Entscheidungsdatum
02.10.2020Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W274 2196955-1/7E
W274 2196958-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch Mag. LUGHOFER als Einzelrichter über die Beschwerden des 1.) XXXX , geboren am XXXX , und der 2.) XXXX , geboren am XXXX , beide iranische Staatsbürger, XXXX , vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, Top 5, 1090 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 22.03.2018 (Bescheide I.) sowie vom 16.5.2018 (Bescheide II.), jeweils 1.) 1146022709/171160615 und 2.) 1146022600/171160631, I. zu Recht:
Die Bescheide jeweils vom 16.05.2018, 1.) 1146022709/171160615 und 2.) 1146022600/171160631, mit denen die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewiesen wurden, werden ersatzlos behoben;
und fasst II. den
B E S C H L U S S:
Die Beschwerden gegen die Bescheide vom 22.03.2018, 1.) 1146022709/171160615 und 2.) 1146022600/171160631, werden zurückgewiesen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
.I
Text
Entscheidungsgründe:
Bei den Beschwerdeführern (BF) handelt es sich um einen Vater (1.-BF) und dessen – mittlerweile – volljährige Tochter (2.-BF).
Beide stellten am 10.10.2017 nach einem etwa 6-monatigen Aufenthalt in Deutschland vor dem SPK Schwechat Anträge auf internationalen Schutz. Jedenfalls dem 1.-BF war zuvor am 16.3.2017 durch die österreichische Botschaft in Teheran ein Touristenvisum mit Gültigkeit von 27.3.2017 bis 22.4.2017 ausgestellt worden.
Nach Einvernahme durch das BFA am 10.11.2017 wurden die Anträge auf internationalen Schutz mit Bescheiden jeweils vom 22.03.2018 (Bescheide I.) durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) sowohl hinsichtlich Asyl als auch Subsidiärschutz abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie festgestellt, dass die Abschiebung in den Iran zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt (Spruchpunkt VI.).
Diese Bescheide wurden den BF bisher nicht zugestellt.
Zum Versuch der Zustellung der Bescheide I. der belangten Behörde wird festgestellt:
Die belangte Behörde versuchte, dem 1.-BF die ihn sowie die damals noch mj. 2.-BF betreffenden Bescheidausfertigungen als deren Vertreter zuzustellen. Die Bescheidausfertigungen wurden nach einem erfolglosen Zustellversuch am 26.03.2018 an der Adresse XXXX (in der Folge: Adresse [neu]) ab dem 27.03.2018 am Postamt XXXX zur Abholung bereitgehalten.
Die BF waren von 18.10.2017 bis 21.03.2018 in der Unterkunft XXXX (in Folge: Adresse [alt]), gemeldet, von 21.03.2018 bis 02.12.2019 an der Adresse (neu).
Der 1.-BF unterschrieb am 22.03.2018 einen ab 01.04.2018 geltenden Mietvertrag über die Wohnung an der Adresse (neu). Zu diesem Zeitpunkt wurden ihm fünf Schlüssel (darunter einer für den Postkasten) ausgehändigt.
Am 01.04.2018 wurde in der Grundversorgung der Quartiersabgang der BF vermerkt. Am 01.04.2018 zogen die BF in der Adresse (alt) aus und in die Adresse (neu) ein. Zwischen 22.03.2018 und 01.04.2018 waren die BF zwei- bis dreimal für ca. jeweils zwei bis vier Stunden an der Adresse (neu), um den Stand der Renovierungsarbeiten zu prüfen oder selbst Reinigungsarbeiten vorzunehmen; genächtigt haben die BF in der Adresse (neu) vor dem 01.04.2018 jedenfalls nicht, sondern an der Adresse (alt).
Am 15.05.2018 sprachen die BF zwecks Identitätsfeststellung bei der belangten Behörde vor. Im Rahmen dessen wurden ihnen diesmal Kopien der Bescheidausfertigungen ausgehändigt. Diese sind jeweils auf jeder Seite mit „KOPIE“ gestempelt und weisen keine elektronische Signatur auf. Die die 2.-BF betreffende Bescheidausfertigung ist gar nicht unterschrieben, die den 1.-BF betreffende Bescheidausfertigung weist lediglich eine Unterschrift in Kopie vor.
