TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/28 W152 1413359-2

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Veröffentlicht am 28.10.2020
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Entscheidungsdatum

28.10.2020

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs5
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
NAG §81 Abs36

Spruch

W152 1413359-2/15E

W152 1416096-2/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Walter KOPP über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , und 2. XXXX , geb. XXXX , beide StA. Mongolei, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.04.2016, Zl. 791027406-150488081 (ad 1.), und vom 09.04.2018, Zl. 800699810-180341643 (ad 2.), nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.09.2020 zu Recht erkannt:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 58 Abs. 5, 54 Abs. 1 Z 1 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 81 Abs. 36 NAG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt und festgestellt, dass bezüglich des Zweitbeschwerdeführers eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist, wobei XXXX gemäß §§ 58 Abs. 2, 54 Abs. 1 Z 2 und 55 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ erteilt wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

Die Erstbeschwerdeführerin reiste am 26.08.2009 und der Zweitbeschwerdeführer am 08.08.2010 jeweils illegal ins Bundesgebiet ein, wobei die Beschwerdeführer jeweils noch am Tag der Einreise jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz stellten.

Die Asylverfahren der Beschwerdeführer wurden schließlich mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom 12.05.2012, Zl. C16 413.359-1/2010/5E (betreffend Erstbeschwerdeführerin), und vom 28.05.2013, Zl. C10 416.096-1/2010/8E (betreffend Zweitbeschwerdeführer), abgeschlossen, wobei die Beschwerden jeweils gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 und 10 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen wurden.

Die Erstbeschwerdeführerin stellte in weiterer Folge am 11.05.2015 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK („Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens“).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , wies mit Bescheid vom 20.04.2016, Zahl: 791027406-150488081, den Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK vom 11.05.2015 gemäß § 55 AsylG 2005 ab und erließ gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gemäß § 52 Abs. 3 FPG eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt I). Gleichzeitig wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Mongolei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III).

Hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX , vom 09.04.2018, Zahl: 800699810-180341643, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt I) und gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II). Hiebei wurde gleichzeitig gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Mongolei zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V).

Gegen diese Bescheide wurde jeweils fristgerecht Beschwerde erhoben.

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.05.2018, GZ: W152 1416096-2/2Z, wurde der Beschwerde des Zweitbeschwerdeführers gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Feststellungen (Sachverhalt):

Die strafgerichtlich unbescholtenen Beschwerdeführer, Staatsangehörige der Mongolei, leben seit August 2009 (Erstbeschwerdeführerin) bzw. August 2010 (Zweitbeschwerdeführer) – somit seit mehr als 10 Jahren – ohne Unterbrechung im Bundesgebiet.

Die Erstbeschwerdeführerin lebt mit dem Zweitbeschwerdeführer, der seit dem Jahre 1977 ihr Ehegatte ist, in einem gemeinsamen Haushalt in XXXX in Österreich.

Zwei gemeinsame Kinder der Beschwerdeführer leben ebenfalls in Österreich; so lebt die Tochter XXXX , geb. XXXX , StA. Mongolei, mit ihrem Ehegatten XXXX , geb. XXXX , StA. Mongolei, in XXXX , wobei beide jeweils über eine „ROT-WEISS-ROT-KARTE PLUS“ verfügen. Diese Tochter hat mit ihrem Ehegatten zwei gemeinsame Kinder.

Der Sohn der Beschwerdeführer, XXXX , geb. XXXX , StA. Mongolei, ist subsidiär Schutzberechtigter und lebt mit seiner mongolischen Ehegattin, XXXX , geb. XXXX (ebenfalls subsidiär schutzberechtigt), mit der er zwei gemeinsame Kinder hat, in XXXX .

Zu den in Österreich ( XXXX ) lebenden Kindern der Beschwerdeführer und zu den Enkelkindern besteht ein inniges Verhältnis und ein reger Kontakt, wobei die Beschwerdeführer an der Betreuung ihrer Enkel großen Anteil haben.

Weiters lebt eine Nichte der Erstbeschwerdeführerin in XXXX .

Die Eltern der Beschwerdeführer sind bereits verstorben. Die Erstbeschwerdeführerin hat keinen Kontakt mehr zu ihren noch in der Mongolei lebenden Verwandten, wobei der Zweitbeschwerdeführer überhaupt keine Verwandten mehr in der Mongolei hat. Den Beschwerdeführern fehlt es nunmehr an jeglichem Bezug zur Mongolei.

Die Beschwerdeführer haben mehrere Deutschkurse absolviert und verfügen über Deutschkenntnisse, wobei die Erstbeschwerdeführerin bereits am 08.01.2015 das ÖSD Sprachzertifikat Deutsch Niveau A2 erwarb.

