TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/13 I413 2131395-2

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Veröffentlicht am 13.11.2020
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Entscheidungsdatum

13.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §9
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I413 2131395-2/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin ATTLMAYR, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. IRAK, vertreten durch: RA Mag. Philipp TSCHERNITZ gegen den Bescheid des BFA RD Kärnten Außenstelle Klagenfurt vom 07.08.2017, Zl. XXXX -170674670, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.10.2019 und am 12.10.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der erste Satz des ersten Spruchteils des Spruchpunktes III. wie folgt zu lauten hat:

„Eine ‚Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz‘ gemäß § 57 Asylgesetz 2005 wird XXXX nicht erteilt.“

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 06.04.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid der belangten Behörde vom 29.06.2016 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde und mit dem ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie eine Aufenthaltsberechtigung bis zum 28.06.2017 zuerkannt wurde.

2. Die gegen den Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 13.02.2017, W2682131395-1/3E, als unbegründet abgewiesen.

3. Mit angefochtenem Bescheid vom 07.08.2017, Zl. XXXX -170674670, wurde dem Beschwerdeführer der mit Bescheid vom 29.06.2016, Zl XXXX -15342567, zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), die mit Bescheid vom 29.06.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gegen diesen gemäß § 10 Abs 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 4 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Irak zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

4. Gegen diesen dem Beschwerdeführer am 10.08.2017 zugestellten Bescheid richtet sich die per E-Mail am 24.08.2017 erhobene Beschwerde (beim BFA eingelangt am selben Tag).

5. Mit Schriftsatz vom 04.09.2017 legte die belangte Behörde die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor. Die belangte Behörde erstattete zudem ein Vorbringen, wonach die Zustellung des Bescheides am 10.08.2017 erfolgte und daher die Beschwerdefrist am 24.08.2017 um 24:00 Uhr endete. Die Beschwerde sei verspätet eingelangt, da die Beschwerde erst am 24.08.2017 um 23:06 Uhr versendet und der belangten Behörde erst am 25.08.2017 um 09:47 Uhr zugegangen sei.

6. Mit E-Mail vom 21.09.2017 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht die belangte Behörde um Bekanntgabe und Berichterstattung, wann genau die Beschwerde auf dem Server der belangten Behörde eingelangt sei.

7. Mit E-Mail vom 21.09.2017 teilte die belangte Behörde mit, dass die E-Mailauswertung (Sende- und Empfangszeit) in Auftrag gegeben worden sei.

8. Am 04.10.2017 erstattete die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers eine Stellungnahme, wonach die Beschwerde am 24.08.2017 um 23:05 Uhr eingebracht worden, jedoch diese erst am 25.08.2017 um 07:46 Uhr am Server des BFA eingelangt sei. Die Beschwerde sei um 21:32 Uhr eingebracht worden und eine Zustellbestätigung sei nicht eingelangt. Daher sei die Beschwerde nochmals an die belangte Behörde, jedoch an eine andere Regionaldirektion verschickt worden. „Zur Sicherheit“ stellte die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, in dem ausführlich auf den Prüfbeschluss VfGH 27.06.2017, E 502/2017, betreffend Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von Teilen des § 16 BFA-VG, sowie auf die Gründe der beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingegangen wurde.

9. Mit E-Mail vom 16.10.2017 übermittelte die belangte Behörde den Bericht der Auswertung des E-Mail-Headers.

10. Am 31.10.2018 langen beim Bundesverwaltungsgericht Urkunden zum Beleg der Anmeldung des Beschwerdeführers zur Kärntner Gebietskrankenkasse ein.

11. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L502 abgenommen und neu zugewiesen.

12. Mit Eingabe vom 08.05.2019 gab Rechtsanwalt Mag Philipp TSCHERNITZ die Vollmachtserteilung an ihn bekannt.

13. Mit Eingabe vom 08.05.2019 gab die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH die Zurücklegung der Vollmacht bekannt.

14. Mit Schreiben vom 01.08.2019 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt Irak, Stand 25.07.2019, zur Kenntnis und ermöglichte diesem eine Stellungnahme dazu abzugeben.

15. Mit Schriftsatz vom 07.08.2019 teilte der Rechtsvertreter mit, dass eine Stellungnahme zum Länderinformationsblatt rechtzeitig vor der für 08.10.2019 anberaumten mündlichen Verhandlung abgegeben wird.