Noch am selben Tag, dem 15.05.2018, stellten die BF Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verbunden mit Beschwerden gegen die Bescheide vom 22.03.2018.
Mit den Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.05.2018 (Bescheiden II.) wurden die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewiesen.
Gegen diese Bescheide richten sich die Beschwerden vom 28.05.2018 wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung, Beweiswürdigung und rechtlicher Beurteilung.
Die belangte Behörde legte den Akt dem BVwG am 29.5.2018 mit den Beschwerden vom 15.5.2018 (verbunden mit Wiedereinsetzungsantrag) und vom 28.5.2018 vor.
Am 02.12.2019 stellten die BF neuerlich Anträge auf internationalen Schutz.
Mit Bescheiden der belangten Behörde vom 15.01.2020 zu 1. 1146022709/191232122 und 2. 1146022600/191232157 (Bescheide III.) wurden diese (Folge-) Anträge wiederum, sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) zurückgewiesen, Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), Rückkehrentscheidungen erlassen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit der Abschiebung in den Iran festgestellt (Spruchpunkt V.) sowie ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.). Weiters wurde gegen die BF gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z6 FPG ein auf die Dauer von einem Jahr befristetes Einreiseverbot verhängt (Spruchpunkt VII.) und ihnen aufgetragen, ab 02.12.2019 bis 18.12.2019 in einem näher bezeichneten Quartier Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt VIII.).
Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wurden zu W170 2196955-2 und W170 2196958-2 protokolliert.
Nach mündlichen Verhandlungen am 13.02.2020 und 15.06.2020, in denen zum Zustellvorgang der Bescheidausfertigungen vom 22.3.2018 Beweis erhoben wurde, wurden mit Erkenntnis vom 1.7.2020 zu W170 2196955-2 und W170 2196958-2 die Bescheide vom 15.01.2020 (Bescheide III.), mit denen über die Folgeanträge abgesprochen wurde, ersatzlos behoben und begründend zusammengefasst ausgeführt, dass mangels Vorliegens rechtskräftiger Bescheide im ersten Verfahren, anhängig bei der Gerichtsabteilung W274, keine Folgeanträge vorgelägen seien.
Der Zustellvorgang betreffend die Bescheide vom 22.3.2018 wurde in den Verfahren W170 2196955-2 und W170 2196958-2 eingehend erhoben. Die dortigen Feststellungen sowie beweiswürdigenden Überlegungen werden auch diesem Verfahren zu Grunde gelegt.
Die Feststellungen stützen sich dabei insbesondere auf die Aussagen der BF in den mündlichen Verhandlungen zu obigen GZ (siehe Niederschrift der Verhandlung vom 13.02.2020 und 15.06.2020 samt Beilagen) sowie die Aktenlage in diesem Verfahren und die Bescheidausfertigungen vom 22.03.2018 hinsichtlich des BF samt Rückschein (Zustellversuch am 26.03.2018 und Hinterlegung am 27.03.2018). Daraus ergibt sich auch, dass lediglich Kopien der oben genannten Bescheidausfertigungen am 15.05.2018 an die BF ausgefolgt wurden. Die Ausfertigungen tragen auf jeder Seite den Stempel „KOPIE“ und sind mit keiner elektronischen Signatur versehen. Die Bescheidausfertigung hinsichtlich des 1.-BF weist eine kopierte Unterschrift auf, jene der 2.-BF keine Unterschrift. Infolge der undatierte Übernahmebestätigungen war den glaubwürdigen Aussagen der BF bezüglich des Datums der Aushändigung zu folgen. Weiters ergaben sich der ZMR-Auszug der BF, die Meldung des Quartierabgangs der BF durch den Vermieter (Adresse (alt)) vom 03.04.2020 mit Abgangsdatum 01.04.2018, ein Schreiben des Vermieters des Objekts Adresse (neu) sowie der Mietvertrag vom 22.03.2018 (Beginn des Mietverhältnisses: 01.04.2018) hinsichtlich des Objekts Adresse (neu) – wie bereits im Verfahren von W170 – aus den Akten. Die Feststellungen, dass die BF zwischen 22.03.2018 und 01.04.2018 zwei- bis dreimal für ca. jeweils zwei bis vier Stunden an der Adresse (neu) waren, um den Stand der Renovierungsarbeiten zu prüfen oder selbst Reinigungsarbeiten vorzunehmen, sowie dass sie vor dem 01.04.2018 jedenfalls nicht in der Adresse (neu), sondern in der Adresse (alt) genächtigt haben, ergibt sich aus ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung, die diesbezüglich glaubhaft waren und welchen die belangte Behörde nicht entgegengetreten ist.