Der Zweitbeschwerdeführer verfügt auch über eine Einstellungszusage im Hinblick auf einen von seiner in Österreich lebenden Tochter geführten Restaurantbetrieb „ XXXX “ in XXXX .

Die Beschwerdeführer haben in Österreich auch bereits einen großen Freundeskreis, der auch aus Österreichern besteht, gewonnen.

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 01.09.2020.

Die Feststellungen zu den Beschwerdeführern ergeben sich insbesondere aus den im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung erstatteten glaubwürdigen Vorbringen der Beschwerdeführer, aus dem im Verfahren vorgelegten Reisepass der Erstbeschwerdeführerin und dem Personalausweis des Zweitbeschwerdeführers, aus der – auch im Original vorgelegten – Geburtsurkunde der Erstbeschwerdeführerin, aus der – auch im Original vorgelegten – Heiratsurkunde der Beschwerdeführer, dem ÖSD Sprachzertifikat Deutsch Niveau A 2 vom 08.01.2015 der Erstbeschwerdeführerin, wobei die diesbezügliche ÖSD-Karte auch im Original vorgelegt wurde, einer den Zweitbeschwerdeführer betreffenden Einstellungszusage in einem Restaurantbetrieb, zahlreichen Empfehlungsschreiben für die Beschwerdeführer und den am 27.10.2020 erfolgten Einsichtnahmen in das Strafregister (SA) und den Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister (ZMR) und Fremdenregister.

Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, BGBl. I Nr. 10/2013 (BVwGG), entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I 33/2013 idgF (VwGVG), geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, unberührt.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. 51/1991 (AVG), mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 (BAO), des Agrarverfahrensgesetzes, BGBl. Nr. 173/1950 (AgrVG), und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984, BGBl. Nr. 29/1984 (DVG), und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu Spruchpunkt A):

Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß Abs. 2 eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

Gemäß § 58 Abs. 5 AsylG 2005 sind Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 persönlich beim Bundesamt zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, hat den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen.

§ 9 Abs. 2 BFA-VG idgF lautet:
„(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.       die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.       das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.       die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.       der Grad der Integration,

5.       die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.       die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.       Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.       die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.“

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt.

Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität erreichen. Als Kriterien hiefür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 31110/67, Yb 11, 494(518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde auch von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Art. 8 EMRK macht zwischen ehelicher und nichtehelicher Familie keinen Unterschied (EGMR 13.06.1979, 6833/74, Marckx gg Belgien, Z 31; EGMR 27.10.1994, 18535/91, Kroon und andere gg die Niederlande). Familienleben ist jedoch nicht auf Beziehungen beschränkt, die auf einer Ehe beruhen (EGMR 26.05.1994, 16.969/90, Keegan vs Irland, EGMR 13.07.2000, 25.735/94, Elsholz gg Deutschland) und umfasst daher auch eheähnliche Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau.

Bei der Prüfung der Zulässigkeit von Ausweisungen und dem damit verbundenen Eingriff in das Privat- und Familienleben hat eine Einzelfallprüfung zu erfolgen, die sich nicht in der formelhaften Abwägung iSd Art. 8 EMRK erschöpfen darf, sondern auf die individuelle Lebenssituation des von der Ausweisung Betroffenen eingehen muss. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 29.09.2007, B328/07, dargelegt hat, lassen sich aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes eine Vielzahl von Kriterien ableiten, die bei der gebotenen Interessensabwägung zu beachten sind. Dazu zählen vor allem die Aufenthaltsdauer, die an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft ist (EGMR vom 31.01.2006, 50.435/99), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR vom 28.05.1985, 9214/80, 9473/81, 9474/81 ua.) und dessen Intensität (EGMR vom 02.08.2001, 54.273/00), der Grad der Integration, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schul- oder Berufsausbildung, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (EGMR vom 04.10.2001, 43.359/98 ua.), die Bindung zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.) und die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR vom 24.11.1998, 40.447/98 ua.).

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (VwGH 26.02.2015, Ra 2015/22/0025; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270). Auch in Fällen, in den die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der VwGH eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert (VwGH 16.12.2014, 2012/22/0169; VwGH 09.09.2014,, 2013/22/0247; VwGH 30.07.2014, 2013/22/0226). Im Fall, dass ein isgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der VwGH seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandaufenthalt des Fremden zugrunde (VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082).

