TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/23 I401 2102010-4

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Veröffentlicht am 23.11.2020
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Entscheidungsdatum

23.11.2020

Norm

BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
FPG §70 Abs3
VwGVG §24 Abs2 Z1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch

I401 2102010-4/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerhard AUER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX (alias XXXX alias XXXX ), StA. NIGERIA, vertreten durch Mag. Timo GERERSDORFER, Ettenreichgasse 9, 1100 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien (BAW) vom 12.02.2020, IFA-Zahl/Verfahrenszahl: XXXX , zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte erstmals am 29.05.2013 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieses Verfahren wurde vom (damals zuständigen) Bundesasylamt am 05.07.2013 negativ abgeschlossen. Der Asylantrag wurde, ohne in die Sache näher einzutreten, gemäß § 5 Asylgesetz zurückgewiesen und die Abschiebung nach Ungarn für zulässig erklärt. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes (zu S7 437.004-1/2013/3E) abgewiesen. Dieses Erkenntnis wurde am 28.08.2013 durch Hinterlegung zugestellt. Der Beschwerdeführer hatte die Betreuungsstelle Traiskirchen am 31.07.2013 verlassen und war danach unbekannten Aufenthaltes. Am 07.09.2013 wurde er in Schubhaft genommen und am 23.09.2013 nach Ungarn abgeschoben.

2. Am 05.06.2014 wurde der Beschwerdeführer in Österreich ohne Identitätsdokumente aufgegriffen. Er stellte einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge als Bundesamt bezeichnet) mit Bescheid vom 17.11.2014 negativ beschieden wurde. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18.03.2015, I403 2102010-1/2E, zurückgewiesen, weil der Bescheid nicht rechtswirksam zugestellt worden sei.

3. Das Bundesamt wies nach niederschriftlicher Einvernahme den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 15.11.2015 ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig ist und gewährte für die freiwillige Ausreise eine Frist von 14 Tagen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesveraltungsgericht mit in Rechtskraft erwachsenen Erkenntnis vom 01.03.2016, I403 2102010-3/8E, abgewiesen.

4. Der Beschwerdeführer ehelichte am 16.06.2016 in Italien eine slowakische Staatsangehörige, die seit 28.07.2015 durchgehend mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet ist und sich als EWR-Bürgerin auf Grund einer am 08.09.2016 ausgestellten Anmeldebescheinigung Gemäß § 51 Abs. 1 Z 1 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes in Österreich aufhält. Das Ehepaar hat drei gemeinsame Kinder. Die Ehefrau brachte ein weiteres Kind in die Ehe mit.

5. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 29.09.2017 wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen unerlaubten Umganges mit Suchtgiften zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten, davon sechs Monate bedingt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt.

6. Am 13.09.2018 fand vor dem Bundesamt eine niederschriftliche Einvernahme zur beabsichtigten Erlassung eines „Aufenthaltsverbots“ statt, wobei auch die Ehefrau als Zeugin einvernommen wurde. Der Beschwerdeführer zeigte dem Bundesamt den Besitz eines ungarischen Aufenthaltstitels an, jedoch wurde ihm die freiwillige Ausreise nach Ungarn unter Verweis auf die verfügte „Rückkehrentscheidung nach Nigeria“ verwehrt und ihm der sichergestellte Reisepass nicht ausgefolgt. Nach Zustimmung des Bundesamtes zu dem vom Beschwerdeführer gestellten Antrag auf freiwillige Rückkehr nach Nigeria reiste er am 12.12.2018 auf dem Luftweg nach Nigeria aus.

7. Auch im Jahr 2019 reiste er mehrmals nach Nigeria, wobei sein Reisepass am 14.10.2019 erneut sichergestellt wurde. Am 23.10.2019 wurde ihm eine „Information über die Verpflichtung zur unverzüglichen Ausreise“ in „das Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates, der ihm einen Aufenthaltstitel ausgestellt hat“, ausgehändigt. Da der Beschwerdeführer nicht ausreiste, wurde sein Reisepass wieder am 28.11.2019 sichergestellt.

8. Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid vom 12.02.2020 erließ das Bundesamt gegen den Beschwerdeführer gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Aufenthaltsverbot (Spruchpunkt I.), erteilte gemäß § 70 Abs. 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub (Spruchpunkt II.) und erkannte einer Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in der Vergangenheit unter Aliasidentitäten aufgetreten sei, seinen Ausreiseverpflichtungen nicht nachgekommen und „in vollem Bewusstsein um den illegalen Aufenthalt“ unrechtmäßig in Österreich verblieben bzw. wieder eingereist sei, wegen Suchtmitteldelikten zu einer teilbedingten Haftstrafe verurteilt worden und gezielt nach Österreich eingereist sei, um Straftaten zu begehen, sein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht missbrauche und daher eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. An mehreren Stellen des Bescheides wurde außerdem ein Auszug aus dem kriminalpolizeilichen Aktenindex angeführt. In Österreich bestehe nur eine teilweise familiäre Bindung, da er mit seiner Ehefrau und den Kindern erst etwa zwei Jahre nach der Heirat in einem gemeinsamen Haushalt gelebt habe, ein Kind in der Slowakei und ein weiteres in Ungarn geboren worden sei und er auch einige Zeit in Ungarn gelebt habe. In Gesamtschau hätten die geringen familiären und sozialen Interessen daher hinter das öffentliche Interesse der Ordnung und Sicherheit zurückzutreten.

9. In der Beschwerde vom 11.03.2020 wurde moniert, dass sich der Beschwerdeführer als begünstigter Drittstaatsangehöriger nicht unrechtmäßig in Österreich aufhalte und er mit seiner Ehefrau, den drei leiblichen Kindern und dem Stiefkind nicht ein teilweises, sondern ein intaktes, aufrechtes und schützenswertes Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK bestehe. Es stehe der Ehefrau, den Kindern als EWR-Bürger und auch ihm als Ehemann bzw. Vater aufgrund der EU-Freizügigkeit zu, den Wohnsitz innerhalb der Union zu verlegen. Dass der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt aus dem Verkauf von Suchtmitteln finanziert hätte, sei eine substanzlose Behauptung. Tatsächlich habe die Ehefrau durch Erwerbstätigkeit bis zum Mutterschutz für den Familienunterhalt gesorgt und kümmere sich der Beschwerdeführer um den Haushalt und die Versorgung, Pflege und Erziehung der teils schul- bzw. kindergartenpflichtigen Kinder. Das verhängte Aufenthaltsverbot greife unverhältnismäßig in sein Privat- und Familienleben ein.

Der Beschwerde wurden neuerlich die Anmeldebescheinigungen und Geburtsurkunden der Kinder, die dem Bundesamt bereits am 11.09.2018 vorgelegt worden waren, sowie aktuelle Meldebestätigungen und Bestätigungen über den Bezug von Wochengeld der Ehefrau beigelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist nigerianischer Staatsangehöriger, seine Identität steht fest. Er ist seit 16.06.2016 mit einer slowakischen Staatsangehörigen verheiratet. Das Ehepaar hat drei gemeinsame Kinder, geboren am XXXX .2015 in der Slowakei, am XXXX .2017 in Ungarn und am XXXX .2020 in Österreich, die alle slowakische Staatsangehörige sind. Der Beschwerdeführer und seine Ehefrau teilen sich die Obsorge der Kinder. Im gemeinsamen Haushalt lebt außerdem eine achtjährige Tochter der Ehefrau des Beschwerdeführers aus einer früheren Beziehung. Der Beschwerdeführer kümmert sich um den Haushalt, die Versorgung und Erziehung der Kinder, die Ehefrau sorgt durch Erwerbstätigkeit für das Familieneinkommen. Nach Geburt des vierten Kindes im Februar 2020 bezog sie Wochengeld und bezieht aktuell die bedarfsorientierte Mindestsicherung.