Der entscheidungswesentliche Sachverhalt steht damit abschließend fest, die zugrunde gelegten Tatsachenerhebungen werden von der belangten Behörde im Wesentlichen nicht bestritten.
Rechtlich folgt:
Gegenstand der nunmehrigen Entscheidung sind 1.) die Beschwerden über die abweisenden Bescheide vom 16.05.2018 betreffend die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Bescheide II.) sowie 2.) die mit den Wiedereinsetzungsanträgen verbundenen Beschwerden gegen die Bescheide vom 22.03.2018 (Bescheide I.).
Zum Spruchpunkt I.:
Zunächst bedarf es eines Eingehens auf die Beschwerden gegen die Bescheide II., weil im Falle einer im Rechtsbestand verbleibenden Abweisung der Wiedereinsetzungsanträge auch die mit diesen verbundenen Beschwerden nicht mehr zu behandeln wären.
Auch für die Erledigung dieser ist die (Vor-) Frage relevant, ob die Zustellung der Bescheide I. rechtswirksam war, weil ansonsten über Wiedereinsetzungsanträge entschieden worden wäre, denen kein Fristversäumnis zu Grunde gelegen wäre.
Zur Wirksamkeit der Zustellung der Bescheide I.:
Zum versuchten Zustellvorgang bzw. zur versuchten Hinterlegung:
Gemäß § 13 Abs. 1 1. Satz ZustG ist das Dokument dem Empfänger an der Abgabestelle zuzustellen.
Gemäß § 17 Abs. 1 ZustG ist das Dokument im Falle der Zustellung durch den Zustelldienst bei seiner zuständigen Geschäftsstelle, in allen anderen Fällen aber beim zuständigen Gemeindeamt oder bei der Behörde, wenn sie sich in derselben Gemeinde befindet, zu hinterlegen, wenn das Dokument an der Abgabestelle nicht zugestellt werden kann und der Zusteller Grund zur Annahme hat, dass sich der Empfänger oder ein Vertreter im Sinne des § 13 Abs. 3 regelmäßig an der Abgabestelle aufhält.
Gemäß § 17 Abs. 2 ZustG ist der Empfänger von der Hinterlegung schriftlich zu verständigen. Die Verständigung ist in die für die Abgabestelle bestimmte Abgabeeinrichtung (Briefkasten, Hausbrieffach oder Briefeinwurf) einzulegen, an der Abgabestelle zurückzulassen oder, wenn dies nicht möglich ist, an der Eingangstüre (Wohnungs-, Haus-, Gartentüre) anzubringen. Sie hat den Ort der Hinterlegung zu bezeichnen, den Beginn und die Dauer der Abholfrist anzugeben sowie auf die Wirkung der Hinterlegung hinzuweisen.
Gemäß Abs. 3 leg. cit. ist das hinterlegte Dokument mindestens zwei Wochen zur Abholung bereitzuhalten. Der Lauf dieser Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Dokument erstmals zur Abholung bereitgehalten wird. Hinterlegte Dokumente gelten mit dem ersten Tag dieser Frist als zugestellt. Sie gelten nicht als zugestellt, wenn sich ergibt, dass der Empfänger oder dessen Vertreter im Sinne des § 13 Abs. 3 wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte, doch wird die Zustellung an dem der Rückkehr an die Abgabestelle folgenden Tag innerhalb der Abholfrist wirksam, an dem das hinterlegte Dokument behoben werden könnte.