16. Am 08.10.2019 fand die mündliche Verhandlung statt, in der der Beschwerdeführer als Partei einvernommen und die Lage im Herkunftsstaat erörtert wurde.

17. Mit Schreiben vom 03.06.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer das aktuelle Länderinformationsblatt für Irak vom 17.03.2020 und ermöglichte diesem hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

18. Am 12.10.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine weitere mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer ergänzend als Partei befragt und die Lage im Herkunftsstaat erörtert wurde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch Einzelrichter gemäß § 6 BVwGG erwogen:

Der in Punkt I. dargestellte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weiteren Feststellungen getroffen:

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers

Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Iraks und bekennt sich zum Islam, sunnitisches Bekenntnis. Er gehört der Volksgruppe der Araber an. Seine Identität steht fest. Der Beschwerdeführerin spricht arabisch, kurdisch und englisch sowie Deutsch auf dem Niveau A2. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer reiste am 03.11.2014 mit dem Flugzeug aus dem Irak aus und gelangte schlepperunterstützt und unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich, wo er sich spätestens seit der Antragstellung auf internationalen Schutz am 05.04.2015 aufhält. Der Beschwerdeführer ist in Diyala, in Ba‘q?bah geboren und dort aufgewachsen. Er war dort bis zu seiner Ausreise aus dem Irak wohnhaft. Er besuchte die Schule bis zur Matura und studierte ein Jahr an der Universität Wirtschaft. Er übte im Bäckereibetrieb seiner Familie den Beruf eines Bäckers aus und arbeitete zuletzt als Fahrer für Coca Cola.

Seine Mutter, sein Bruder und eine Schwester leben zwischenzeitig in Finnland, eine Schwester wohnt im Irak. Im Irak lebt außerdem noch ein Onkel. Der Beschwerdeführer steht im regelmäßigen wöchentlichen Kontakt über das Telefon mit seiner Familie. Mit seinem Onkel im Irak pflegt er gelegentlichen telefonischen Kontakt. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Schwierigkeiten oder Probleme mit seinem Onkel oder seiner im Irak wohnenden Schwester hätte. Im Fall seiner Rückkehr kann der Beschwerdeführer mit der Unterstützung durch seine im Irak lebenden Familienmitglieder und der Wiederaufnahme in den häuslichen Familienverband rechnen.

In Österreich lebt ein Cousin des Beschwerdeführers. Über weitere familiären Anknüpfungspunkte verfügt er in Österreich nicht. Der Beschwerdeführer lebt in keiner Beziehung oder Lebensgemeinschaft.

Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich in Österreich unbescholten.

Der Beschwerdeführer bezog vom 06.04.2015 bis einschließlich 31.03.2017 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Er war als Arbeiter für H XXXX H XXXX W XXXX vom 14.10.2016 bis 16.10.2016 tätig, bezog Arbeitslosengeld vom 21.11.2016 bis 23.12.2016, vom 06.3.2017 bis 24.05.2017 und vom 03.07.2017 bis 31.08.2017, war als geringfügig beschäftigter Arbeiter vom 12.06.2017 bis 04.07.2017 für C XXXX M XXXX sowie zwischen 15.01.2018 und 21.30.2018 sowie als Arbeiter zwischen 01.09.2017 und 12.01.2018 für Ana O XXXX -L XXXX tätig. Zwischen 01.03.2019 und 11.06.2017 war er für XXXX OG als geringfügig beschäftigter Arbeiter tätig. Seit 23.01.2018 bis laufend ist er als Arbeiter bei XXXX GMBH beschäftigt. Der Beschwerdeführer bringt einen Bruttobezug von rund EUR 1.506,36 pro Monat zzgl. Überstunden, Sonn- und Feiertagszuschlägen und Diäten und Urlaubs- und Weihnachtsgeld ins Verdienen. Der Beschwerdeführer hat monatliche Ausgaben iHv EUR 70,00 für eine Lebensversicherung bei der XXXX Versicherung AG sowie bei der XXXX Versicherung AG für eine „Besitz-Versicherung“ monatliche Ausgaben iHv EUR 34,73. Zudem hat er für seine Wohnung EUR 400,00 pro Monat zu leisten. Der Beschwerdeführer ist selbsterhaltungsfähig. Der Beschwerdeführer besuchte zudem die Maßnahme „Startklar“ des AMS zwischen 21.11. und 23.12.2016 um Kompetenzen betreffend „aktive Arbeitssuche mit EDV-Unterstützung, Deutschtraining und Persönlichkeitsarbeit“ zu erwerben.