Die Ehefrau und die Kinder halten sich aufgrund einer Anmeldebescheinigung in Österreich berechtigt auf und wurden die Aufenthaltstitel von der Niederlassungs- und Aufenthaltsbehörde ausgestellt. Der Beschwerdeführer verfügte als Angerhöriger über eine Anmeldebescheinigung für EWR-Bürger/-innen und Schweizer Bürger/-innen gemäß § 52 Abs. 1 Z 2 NAG, welche die Magistratsabteilung MA 35 des Amtes de Wiener Landesregierung am 04.12.2017 ausstellte. Am 09.12.2019 beantragte er die Erteilung des Aufenthaltstitels als Familienangehöriger eines EWR-Bürgers oder Schweizer Bürgers.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 20.09.2017 wurde der Beschwerdeführer wegen Suchtgiftdelinquenzen zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten verurteilt. Unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren wurde ein Teil der Freiheitsstrafe von sechs Monaten bedingt nachgesehen. Ein weiterer Strafantrag wegen des Verdachtes der Begehung einer Körperverletzung wurde mit einem Freispruch für den Beschwerdeführer erledigt.

In Österreich ging und geht der Beschwerdeführer keiner der Sozialversicherungspflicht unterliegenden Erwerbstätigkeit nach, hat nach Abschluss der Asylverfahren keine weiteren Deutschkenntnisse mehr nachgewiesen und weist auch sonst keine integrativen Schritte auf. Er bezog bis Februar 2016 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und schied mit der Begründung „Nicht hilfsbedürftig (Heirat, Eigenvermögen, Verpflichtungserklärung)“ aus ihr aus.

Fest steht, dass der Beschwerdeführer im Juni 2016 nach Italien ausreiste, sich zumindest im Juli 2017 in Ungarn aufhielt, dort über einen bis 22.06.2022 gültigen Aufenthaltstitel als „Familienangehöriger eines EWR-Bürgers“ verfügt, und am 12.12.2018 nach Nigeria reiste. Dort hielt er sich bis 31.12.2018 auf und kehrte am 01.01.2019 in die Europäische Union zurück. Die weiteren Reisebewegungen waren: am 15.05.2019 von Venedig nach Lagos und Rückreise am 17.06.2019 mit Ankunft am 18.06.2019 in Venedig.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, seiner Identität und Staatsbürgerschaft und dem Familienstand sowie die Angaben zu seiner Ehefrau und den Kindern ergeben sich aus den vorgelegten, unbedenklichen Reisedokumenten (AS 200 ff, 269 ff), den Geburtsurkunden, Anmeldebescheinigungen, Meldebestätigungen und der Heiratsurkunde (AS 393 ff). All diese Angaben konnten auch durch Abfragen im Zentralen Fremdenregister, im Zentralen Melderegisters und im Register des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger verifiziert werden.

Aus diesen Abfragen ergibt sich auch, dass der Beschwerdeführer seit mindestens 19.08.2019 (wieder) mit der Ehefrau und den drei leiblichen Kindern sowie der Stieftochter in einem gemeinsamen Haushalt in Wien lebt bzw. mit Hauptwohnsitz gemeldet ist.

Die Abfrage des Zentralen Melderegisters bestätigt die vorgelegten Anmeldebescheinigungen der Ehefrau und der Kinder sowie deren unionsrechtliches Aufenthaltsrecht und die Antragstellung des Beschwerdeführers auf Erteilung des Aufenthaltstitels „Familienangehöriger eines EWR-Bürgers“.

Die Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers in Ungarn legte er selbst vor (AS 272) und ergibt sich daraus, dass er sich zumindest zum Zeitpunkt der Ausstellung der Aufenthaltskarte im Juli 2017 in Ungarn aufgehalten hat. Der Aufenthalt zum Zweck der Eheschließung in Italien erschließt sich aus der Heiratsurkunde (AS 413 f). Seine Reisen nach Nigeria ergeben sich aus den Sichtvermerken im vorgelegten Reisepass und dem Flugticket (AS 238) sowie der Ausreisebestätigung (AS 261).