Gemäß § 2 Z 4 ZustG ist im Sinne des ZustG die Wohnung oder sonstige Unterkunft, die Betriebsstätte, der Sitz, der Geschäftsraum, die Kanzlei oder auch der Arbeitsplatz des Empfängers, im Falle einer Zustellung anlässlich einer Amtshandlung auch deren Ort, oder ein vom Empfänger der Behörde für die Zustellung in einem laufenden Verfahren angegebener Ort eine Abgabestelle im Sinne des ZustG. Dies ist bedeutend, weil die Zustellung nur an einer Abgabestelle im Sinne des § 2 Z 4 ZustG erfolgen darf (vgl. § 13 Abs. 1 erster Satz ZustG), wobei die in § 2 Z. 4 ZustG genannten Abgabenstellen in keiner Rangordnung zueinanderstehen, und die Auswahl der Abgabestelle, wenn mehrere bestehen, der Behörde überlassen bleibt (VwGH 23.11.2011, 2009/11/0022).
Gegenständlich ist die Frage, ob der konkrete Zustellort zum Zeitpunkt der versuchten Zustellung der Bescheide I. eine Abgabestelle der BF darstellte.
Jedenfalls handelte es sich bei der Adresse (neu) weder um eine Betriebsstätte, den Sitz, den Geschäftsraum, die Kanzlei oder den Arbeitsplatz; auch wurde mit den BF an der Adresse (neu) keine Amtshandlung geführt, noch handelt es sich bei der Adresse (neu) um einen von den BF der Behörde für die Zustellung in einem laufenden Verfahren angegebenen Ort. Daher war die Adresse (neu) nur dann eine Abgabestelle, wenn sie zum Zeitpunkt des (erfolglosen, ersten) Zustellversuches und der (versuchten) Zustellung – also des ersten Tages der Hinterlegung – eine Wohnung oder eine sonstige Unterkunft war.
Zum Begriff der „Wohnung“:
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter einer Wohnung im Sinn des § 2 Z 4 ZustG jede Räumlichkeit zu verstehen, die der Empfänger tatsächlich benützt, wo er also tatsächlich wohnt. Der dazu erforderliche regelmäßige Aufenthalt des Empfängers in seiner Wohnung ist dabei nach objektiven Gesichtspunkten ex post und ohne Rücksicht darauf zu beurteilen, wie sich die Verhältnisse dem Zustellorgan seinerzeit subjektiv geboten haben sowie ohne Rücksicht auf die Absichten des Empfängers. Eine Meldung nach dem Meldegesetz ist für das Vorliegen einer Abgabestelle nicht ausschlaggebend (vgl. VwGH 16.12.1992, 92/02/0250, VwGH 19.02.2020, Ra 2019/12/0037). Eine Wohnung im Sinne des ZustG und somit eine Abgabestelle, an der ein Dokument gemäß § 13 Abs. 1 ZustG dem Empfänger zugestellt werden darf, liegt aber nur dann und so lange vor, als sich der Empfänger – von relativ kurzfristigen Ausnahmen abgesehen (vgl. § 16 Abs. 1 und § 17 Abs. 1 ZustG) – dort tatsächlich aufhält (VwGH 25.03.2010, 2010/21/0007). Eine „Wohnung“ wird durch das Faktum des (regelmäßigen) Bewohntwerdens begründet. Davon kann keine Rede sein, wenn nur eine bloß fallweise Benützung vorliegt (vgl. die zum identen Begriff der Wohnung gemäß § 4 Zustellgesetz in der bis zum 29. Februar 2004 geltenden Stammfassung BGBl. Nr. 200/1982: VwGH 25.04.2002, 2001/07/0120; VwGH 30.01.2007, 2004/18/0428).
Erst wenn das Vorliegen einer Wohnung im genannten Sinn und damit einer Abgabestelle im Sinne des § 4 ZustellG bejaht werden kann, käme es in weiterer Folge darauf an, ob der Zustellempfänger im Sinne des § 17 Abs. 3 ZustellG wegen Abwesenheit von dieser Abgabestelle von einem Zustellvorgang nicht rechtzeitig hätte Kenntnis erlangen können (VwGH 19.05.1993, 92/09/0331; VwGH 30.06.2005, Zl. 2003/18/0209; VwGH 26.11.2008, 2005/08/0089). Die Eintragung einer bestimmten Anschrift als Hauptwohnsitz im Melderegister hat zwar Indizwirkung, bietet aber keinen Beweis für eine Wohnadresse (VwGH 22.12.2015, Ra 2015/06/0086, VwGH 13.10.2016, Ra 2015/08/0213), auch beseitigt eine meldebehördliche Abmeldung den Charakter einer Abgabestelle nicht. Allein aus der meldebehördlichen Abmeldung lässt sich noch nicht zwingend ableiten, dass der Beschwerdeführer seine bisherige Abgabestelle geändert oder aufgegeben hätte (VwGH 25.04.2002, 2002/21/0036; VwGH 17.03.2009, 2006/19/0515; VwGH 28.11.2014, 2012/06/0027). Schließlich hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, dass der Umstand, dass sich der Empfänger am Tag der Hinterlegung und an dem der Hinterlegung des Schriftstückes folgenden Wochenende an der Abgabestelle nicht aufgehalten hat, um sich am neuen Wohnort einzurichten und die (bisherige) Wohnung erst später endgültig zu räumen, der bisherigen Wohnung vor dem Tag der endgültigen Wohnungsräumung nicht den Charakter einer Abgabestelle iSd § 4 ZustG nimmt (vgl. VwGH 24.03.1997, 95/19/1302).