Der Beschwerdeführer hat abgesehen von einem Freund namens Javid soziale Kontakte zu Arbeitskollegen und Bekannten, mit denen er Fußball spielt. Seine Freizeit verbringt er mit Fußballspielen und Schwimmen. Eine besondere soziale Integration in Österreich besteht nicht. Eine kulturelle Integration des Beschwerdeführers in Österreich besteht nicht. Er hat zwar an einem Werte- und Orientierungskurs am 22.03.2017 teilgenommen, ist aber nach wie vor in der arabischen Kultur seines Herkunftsstaates verwurzelt.

Der Beschwerdeführer spricht Deutsch auf dem Niveau A2. Er besuchte im Zeitraum 13.04.2015 bis 18.05.2015 den Kurs Deutsch als Fremdsprache – Modul 1/A1 bei der Volkshochschule und vp, 06.03.2017 bis 24.05.2017 beim WIFI den Kurs „Kompetent in die Zukunft“-Fachausbildung Deutsch mit Kompetenzcheck sowie beim AMS die Fachausbildung Deutsch im Rahmen der Maßnahme „Startklar“ des AMS. Seitdem der Beschwerdeführer einer regelmäßigen Arbeit nachgeht, besucht er keine Sprachkurse mehr.

1.3. Zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und zur Situation des Beschwerdeführers im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat

Der Beschwerdeführer wird im Irak weder verfolgt, noch droht ihm aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Rasse, zu einer besonderen sozialen Gruppe oder aus Gründen der politischen oder religiösen Überzeugung eine Verfolgung. Der vom Beschwerdeführer im Antrag betreffend den Status eines Asylberechtigten vom 05.04.2015 auf internationalen Schutz geäußerte Fluchtgrund wurde rechtskräftig als nicht asylrelevant abgewiesen.

Die Voraussetzungen, welche im Falle des Beschwerdeführers zur Zuerkennung und in weiterer Folge Verlängerung des Status des subsidiär Schutzberechtigten geführt hatten, liegen nicht mehr vor. Es ist aufgrund der nunmehrigen Lage im Herkunftsstaat dem Beschwerdeführer zumutbar, nach Ba‘q?bah zurückzukehren.

Er wird im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein. Weder wird ihm seine Lebensgrundlage gänzlich entzogen, noch besteht für ihn die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes

1.4. Zu den Feststellungen zur Lage im Irak:

Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen, soweit sie für den vorliegenden Beschwerdefall von Relevanz sind:

1.4.1. Allgemeine Sicherheitslage:

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020

-        ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/, Zugriff 13.3.2020

-        AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html, Zugriff 13.3.2020

-        Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html, Zugriff 13.3.2020

-        Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020

-        Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02, Zugriff 13.3.2020

-        FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020

-        FIS - Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020

-        MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/, Zugriff 13.3.2020

-        New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations, Zugriff 13.3.2020

-        Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020

-        Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5, Zugriff 13.3.2020