Die strafgerichtliche Verurteilung sowie der Freispruch ergeben sich aus einer Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich sowie in die im Akt befindlichen Urteilsausfertigungen.

Feststellungen zu Erwerbstätigkeiten des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau und dem aktuellen Bezug von Unterstützungsleistungen ergeben sich aus Abfragen des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger. Die Bestätigung über den Bezug von Wochengeld wurde dem Beschwerdeschriftsatz beigefügt. Dass der Beschwerdeführer über maßgebliche sprachliche, soziale oder sonstige Verfestigungen verfüge, brachte er weder selbst vor, noch wurden Unterlagen vorgelegt, die eine Integration nach Abschluss des Asylverfahrens belegen könnten. Die Aufgabenteilung im Haushalt und der Kinderbetreuung brachte er schlüssig im Beschwerdeschriftsatz vor und belegt die Amtsbestätigung des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 27.11.2018 (AS 392) die gemeinsame Obsorge der Kinder.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A):

3.1. Der mit „Aufenthaltsverbot“ betitelte § 67 FPG, BGBl I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017 lautet in seinen Abs. 1 und 2:

„(1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

(2) Ein Aufenthaltsverbot kann, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden."

Für den gegenständlichen Fall ist entscheidungswesentlich, dass die Anwendung des § 67 Abs. 1 leg. cit. eine unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörigkeit voraussetzt. Damit kann die Argumentation des Bundesamtes, wonach der Beschwerdeführer „illegal“ bzw. „unrechtmäßig“ in Österreich aufhältig war und ist bzw. verblieb, nicht auf § 67 FPG gestützt werden.

Das Bundesamt stellte fest, dass der Beschwerdeführer begünstigter Drittstaatsangehöriger ist und geht gleichzeitig von einem unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet aus. Gemäß § 15b Abs. 3 FPG besteht für begünstigte Drittstaatsangehörige ein Aufenthaltsrecht über einen dreimonatigen Zeitraum hinaus nach Maßgabe des 4. Hauptstückes des 2. Teiles des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (§§ 51 bis 57a NAG), wobei Inhaber von Aufenthaltskarten und Daueraufenthaltskarten (§§ 54 und 54a NAG) oder von Aufenthaltskarten und Daueraufenthaltskarten anderer Mitgliedstaaten zur visumfreien Einreise berechtigt sind.

Vor dem Hintergrund der Freizügigkeitsrichtlinie ("Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG") und des § 52 NAG zeigt sich, dass sich das Aufenthaltsrecht des Beschwerdeführers von einer zusammenführenden EWR-Bürgerin, nämlich seiner slowakischen Ehefrau, der das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nach § 51 NAG zukommt, ableitet und es sich hierbei um ein auf Grund des Gemeinschaftsrechts, nämlich auf der Freizügigkeitsrichtlinie basierendes Aufenthaltsrecht handelt, welches nicht (erst) durch die tatsächliche Ausstellung der Aufenthaltskarte eingeräumt wird (vgl. Kutscher/Völker/Witt, Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht [2010], S. 188). Vielmehr kann einer Aufenthaltskarte (lediglich) ein deklaratorischer Charakter zugesonnen werden (EuGH 27.7.2002, C-459/99, Mrax). Daraus ergibt sich, dass der Beschwerdeführer trotz (noch) nicht erteiltem Aufenthaltstitel als Familienangehöriger eines EWR-Bürgers oder Schweizer Bürgers, den er am 09.12.2019 beantragte, nicht unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig war und ist, da er mit der freizügigkeitsberechtigten slowakischen Staatsbürgerin am 16.06.2016 die Ehe schloss und sein Aufenthalt seither rechtmäßig ist.