Zusammenfassend hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 07.10.2010, 2006/20/0035 ausgeführt, dass als Wohnung iSd § 4 ZustG Räumlichkeiten verstanden werden, die im Zeitpunkt der Zustellung dem Empfänger tatsächlich als Unterkunft in der Art eines Heimes dienen; Räumlichkeiten also, die der Empfänger tatsächlich benützt, wo er gewöhnlich zu nächtigen oder sich sonst aufzuhalten pflegt.
Da die BF sich vor dem 01.04.2018 nicht regelmäßig, sondern nur sporadisch in der Adresse (neu) aufgehalten haben und dort vor allem nicht genächtigt haben – sie haben noch in der Adresse (alt) genächtigt – handelte es sich für die BF bei der Adresse (neu) weder am 26.03.2018 noch am 27.03.2018 um eine Wohnung im Sinne des ZustG.
Zum Begriff der „sonstigen Unterkunft“:
In seinem Erkenntnis vom 07.10.2010, 2006/20/0035 hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, dass eine sonstige Unterkunft vorliegt, wenn sich der Empfänger in Räumlichkeiten aufhält, die nicht das sind, was nach den allgemeinen Lebensgewohnheiten als Wohnung zu betrachten ist, selbst wenn der Aufenthalt nicht ständig, sondern nur vorübergehend ist, also nicht, wie dies bei Wohnungen der Fall ist, auf Dauer angelegt ist. Stets muss es sich um Räumlichkeiten handeln, die als Wohnungsersatz in Betracht kommen können und die dem Unterkommen dienen, wie z.B. ein Wohnwagen, ein Seniorenheim, ein Studentenheim oder eine Flüchtlingsbetreuungsstelle. Unterkünfte für Asylwerber in Pensionen, Hotels, Heimen und Lagern oder anderen Betreuungsstellen kommen als sonstige Unterkunft im Sinne des ZustG in Betracht, eine solche sonstige Unterkunft im Sinne des ZustG kann auch bei einem nur vorübergehenden, nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt eine „Abgabestelle“ darstellen (VwGH 22.03.2000, 99/01/0124, 0125). Doch bedarf es auch in diesen Konstellationen einer gewissen – hinsichtlich der Mindestdauer von den Umständen des Einzelfalles abhängigen – zeitlichen Verfestigung, so bewirkt eine zweimalige Übernachtung und der Aufenthalt während eines Tages in einem „Notquartier“ des Bundesasylamtes noch nicht, dass dieser Unterkunft die Qualität einer „Abgabestelle“ im Sinne des ZustG zugebilligt werden könnte (VwGH 23.11.2006, 2003/20/0519).