-        USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020

1.4.2. Islamischer Staat (IS):

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Die Gegenden, in denen IS Zellen tätig sind, haben sich nach den Einschätzungen von Knights and Almeida seit Ende 2018 fast verdoppelt. Diese Autoren geben 47 Gegenden an, in denen IS-Zellen aktiv sind, in Anbar, Salah al-Din, Baghdad, Diyala, Kirkuk und Ninewa. Die Taktik dieser Zellen richtet sich dahin, den Straßenverkehr zu unterbrechen, die Aussöhnung lokaler Gruppen zu stören und Städte ökonomisch zu blockieren sowie Terrain im offenen Feld zu erhalten. Gegenwärtig ist der IS in folgenden ländlichen Gegenden aktiv: Anbar: südwestliche Anbar Wüste, Horan Tal bis zum al-Abiach Tal bia zum al-Kadef Tal, und der nördliche Teil von Rawa; Ninewa: der südliche Teil der Ninewa Wüste, Baaj; Erbil: Makhmour; Baghdad: der Gürtel; Diyala: die nordöstlichen Gegenden; Kirkuk: der Süden von Kirkuk, Hawija, Zab und Abbasi; Salah al-Din: Shirqat, Khanuqa, Hamrin Berge, Osten des Thathar-Sees. In den vergangenen Jahren hat sich die Aktivität des IS zu einem gewissen Grad südwärts von Kirkuk nach Salah al-Din und Diyala verlegt, wo seine Aktivitäten zugenommen haben. Es hat sich auch gegen Baghdad bewegt. Es hat seine frühere Strategie wiederaufgegriffen, die Kontrolle über größere Ortschaften und ländliche Gegenden zu erlangen (EASO 30.2020).

Der Staat hat Gegenwehraktivitäten gegen den IS ergriffen, so in Kirkuk. Wegen der öffentlichen Proteste nahmen diese aber in der Priorität ab. Wegen nachlassender Unterstützung durch die Koalitionskräfte und wegen der Corona-Pandemie verlangsamte sich das Tempo der Gegenwehr und verloren auch die staatlichen Kräfte wieder vom IS befreites Terrain (EASO 30.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Quellen:

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020

- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (18.6.2019): Regional Overview – Middle East 18 June 2019, https://www.acleddata.com/2019/06/18/regional-overview-middle-east-18-june-2019/, Zugriff 13.3.2020

- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (27.5.2019): Briefing Notes 27. Mai 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010482/briefingnotes-kw22-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020

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- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020

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- PGN - Political Geography Now (11.1.2020): Iraq Control Map & Timeline - January 2020, https://www.polgeonow.com/2020/01/isis-iraq-control-map-2020.html, Zugriff 13.3.2020

- Portal, The (9.10.2019): Iraq launches a new process of “Will to Victory”, http://www.theportal-center.com/2019/10/iraq-launches-a-new-process-of-will-to-victory/, Zugriff 13.3.2020

- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020

- UN General Assembly (30.7.2019): Children and armed conflict; Report of the Secretary-General [A/73/907–S/2019/509], https://www.ecoi.net/en/file/local/2013574/A_73_907_E.pdf, Zugriff 13.3.2020

- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020

- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020

1.4.3. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen:

Die Zahl der durch Gewalt ums Leben gekommenen ist zwischen 2017 und 2019 erheblich gesunken. Waren 2015 noch etwa 17.500 zivile Gewaltopfer im Irak zu beklagen, so ist diese Zahl im Jahr 2019 auf rund 2.300 Gewaltopfer gesunken. Im Jahr 2020 gab es nach vorläufigen Schätzungen bis einschließlich August 650 zivile Todesopfer im Irak (Statista 21.09.2020).

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Februar 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Quellen:

-        ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf, Zugriff 13.3.2020

-        EASO Iraq (30.2020), Security Situation, October 2020, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf, Zugriff 13.11.2020

-        IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020

-        Statista Research Department - deutsches Online-Portal für Statistik (21.09.2020): Anzahl der dokumentierten zivilen Todesopfer im Irakkrieg und in den folgenden Jahren von 2003 bis 2020*, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163882/umfrage/dokumentierte-zivile-todesopfer-im-irakkrieg-seit-2003/#professional, Zugriff 30.9.2020

1.4.4. Sicherheitslage Diyala (Ba‘q?bah):

Das Gouvernement Diyala liegt im zentral-östlichen Teil des Iraks mit Grenzen zu den Gouvernements Sulaymaniyah, Salah al-Din, Baghdad und Wassit sowie einer internationalen Grenze zum Iran. Es besteht aus sechs Distrikten: Ba‘q?bah, Baladrooz, Khalis, Khanaqin, Kifri und Muqdadiya. Ba‘q?bah (Stadt) mit ca 467.900 Einwohnern ist die Hauptstadt des Gouvernements Diyala.

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020). Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 9.9.2019) und ist weiterhin ein Kerngebiet des IS (Joel Wing 3.2.2020). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den schwer zugänglichen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.12.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019). Die 5. Irakische Armee Division ist in Dyiala stationiert. Ihre Soldaten sind häufig Ziele von Anschlägen des IS (EASO 10.2020).

Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala (Joel Wing 5.8.2019), aus denen er einerseits Zivilisten vertreibt, um dort Basen zu errichten, und wo er anderseits wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte angreift (Joel Wing 9.9.2019). So häufen sich Berichte über die zunehmende Vertreibung von Zivilisten aus ländlichen Gebieten, beispielsweise aus den Bezirken Khanaqin und Jalawla, wegen der Bedrohung durch den IS und dem Unvermögen der Sicherheitskräfte (Irakische Armee/ISF und PMF) für deren Sicherheit zu sorgen (Joel Wing 25.11.2019; vgl Rudaw 3.12.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betrafen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala (EASO 10.2020). Im Süden und Westen gab es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).

Ende 2019 und Anfang 2020 hat der IS seinen Aktionsschwerpunkt verschoben. Während sich bisher die meisten Vorfälle im Distrikt Khanaqin, rund um die Städte Khanaqin und Jalawla, ereigneten, verlegte der IS seinen Fokus zunehmend auf das Zentrum des Gouvernements, insbesondere auf den Distrikt Muqdadiya (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 3.2.2020), sowie auch in die westlichen Gebiete Diyalas. Diese Verlagerung wird im Zusammenhang mit einer Kampagne der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in Khanaqin gesehen. Damit zeigt der IS aber auch, dass er die Kapazität hat im gesamten Gouvernement aktiv zu werden (Joel Wing 3.2.2020).

Im Zeitraum 2019-2020 ereigneten sich in den Gegenden um Ba’q?bah und Khanaqin die tödlichsten Attacken (USDOD 03.2020). Im Gegenzug wurden Luftangriffe auf IS-Verstecke in und um die Hareem Berge durch die internationale Koalitionsstreitkräfte berichtet. Beispielsweise gingen die irakischen Kräfte am 08.07.2019 in einer viertägigen Mission „Siegeswille“ gegen Schläferzellen des IS im nördlichen Irak, einschließlich von Dyiala vor. IS-Schläferzellen führen immer noch sog. „hit-and-run“ Schläge gegen Regierungs-Checkpoints, Strukturen und Vertreter der Regierung durch. Ziel der Mission der irakischen Streitkräfte war es, IS-Basen, IS-Trainingscamps, Depots und Tunnels zu zerstören. Am 29.12.2019 wurde die 8. Stufe der Mission „Siegeswille“ begonnen. Am 11.06.2020 begannen die ISF gemeinsam mit PUK-Terrorismusabwehrkräften eine Operation gegen Reste des IS im Khanaqin Distrikt (EASO 10.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Diyala 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 65 Toten und 93 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), nach den Berechnungen von EASO (10.2020) ereigneten sich im Zeitraum Jänner bis Dezember 2019 im Gouvernement Diyala insgesamt 55 Vorfälle mit 47 Toten und 64 Verletzten. EASO (30.2020) verzeichnet im Zeitraum Jänner bis Juli 2020 48 Vorfälle mit 46 Toten und 67 Verletzten.

Quellen:

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Irak: Sicherheitslage Baquba vom 26.08.2020

-        EASO Iraq (10.2020), Security Situation, October 2020, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf, Zugriff 13.11.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (9.9.2019): Islamic State’s New Game Plan In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/09/islamic-states-new-game-plan-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020

-        Joel Wing, Musings on Iraq (5.8.2019): Islamic State’s Offensive Could Be Winding Down, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/08/islamic-states-offensive-could-be.html, Zugriff 13.3.2020

-        Rudaw (3.12.2019): Diyala villagers flee spike in attacks by resurging Islamic State, https://www.rudaw.net/english/kurdistan/03122019, Zugriff 13.3.2020

-        USDOD, Lead Inspector General for Operation Inherent Resolve – Quarterly Report to the United States Congress – January 1, 2020-March 42, 2020, 13 May 2020 (USDOS 03.2020), S 23, https://media.defense.gov/2020/May/13/2002298979/-1/-1/1/LIG_OIR_Q2_MAR2020_GOLD_508_0513.PDF, Zugriff 13.11.2020