3.2. In seiner Begründung geht das Bundesamt weiters von einem unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht aus, vermeint aber, dass der Beschwerdeführer dieses Recht missbräuchlich verwendete, da er erst zwei Jahre nach der Heirat einen gemeinsamen Haushalt mit der Ehefrau führte. Inwiefern darin ein Missbrauch besteht, lässt das Bundesamt offen. Auch das Bundesverwaltungsgericht kann darin keine missbräuchliche Verwendung erkennen. Auch aus den weiteren Feststellungen, dass ein Kind in der Slowakei und eines in Ungarn geboren wurde und der Beschwerdeführer sich zumindest eine Zeit lang in Ungarn aufgehalten hat, lässt sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes kein Missbrauch ableiten. Es ist der unionsrechtlichen Freizügigkeit immanent, seinen Wohnsitz oder Aufenthalt innerhalb des Gebietes der Mitgliedsstaaten frei zu wählen, was auch die Entscheidung umfasst, in welchem Land die Entbindung der Kinder stattfinden soll. Dem Beschwerdeführer kam jedenfalls das Recht zu, seine Frau in die Slowakei und nach Ungarn zu begleiten, um später wieder nach Österreich zurückzukehren.

Auf Grund des Umstandes, dass der Beschwerdeführer nicht durchgehend in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Familie lebte, stellte das Bundesamt ein bloß teilweise bestehendes Familienleben in Österreich fest. In diesem Zusammenhang ist auf die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.02.2020, Ra 2019/18/0299, zu verweisen: „Ein von Art. 8 Abs. 1 MRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind entsteht nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR 21.6.1988, Berrehab, 10730/84; 26.5.1994, Keegan, 16969/90). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (vgl. EGMR 19.2.1996, Gül, 23218/94). Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens im Sinn des Art. 8 Abs. 1 MRK, solange nicht jegliche Bindung gelöst ist (vgl. EGMR 24.4.1996, Boughanemi, 22070/93; siehe dazu auch VfGH 3.10.2019, E 3456/2019; 24.11.2014, E 35/2014).“ und führt zur Prüfung des Familienlebens bei Erlassung eines Aufenthaltsverbotes in seinem Erkenntnis vom 22.08.2019, Ra 2019/21/0063, mwN, außerdem aus: „Bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 MRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG 2014 zu prüfen. Nach dessen Abs. 1 ist nämlich (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FrPolG 2005, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 MRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG 2014 genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG 2014 ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. E 12. November 2015, Ra 2015/21/0101; E 20. Oktober 2016, Ra 2016/21/0198). Das gilt aber nicht nur für die Rückkehrentscheidung und für das in § 9 Abs. 1 BFA-VG 2014 weiters ausdrücklich genannte Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FrPolG 2005, sondern auch für das - nur bei gleichzeitiger Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässige – Einreiseverbot iSd § 53 FrPolG 2005, in dessen Abs. 2 und 3 in Bezug auf die Bemessung der Dauer auch die Abwägung nach Art. 8 MRK angesprochen wird.“

Der Beschwerdeführer ist Vater von drei leiblichen Kindern, die wie die Ehefrau slowakische Staatsangehörige und zum Aufenthalt in Österreich durch Anmeldebescheinigungen berechtigt sind. Dass der Beschwerdeführer zeitweise nicht im gemeinsamen Haushalt mit seiner Familie lebte, schadet, wie oben dargestellt, nicht dem Weiterbestehen des Familienlebens, zumal ihm auch weiterhin die durch das Pflegschaftsgericht bestätigte Obsorge für seine Kinder zukam.

Das Bundesamt unterließ die Prüfung des Kindeswohles und die Auswirkungen eines Aufenthaltsverbotes des Vaters darauf, einschließlich des Privatlebens mit der Stieftochter. Der Verwaltungsgerichtshof hält in seiner Entscheidung vom 26.02.2020, Ra 2019/18/0456, mwN und Hinweis auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, ausdrücklich fest, dass „[d]ie Auswirkungen der Entscheidung (hier: der Anordnung einer Außerlandesbringung) auf das Kindeswohl […} zu bedenken [sind] und dieser Umstand […] bei der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 MRK bzw. § 9 BFA-VG 2014 hinreichend berücksichtigt werden muss.“