Da die BF sich vor dem 01.04.2018 nicht regelmäßig, sondern nur sporadisch in der Adresse (neu) aufgehalten haben und bis zum 01.04.2018 an der Adresse (alt) genächtigt haben, handelte es sich für die BF bei der Adresse (neu) weder am 26.03.2018 noch am 27.03.2018 um ein Wohnungssurrogat und daher zu den angeführten Daten auch nicht um eine sonstige Unterkunft im Sinne des ZustG. Eine „sonstige Unterkunft“ ist somit nicht einfach ein anderer Ort, an dem man sich neben der Wohnung regelmäßig aufhält, sondern hat denselben Wohnzweck zu erfüllen, was in Bezug auf die Adresse (neu), vor dem 01.04.2018, nicht zutrifft. Da die Adresse (neu) weder am 26.03.2018 noch am 27.03.2018 eine Wohnung oder eine sonstige Unterkunft der BF im Sinne des ZustG war, handelte es sich dabei um keine Abgabestelle im Sinne des ZustG, was nach objektiven Gesichtspunkten ex post und ohne Rücksicht darauf zu beurteilen ist, wie sich die Verhältnisse dem Zustellorgan seinerzeit subjektiv geboten haben, ohne Rücksicht auf die Absichten der Empfänger. Daran ändert auch die die Behörde irreführende polizeiliche Meldung nichts, selbiges gilt für den mehrmaligen Aufenthalt der BF, um die Renovierung zu beaufsichtigen oder Reinigungsarbeiten vorzunehmen. Gerade der Umstand, dass noch Renovierungsarbeiten im Gang und Reinigungsarbeiten notwendig waren, zeigt, dass ein tatsächliches Bewohntwerden der Wohnung noch nicht möglich war, sondern vielmehr erst vorbereitet wurde.
Nachdem zum Zeitpunkt des versuchten Zustellvorgangs (26. bzw. 27.03.2018) die BF an der Adresse (neu) noch keine Abgabestelle begründet hatten, kommt es im gegenständlichen Fall auf die Frage, ob die BF Zugang zu einem gemeinsamen oder eigenen Postkasten hatten (sie verfügten jedenfalls über einen Postkastenschlüssel) nicht an. Aus der Judikatur ergibt sich, dass die Frage des Postkastenzugangs im Zusammenhang mit der Abwesenheit von der Abgabestelle oder der Möglichkeit, eine Hinterlegungsanzeige zu erhalten, relevant ist, nicht jedoch für die Begründung einer Abgabestelle (VwGH 19.10.2017, Ra 2017/20/0290; VwGH 08.09.2014 2013/06/0084; VwGH 28.05.2013, 2011/05/0076; VwGH 28.05.2013, 2012/10/0121; VwGH 23.11.1993, 93/11/0085).
Mangels (tauglichen) Zustellversuchs an einer tatsächlichen Abgabestelle konnte den BF jedoch auch nicht durch Hinterlegung zugestellt werden. Somit wurden den BF die Bescheidausfertigungen vom 22.03.2018 am 26. und 27.03.2018 nicht rechtmäßig zugestellt, d.h. keine Bescheide erlassen und auch keine Beschwerdefrist ausgelöst.
Zur Ausfolgung der Kopien am 15.05.2018:
Gemäß § 18 Abs. 4 AVG hat jede Ausfertigung die Bezeichnung der Behörde, das Datum der Genehmigung und den Namen des Genehmigenden zu enthalten. Ausfertigungen in Form von elektronischen Dokumenten müssen mit einer Amtssignatur (§ 19 E-GovG) versehen sein; Ausfertigungen in Form von Ausdrucken von mit einer Amtssignatur versehenen elektronischen Dokumenten oder von Kopien solcher Ausdrucke brauchen keine weiteren Voraussetzungen zu erfüllen. Sonstige Ausfertigungen haben die Unterschrift des Genehmigenden zu enthalten; an die Stelle dieser Unterschrift kann die Beglaubigung der Kanzlei treten, dass die Ausfertigung mit der Erledigung übereinstimmt und die Erledigung gemäß Abs. 3 genehmigt worden ist. Das Nähere über die Beglaubigung wird durch Verordnung geregelt (vgl. Beglaubigungsverordnung, BGBl. II Nr. 494/1999 in der Fassung BGBl. II Nr. 151/2008). So hat der Verwaltungsgerichtshof etwa ausgeführt, dass, wurde die der Partei ausgehändigte mit „DUPLIKAT“ überschriebene Ausfertigung des Bescheids nicht in Form eines elektronischen Dokuments mit Amtssignatur erstellt, es sich um eine sonstige Ausfertigung im Sinn des § 18 Abs. 4 AVG handelt. Fehlt dieser die erforderliche Unterschrift des Genehmigenden oder die ersatzweise Beglaubigung durch die Kanzlei, liegt kein Bescheid vor (VwGH vom 25.02.2016, Ra 2015/08/0108). Weiters heilt der Erhalt einer Kopie eines Bescheides einen Zustellmangel noch nicht. Die Anfertigung einer Kopie anlässlich einer Akteneinsicht kann nicht die formelle Zustellung des Bescheides bewirken. Der Umstand, dass jemand in den Besitz einer Kopie eines ihm nicht wirksam zugestellten Bescheides kommt, ist von einer Zustellung nach dem ZustG zu unterscheiden (VwGH 29.08.1996, 95/06/0128).