-        Xinhua (22.12.2019): Iraqi soldier killed, 7 civilians wounded in separate attacks in Iraq, http://www.xinhuanet.com/english/2019-12/22/c_138648985.htm, Zugriff 13.3.2020

Im Einklang mit der allgemeinen Verbesserung der Sicherheitslage im Jahr 2018 und 2019 im Irak, wird auch über Diyala berichtet, dass sich die Sicherheitslage dort weitgehend stabilisiert hat, wenn auch dieses Gouvernement nach wie vor eine hohe Gewaltrate verzeichnet und in einigen Distrikten die Gewalt auch gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist. Die höchste Intensität von zivilen Gewaltopfern wurde 2018 in den Distrikten Al-Muqdadiya (46.4 zivile Todesopfer pro 100.000 Einwohner), Khifri (33,8 zivile Todesopfer pro 100.000 Einwohner) und Baladrooz (21,4 zivile Todesopfer pro 100.000 Einwohner), während die niedrigste Intensität in Ba’q?bah (0,7 zivile Todesopfer pro 100.000 Einwohner) und Al-Khalis (5,1 zivile Todesopfer pro 100.000 Einwohner) verzeichnet wurde.

In Bezug auf die Lage in Diyala vertritt EASO (Country Guidance, S 111) den Standpunkt, dass unter Berücksichtigung aller Faktoren, geschlossen werden kann, dass die „bloße Anwesenheit“ in diesem Gebiet nicht genügt, um ein reales Risiko eines ernsten Schadens gemäß Art 15(c) der Statusrichtlinie im Gouvernement Diyala zu begründen. Allerdings erreicht die willkürliche Gewalt einen hohen Grad, weshalb ein niedriger Grad an individuellen Elementen benötigt wird, um substanzielle Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass einer in diese Gegend zurückkehrenden Zivilperson ein reales Risiko eines ernsten Schadens gemäß Art 15(c) der Statusrichtlinie entgegensteht. Jedoch muss beachtet werden, dass die Distrikte Ba’q?bah und Al-Khalis von willkürlicher Gewalt verhältnismäßig weniger betroffen sind.

Quellen:

-        EASO Iraq (30.2020), Security Situation, October 2020, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf, Zugriff 13.11.2020

Während in Diyala in den Jahren 2014 bei insgesamt 1.233 sicherheitsrelevanten Vorfällen 590 Personen getötet und 2015 bei 2.131 Vorfällen 233 Personen getötet wurden, wurden im Jahr 2018 insgesamt 142 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet, welche zu 45 Todesopfern geführt hatten. Im Jahr 2019 sank die Zahl der Vorfälle auf 55, bei denen 47 Tote zu beklagen waren. Die Anzahl der zivilen Todesopfer und der sicherheitsrelevanten Vorfälle sank somit gegenüber den Jahren 2014 und 2015 erheblich.

Die Anzahl ziviler Todesopfer pro 100.000 Einwohner beträgt in Ba’q?bah nur mehr 0,7 Opfer und liegt bei den niedrigsten im ganzen Gouvernement Dyiala, für welches eine Rate von 16,4 Todesopfer pro 100.000 Einwohner dokumentiert ist, wenn auch diese Rate niedriger als 2017 (17.1 zivile Todesopfer pro 100.000 Einwohner) ist. Zum Vergleich dazu liegt die Anzahl ziviler Todesopfer pro 100.000 Einwohner im 50 km von Ba’q?bah entfernten Bagdad im gleichen Zeitraum bei 7,4 zivilen Todesopfern pro 100.000 Einwohner.

Quellen:

-        EASO Country of Origin Information Report: Iraq, Security Situation, March 2019, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/publications/EASO-COI-Report-Iraq-Security-situation.pdf, S 57-58, S 72-80 sowie S 82-85, Zugriff 16.06.2020

-        EASO Iraq (10.2020), Security Situation, October 2020, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf, Zugriff 13.11.2020

Im Gouvernement Diyala ereignen sich nach wie vor sicherheitsrelevante Vorfälle, jedoch nicht flächendeckend und mit derartiger Regelmäßigkeit, dass automatisch Gründe vorliegen würden um die Annahme zu rechtfertigen, dass eine nach Ba’q?bah zurückkehrende Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.