Da die strafgerichtlich unbescholtenen Beschwerdeführer bereits seit August 2009 (Erstbeschwerdeführerin) bzw. August 2010 (Zweitbeschwerdeführer) – somit seit mehr als 10 Jahren – ohne Unterbrechung in Österreich leben, wobei ein inniges Verhältnis mit ihren ebenfalls in Österreich ( XXXX ) lebenden Kindern und Enkelkindern mit regem Kontakt besteht und von den Beschwerdeführern auch die Betreuung ihrer Enkel wahrgenommen wird, die Beschwerdeführer Deutschkurse besuchten und die Erstbeschwerdeführerin bereits das Sprachzertifikat A2 erwarb, der Zweitbeschwerdeführer über eine Einstellungszusage verfügt und die Beschwerdeführer bereits auch einen aus Österreichern bestehenden Freundeskreis gewonnen haben, wogegen die Beschwerdeführer keinen Bezug zum Herkunftsstaat (mehr) aufweisen, wobei die Interessen der Beschwerdeführer insbesondere angesichts der bereits sehr langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und der im gegenständlichen Fall besonders hohen Intensität des Familienlebens (von vielen Personen) im Bundesgebiet somit die öffentlichen Interessen überwiegen, wird der Erstbeschwerdeführerin der (beantragte) Aufenthaltstitel aus den Gründen des Art. 8 EMRK erteilt und hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers festgehalten, dass eine Rückkehrentscheidung eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellt, woraus sich ergibt, dass die vorliegenden Umstände nicht bloß vorübergehende sind, weshalb die Rückkehrentscheidung auf Dauer als unzulässig festzustellen ist.

Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

Aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum FrÄG 2015 ergibt sich hiezu, dass damit zusätzlich klargestellt werden soll, dass auch das Bundesverwaltungsgericht – in jeder Verfahrenskonstellation – über einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 absprechen darf. Es handelt sich hiebei jedoch nicht um eine Einräumung einer amtswegigen Entscheidungszuständigkeit für das Bundesverwaltungsgericht, welche entsprechend dem Prüfungsbeschluss des VfGH vom 26. Juni 2014 (E 4/2014) als unzulässig zu betrachten wäre, da die Frage der Erteilung des Aufenthaltstitels diesfalls vom Prüfungsgegenstand einer angefochtenen Rückkehrentscheidung mitumfasst ist und daher in einem zu entscheiden ist.

Die Beschwerdeführer erfüllen somit jedenfalls die Voraussetzung des
§ 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005.

Gemäß § 81 Abs. 36 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) gilt das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG als erfüllt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017 vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren. Die §§ 7 bis 16 Integrationsgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017, mit Ausnahme vom § 13 Abs. 2 traten mit 01.10.2017 in Kraft.

Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung war gemäß § 14a Abs. 4 NAG idF vor dem Bundesgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Deutsch-Integrationskurs besucht und einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über den erfolgreichen Abschluss des Deutsch-Integrationskurses vorlegt (Z 1), einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs. 2 Z 1 NAG vorlegt (Z 2), über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 des Universitätsgesetzes 2002, BGBl. I 120, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3) oder einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte” gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4).

Gemäß § 54 Abs. 1 AsylG 2005 werden Drittstaatsangehörigen folgende Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt:

1. „Aufenthaltsberechtigung plus", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975 berechtigt;

2. „Aufenthaltsberechtigung", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt;

3. „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz", die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.

Gemäß Abs. 2 leg. cit. sind diese Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.

Da die Erstbeschwerdeführerin das Sprachzertifikat A2 bereits am 08.01.2015, somit vor dem maßgeblichen 01.10.2017 erwarb, erfüllt diese (auch) die Voraussetzung gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm § 81 Abs. 36 NAG zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“, weshalb ihr somit gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen ist. Da der Zweitbeschwerdeführer die Voraussetzungen zur Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ nicht erfüllt, war ihm daher gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat den Beschwerdeführern die Aufenthaltstitel gemäß § 58 AsylG 2005 auszufolgen. Die Aufenthaltstitel gelten gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

Zu Spruchpunkt B):

Gemäß § 25a Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985, BGBl. Nr. 1985/10 idgF (VwGG), hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Schließlich liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Hiebei wird einerseits auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf die Eindeutigkeit der Rechtslage und andererseits darauf verwiesen, dass der gegenständliche Fall ohnedies maßgeblich auf der Tatsachenebene zu beurteilen war.

Aufgrund der Deutschkenntnisse der Beschwerdeführer war die Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung iSd § 12 Abs. 1 BFA-VG idgF entbehrlich.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltsdauer Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK Deutschkenntnisse Familienverfahren Integrationsvereinbarung Interessenabwägung Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W152.1413359.2.00

Im RIS seit

27.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

27.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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