Aus § 18 Abs. 4 AVG sowie aus der angeführten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs ergibt sich demnach, dass die Form der den BF am 15.05.2018 im Rahmen der Identitätsfeststellung (der oben angeführten Akteneinsicht vergleichbar) ausgehändigten „Bescheidkopien“ (jeweils auf jeder Seite mit „KOPIE“ gestempelt, keine elektronische Signatur, die die 2.-BF betreffende Bescheidausfertigung ist gar nicht unterschrieben, die den 1.-BF betreffende Bescheidausfertigung weist eine Unterschrift in Kopie vor) keine Bescheide oder deren tatsächliches Zukommen darstellen. Es ergibt sich eindeutig, dass die auf der Bescheidausfertigung vorhandene Unterschrift (für den Fall, dass keine Amtssignatur vorliegt) eine Original- und keine kopierte Unterschrift sein muss. Andernfalls wäre auch eine ersatzweise Beglaubigung durch die Kanzlei sowie die bestehende Beglaubigungsverordnung sinnwidrig.
Die mit 22.03.2018 datierten „Bescheide“ (Bescheide I.) wurden daher auch am 15.05.2018 weder gegenüber dem 1.-BF noch gegenüber der 2.-BF erlassen.
Somit liegen bis zum heutigen Zeitpunkt - keine wirksam erlassenen/zugestellten erstinstanzlichen Bescheide der belangten Behörde über die Anträge auf internationalen Schutz der BF vor. Dass zwischenzeitlich eine Zustellung erfolgt wäre, wurde durch die belangte Behörde dem BVwG nicht zur Kenntnis gebracht (siehe auch Mail der belangten Behörde vom 17.9.2020 mit Frage über die weitere Vorgangsweise).
Das bedeutet hinsichtlich die Beschwerden betreffend die bescheide II.:
§ 71 AVG betreffend die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lautet:
„(1) Gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung ist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn:
1. die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft, oder
2. die Partei die Rechtsmittelfrist versäumt hat, weil der Bescheid keine Rechtsmittelbelehrung, keine Rechtsmittelfrist oder fälschlich die Angabe enthält, daß kein Rechtsmittel zulässig sei.
(2) Der Antrag auf Wiedereinsetzung muß binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses oder nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit der Berufung Kenntnis erlangt hat, gestellt werden.
(3) Im Fall der Versäumung einer Frist hat die Partei die versäumte Handlung gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag nachzuholen.
(4) Zur Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung ist die Behörde berufen, bei der die versäumte Handlung vorzunehmen war oder die die versäumte Verhandlung angeordnet oder die unrichtige Rechtsmittelbelehrung erteilt hat.
(5) Gegen die Versäumung der Frist zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrages findet keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand statt.
(6) Die Behörde kann dem Antrag auf Wiedereinsetzung aufschiebende Wirkung zuerkennen.
(7) Der Wiedereinsetzungsantrag kann nicht auf Umstände gestützt werden, die die Behörde schon früher für unzureichend befunden hat, um die Verlängerung der versäumten Frist oder die Verlegung der versäumten Verhandlung zu bewilligen.“
Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt voraus, dass eine Rechtshandlung versäumt wurde, hier die Frist zur Erhebung der Beschwerde. Die Frist zur Erhebung kann jedoch nur versäumt werden, wenn sie sich gegen einen tauglichen Anfechtungsgegentand, d.h. einen ordnungsgemäß erlassenen Bescheid richtet. Dies ist aufgrund der oben im Einzelnen dargestellten Überlegungen, die bereits der Begründung des Erkenntnsisses W170 2196955-2 und W170 2196958-2 zu Grunde liegen, zu verneinen, wobei sich sowohl der Hinterlegungsvorgang als auch die spätere Aushändigung der Kopien als als untaugliche Zustellversuche erwiesen.