Quellen:

-        EASO Country Guidance: Iraq, Guidance note and common analysis, June 2019, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Iraq_2019.pdf, S 29, Zugriff 16.06.2020

-        EASO Iraq (30.2020), Security Situation, October 2020, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/10_2020_EASO_COI_Report_Iraq_Security_situation.pdf, Zugriff 13.11.2020

1.4.5. Protestbewegung:

Seit 2014 gibt es eine Protestbewegung, in der zumeist junge Leute in Scharen auf die Straße strömen, um bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus zu fordern (WZ 9.10.2018).

So kam es bereits 2018 im Südirak zu weitreichenden Protesten in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Ebenso kam es im Jahr 2019 zu Protesten, wobei pro-iranische Volksmobilisierungskräfte (PMF) beschuldigt wurden, sich an der Unterdrückung der Proteste beteiligt und Demonstranten sowie Menschenrechtsaktivisten angegriffen zu haben (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera 25.10.2019).

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Herbst 2019 fanden Demonstrationen in Diyala, wenn auch im geringeren Maß als in Bagdad oder im Süden des Irak statt (EASO 10.2020). Als die Corona-Pandemie im Winter/Frühling 2020 um sich griff, erlahmten die Proteste für einige Monate, um dann im Mai 2020 in einigen Städten wiederaufgenommen zu werden (EASO 10.2020a). Weitere Proteste fanden in den südlichen Städten und in Bagdad im Juni und Juli 2020 statt (EASO 10.2020).

Insgesamt fanden zwischen 01.01.2019 und 31.07.2020 1.588 Demonstrationen bzw Proteste statt, wobei die meisten in Basra stattfanden (329), gefolgt von Muthanna (226) und Thi-Qar (217). In Bagdad ereigneten sich 130 Proteste (EASO 10.2020a). Laut der von EASO veröffentlichten Grafik der Proteste im vorgenannten Zeitraum ereigneten sich mit knapp 50 in Kerbala und in Dyiala die wenigsten Proteste im gesamten Irak (EASO 10.2020a). Die Proteste waren zum Teil mit Ausschreitungen verbunden, wobei die meisten Ausschreitungen in Nassiriyah mit 87, gefolgt von Basra mit 75 und Basra mit 44 Ausschreitungen erfolgten (EASO 10.2020a). Aus der von EASO veröffentlichen Grafik zu Ausschreitungen ist ersichtlich, dass in Diyala keine solchen Ausschreitungen vorkamen (EASO 10.2020a).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweilig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).

Quellen:

-        AAA - Asharq Al-Awsat (28.12.2019): Iraq: Human Rights Commission Says 490 Protesters Killed Since October, https://aawsat.com/english/home/article/2056146/iraq-human-rights-commission-says-490-protesters-killed-october, Zugriff 13.3.2020

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-        AI - Amnesty International (23.1.2020): Iraq: Protest death toll surges as security forces resume brutal repression, https://www.ecoi.net/de/dokument/2023297.html, Zugriff 13.3.2020

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-        Joel Wing, Musings on Iraq (3.10.2019): Iraq’s October Protests Escalate And Grow, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/iraqs-october-protests-escalate-and-grow.html, Zugriff 13.3.2020

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-        RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (1.12.2019): Iraqi Protesters Torch Iranian Consulate For Second Time Within Week, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022938.html, Zugriff 13.3.2020

-        RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (4.11.2019): Security Forces Shoot At Baghdad Protesters, Several Killed In Karbala, https://www.ecoi.net/de/dokument/2019395.html, Zugriff 13.3.2020

-        Rudaw (13.10.2019): Iraq launches probe into killing of protesters, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/13102019, Zugriff 13.3.2020

-        UNAMI - UN Assistance Mission for Iraq (10.2019): Demonstrations in Iraq; 1-9 October 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019889/UNAMI_Special_Report_on_Demonstrations_in_Iraq_22_October_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020

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-        WZ - Wiener Zeitung (9.10.2018): Schlüsselland Irak, https://www.wienerzeitung.at/_em_cms/globals/print.php?em_ssc=LCwsLA==&em_cnt=994916&em_loc=69&em_ref=/nachrichten/welt/weltpolitik/&em_ivw=RedCont/Politik/Ausland&em_absatz_bold=0, Zugriff 13.3.2020

1.4.6. Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha’bi:

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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