Die Stieftochter ist im schulpflichtigen Alter, das älteste gemeinsame Kind besucht den Kindergarten. Der Beschwerdeführer besorgt den Haushalt und kümmert sich um die Erziehung und Versorgung der Minderjährigen, während die Ehefrau zuletzt einer Erwerbstätigkeit nachging. Da das jüngste gemeinsame Kind erst knapp über ein halbes Jahr alt ist, ist sie derzeit nicht erwerbstätig, der Beschwerdeführer leistet Beistand und Unterstützung. Eine Trennung vom Beschwerdeführer würde für die Ehefrau und die Kinder eine erhebliche Mehrbelastung bedeuten, da sich die Ehefrau alleine um vier minderjährige Kinder im Alter von einem halben Jahr, dreieinhalb Jahren, knapp fünf Jahren und acht Jahren kümmern müsste. Ein Eingriff in ein schützenswertes Familienleben liegt also vor. Auch wenn dem Bundesamt beizupflichten ist, dass der Beschwerdeführer keine übermäßigen integrativen Verfestigungen vorzuweisen hat, ist ein erheblicher Eingriff in sein Privatleben doch gegeben, da er in die Erziehung, Betreuung und Versorgung der Kinder, einschließlich des Stiefkindes, mit eingebunden ist.

3.3. Ein Eingriff in das Privat- und Familienleben bei Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 67 FPG ist nur statthaft, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist und auf Grund des persönlichen Verhaltens des Beschwerdeführers die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen.

Das Bundesamt führt bei seiner Interessensabwägung zu Recht die strafgerichtliche Verurteilung ins Treffen, bezieht aber auch zwei Vermerke im kriminalpolizeilichen Aktenindex heran, für die es keinerlei (verwaltungs-) strafrechtliche Verurteilungen des Beschwerdeführers gegeben hat. Der Beschwerdeführer wurde zudem vom Vorwurf der Körperverletzung freigesprochen. Zu berücksichtigen ist somit nur eine Verurteilung wegen unerlaubten Umganges mit Suchtgiften, wobei nicht verkannt wird, dass auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat, dass „angesichts der verheerenden Auswirkungen der Suchtgiftkriminalität die Staaten berechtigt sind, insofern besonders rigoros vorzugehen“ (EGMR Salem v Denmark, 01.12.2016, 77036/11). Der Beschwerdeführer wurde für schuldig befunden, in mehreren Angriffen und über längere Zeiträume hinweg Suchtgift durch gewinnbringenden Verkauf anderen überlassen zu haben. Erschwerend wurden die Tatwiederholung im Rahmen der Gewerbsmäßigkeit und die zweifache Deliktsqualifikation, mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel, das reumütige Geständnis, der teils wesentliche Beitrag zur Wahrheitsfindung und die teilweise Sicherstellung des Suchtgiftes gewertet. Zu beachten ist auch, dass mit einer teilbedingten Freiheitsstrafe das Auslangen gefunden werden konnte und die gesetzte Probezeit nunmehr fast verstrichen ist, ohne dass sich der Beschwerdeführer neuerlich strafgerichtlich etwas zu Schulden hat kommen lassen.

