dann hat er mich bedroht, dass er mich nicht am Leben lassen werde. Ich hatte keine andere Wahl mehr, ich musste Afghanistan verlassen. Es gab eine Ratsversammlung der Taliban, Shura, bei der wurde beschlossen, entweder müsste ich mich ihnen anschließen oder ich würde „ausgeschaltet“ werden. Meine Mutter hat mir das erzählt. Sie sagte zu mir: „Mein Sohn, nun sei das die Sache“, dass für mich Pläne geschmiedet worden seien, sie hätten vor, mich zu entführen oder zu töten. Ich wandte mich an die Polizei bzw. das Polizeipräsidium der Provinz Laghman. Ich habe alles der Polizei in der Provinz Laghman erzählt, dass ich bereits mehrmals aufgefordert worden bin, mich ihnen (Taliban) anzuschließen, ansonsten würden sie mich umbringen. Nachdem ich das erzählt habe bzw. bei der Polizei angezeigt habe, hat die Polizei zu mir gesagt, dass sie nicht einmal für ihre Sicherheit sorgen könnten, und wie könnten sie die Sicherheit für mein Leben sicherstellen. Schlicht sagte die Polizei zu mir, dass sie mich nicht beschützen könnte.

RI: Was sagt Ihre Mutter dazu, und wo lebt sie?

BF: Meine Mutter lebt in Laghman ohne meinen Vater. Früher hat sie mit meinem Vater gelebt, nun ist sie sehr alt, sie lebt zu Hause. Mein Vater lebt im Gebirge. Sie kann nicht mit meinem Vater im Gebirge leben.

RI: Was sagen Ihre Brüder dazu?

BF: Meine armen Brüder, einer wurde getötet, der andere ist im Gefängnis, und der andere lebt im Iran. Meine zwei jüngsten Brüder sind noch klein und leben bei unserer Mutter.

Angemerkt wird, dass der BF einen sehr betroffenen und authentischen Eindruck macht. [...]“

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es gab dazu keine Stellungnahme ab.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 30.07.2016 und der Einvernahme vor dem BFA am 07.10.2016, den angefochtenen Bescheid und die gegenständliche Beschwerde

?        Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, Seiten 78 bis 118 im Verwaltungsakt)

?        Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o        Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat und in der Provinz Laghman sowie zu den Auswirkungen der Covid 19 Pandemie (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020) sowie

o        Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Länderkundigen Dr. Sarajuddin Rasuly (in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009) zum Vorbringen des BF, er werde von den Taliban verfolgt

?        Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren ergänzend vorgelegten Bescheinigungsmittel bezüglich seiner Identität (Tazkira), seines Fluchtvorbringens (Anzeigenbestätigung bei der Sicherheitsbehörde) und seiner Integration (Gewerbeanmeldung, Vereinbarung mit einem Betrieb bezüglich Güterbeförderung, Deutschkursbestätigung, Teilnahmebestätigung werte- und Orientierungskurs)

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch Dari, Urdu und etwas Deutsch.

3.1.2. Der BF wurde in Pakistan geboren, besuchte dort vier Jahre lang die Schule und ein Jahr lang eine Koranschule und übersiedelte im Alter von ca. zehn Jahren mit seinen Eltern in deren Heimatprovinz Laghman in Afghanistan nach XXXX , Distrikt Mehtarlam, wo er drei weitere Jahre lang die Schule besuchte, dann als Lebensmittelverkäufer arbeitete, heiratete und mit seiner Frau sechs minderjährige Kinder hat.

Sein Vater wandte sich vor ca. 14 Jahren den Taliban zu und lebt einige Kilometer entfernt von seinen Verwandten in den Bergen.

3.1.3. Der BF verließ zu Jahresbeginn 2016 aus angegebenen Gründen Afghanistan und reiste nach Europa, wo er am 30.07.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Seine Ehefrau und seine Kinder leben mit einem Bruder des BF im Iran, der BF hat telefonisch regelmäßig Kontakt mit seiner Frau.

3.1.4. Der BF bemüht sich in Österreich mit Erfolg um seine Integration. Er hat Deutschkurse sowie den Werte- und Orientierungskurs besucht und ist selbständig als KFZ-Fahrer tätig mit einer Subvereinbarung mit XXXX . Er verdient monatlich ca. 2.500 Euro brutto.

3.1.5. Der BF ist irregulär in Österreich eingereist. Schwerwiegende Verwaltungsübertretungen sind nicht bekannt. Er ist strafgerichtlich unbescholten.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF hat glaubhaft gemacht, dass sein Vater bei den Taliban aktiv bei den Taliban tätig ist und den BF seit vielen Jahren dazu bewegen möchte, sich ihnen ebenfalls anzuschließen. Er hat auch glaubhaft gemacht, dass er von Regierungsstellen wiederholt in Haft genommen worden ist, teils wegen unterstellter Unterstützung der Taliban, teils um den Vater dazu zu bewegen, sich den Sicherheitsbehörden zu stellen.

Der BF hat damit glaubhaft gemacht, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung durch die Taliban wegen (jedenfalls unterstellter) feindlicher Gesinnung aus religiösen bzw. politischen Gründen sowie eine Verfolgung durch Regierungsstellen wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Vaters – sowohl wegen unterstellter Unterstützung für die Taliban, als auch wegen Repression gegen den Vater im Wege der Verhaftung seines Sohnes – zu befürchten hätte.

3.2.2. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Es konnte vom BF glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus den oben angeführten asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.2.3. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen wäre.

3.2.4. Der BF ist Familienvater mit Sorgepflichten für Ehefrau und sechs minderjährige Kinder.

3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan („Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…] 1. Politische Lage

Letzte Änderung: 18.05.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020; UNGASC 17.03.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28.09.2019 stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum, wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.04.2020). Am 09.03.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020) einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten, und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.05.2020; vgl. BBC 17.05.2020; DW 17.05.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.05.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.05.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs die Gespräche (AJ 07.05.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 06.05.2020)], andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innenpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 07.05.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.04.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020).

2. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).

Für den Berichtszeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.03.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.01.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

[…]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (08.11.2019 - 06.02.2020) fort: acht Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (09.08. - 07.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres zwölf Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).

Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (NYT 26.03.2020; vgl. TN 26.03.2020; BBC 25.03.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sei ein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (N

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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