Da die Bescheide vom 22.03.2018, wie oben ausführlich dargelegt, den BF nicht zugestellt bzw gegenüber diesen nicht erlassen wurden, können sie auch nicht die Grundlage für die ebenfalls angefochtenen Bescheide vom 16.05.2018, mit denen die Wiedereinsetzungsanträge abgewiesen wurden, bilden. Diese – eine wirksame Erlassung der ersten Bescheide voraussetzenden - Bescheide vom 16.05.2018 hätten somit nicht erlassen werden dürfen.
Bei einer Aufhebung eines Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 iVm Abs. 5 VwGVG handelt es sich um eine materielle Erledigung in Form eines Erkenntnisses (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, § 28 VwGVG, Anm. 17; VwGH vom 21.03.2018, 2018/18/0001; vgl. auch VwGH 04.08.2016, Ra 2016/21/0162 sowie 25.3.2015, Ro 2015/12/0003), die von einer Erledigung in Beschlussform nach § 28 Abs. 3 2. Satz und Abs. 4 VwGVG zu unterscheiden ist.
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes setzt die ersatzlose Behebung eines Bescheides voraus, dass dieser nicht hätte ergehen dürfen und der dem materiellen Recht entsprechende Zustand nur durch die Kassation hergestellt werden kann. Dabei handelt es sich um eine "negative" Sachentscheidung (vgl. z.B. Hengstschläger/Leeb, AVG III, § 66 AVG, Rz 97, mwN sowie VwGH vom 28.06.2016, Zl. Ra 2015/17/0082). Eine solche Entscheidung ist eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in der Sache selbst, welche eine neuerliche Entscheidung über den Verfahrensgegenstand durch die Verwaltungsbehörde grundsätzlich ausschließt (vgl. VwGH vom 25.03.2015, Ro 2015/12/0003 sowie Hengstschläger/Leeb, AVG III, § 66 AVG, Rz 108 f). Eine ersatzlose Behebung setzt somit voraus, dass über einen vorliegenden Antrag – hier die Wiedereinsetzungsanträge gegen die Versäumung der Beschwerdefrist gegen die Bescheide I. - nicht (neuerlich) entschieden werden darf (vgl. VwGH 14.12.2010, Zl. 2008/22/0882, 26.02.2015, Zl. Ra 2014/22/0103, vgl. Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht10, Rz 833, mwN).
Die Bescheide II. waren, da sie Wiedereinsetzungsanträge verbunden mit Beschwerden gegen nicht wirksam erlassene Bescheide inhaltlich abweisend erledigten, aus Anlaß der gegen den Bescheid vom 16.5.2018 erhobenen Beschwerden, ersatzlos zu beheben (Spruchpunkt I.).
Zum Spruchpunkt II.:
Die (mit den Wiedereinsetzungsanträgen verbundenen) Beschwerden I. richten sich, da die Bescheide mangels rechtswirksamer Zustellung nicht existent wurden, gegen Erledigungen, die keine tauglichen Anfechtungsgegenstände sind. Dem Bundesverwaltungsgericht fehlt für eine meritorische Entscheidung diesbezüglich daher die Zuständigkeit, weshalb die Beschwerden gegen die nicht wirksam erlassenen Bescheide vom 22.03.2018 als unzulässig zurückzuweisen waren.
Die belangte Behörde wird daher im weiteren Verfahren zunächst eine wirksame Zustellung der Bescheide vom 22.3.2018 (Bescheide I.) zu veranlassen haben.
Zur Unzulässigkeit der Revision:
Die Unzulässigkeit der Revision gründet auf Art 133 Abs 4 B-VG, wobei die der gegenständlichen Entscheidung zu Grunde liegenden Rechtsfragen höchstgerichtlich geklärt bzw einzelfallbezogen und nicht von grundsätzlicher Bedeutung sind.
Schlagworte
Abgabestelle Anfechtungsgegenstand Behebung der Entscheidung Bescheiderlassung Bescheidqualität ersatzlose Behebung Nichtbescheid Unterschrift Wiedereinsetzung Wiedereinsetzungsantrag Wohnsitz Zurückweisung Zustellung Zustellung durch Hinterlegung ZustellwirkungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W274.2196958.1.00Im RIS seit
27.01.2021Zuletzt aktualisiert am
27.01.2021