Zusammengefasst ergibt sich, dass aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilung, die nunmehr knapp drei Jahre zurückliegt, keine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit besteht. Zur Beurteilung des Gesamtverhaltens zog das Bundesamt außerdem den „unrechtmäßigen“ Aufenthalt des Beschwerdeführers, dessen missbräuchlichen Gebrauch des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes und die Verwendung von Aliasidentitäten in den früheren Asylverfahren heran. Dass die beiden erstgenannten Umstände nicht zutreffen, wurde bereits oben dargelegt. Die Verwendung von Aliasidentitäten liegt mehrere Jahre zurück und trat der Beschwerdeführer seit der Ausstellung des derzeit gültigen Reisepasses im Jahr 2015 stets unter derselben Identität vor dem Bundesamt auf. Der im Spruch erstgenannte Name und das Geburtsdatum stimmen auch mit den vorgelegten Dokumenten wie Heiratsurkunde, Geburtsurkunden der Kinder oder Meldebestätigungen und Amtsbestätigung über die Obsorge überein und kann von einem aktuellen oder fortgesetzten Täuschungsversuch nicht (mehr) gesprochen werden. Dem Vorhalt, der Beschwerdeführer sei nicht gewillt, sich an die österreichischen Gesetze und Vorschriften zu halten, ist daher nur bedingt zuzustimmen. Der Beschwerdeführer kam seiner Ausreiseverpflichtung nach, legte die Heiratsurkunde und die Anmeldebescheinigungen der Ehefrau und Kinder dem Bundesamt vor und gab auch den Besitz eines ungarischen Aufenthaltstitels bekannt. Trotzdem wurde ihm die freiwillige Ausreise nach Ungarn verwehrt (AS 235). Das Bundesamt hielt sein Reisedokument zurück; er reiste schließlich auf eigene Kosten nach Nigeria aus, um den Anforderungen der Behörde („[…] wird die freiwillige Ausreise nach Ungarn verwehrt, da dieser über eine Rückkehrentscheidung nach Nigeria verfügt. Sollte diese[r] eine[r] freiwillige[n] [sic!] Rückkehr nach Nigeria zustimmen und dieser nachkommen, wird natürlich gerne dieser zugestimmt und die Dokumente werden diesbezüglich auch gerne ausgefolgt!“) gerecht zu werden. Dass er letztlich die rechtswidrigen Anweisungen des Bundesamtes befolgt hat, kann ihm nicht vorgeworfen werden.

3.4. Zusammengefasst kann nach einer drei Jahre zurückliegenden Verurteilung zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten und der früheren, ebenso Jahre zurückliegenden Verwendung von Aliasidentitäten nicht von einer aktuell bestehenden, tatsächlichen und erheblichen Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, ausgegangen werden.

Es überwiegt das Interesse des Beschwerdeführers an der Aufrechterhaltung seines schützenswerten Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 Abs. 1 EMRK somit dem im Abs. 2 leg. cit. genannten öffentlichen Interessen und war die Erlassung eines Einreiseverbotes nicht geboten.

In Stattgebung der Beschwerde war somit spruchgemäß der angefochtene Spruchpunkt I. und die mit ihm verbundenen Spruchpunkte II. (betreffend den Durchsetzungsaufschub) und III. (betreffend die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung) ersatzlos zu beheben.

4. Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.

Der maßgebliche Sachverhalt war aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen (vgl. § 27 VwGVG). Eine mündliche Erörterung hätte auch keine weitere Klärung der Rechtssache erwarten lassen. Die Voraussetzungen für den Entfall einer mündlichen Verhandlung sind gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 Abs. 1 VwGVG erfüllt.

Zu Spruchpunkt B) - Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder fehlt es an einer Rechtsprechung zur Gewichtung des Privat- und Familienlebens oder zur Interessensabwägung bei der Anwendung des Art. 8 EMRK, noch weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Aufenthalt im Bundesgebiet Aufenthaltsverbot Aufenthaltsverbot aufgehoben aufrechte Rückkehrentscheidung aufschiebende Wirkung - Entfall Ausreiseverpflichtung Behebung der Entscheidung Durchsetzungsaufschub ersatzlose Behebung EU-Bürger EWR-Bürger Gefährdung der Sicherheit Gefährdungsprognose Gesamtverhalten AntragstellerIn Haft Haftstrafe illegaler Aufenthalt Interessenabwägung Kassation öffentliche Interessen öffentliche Ordnung öffentliche Sicherheit Privat- und Familienleben private Interessen Straffälligkeit strafgerichtliche Verurteilung Strafhaft strafrechtliche Verurteilung Straftat Suchtmitteldelikt Unionsbürger

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:I401.2102010.4.00

Im RIS seit

28.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

28.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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