TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/4 W185 2154592-3

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Veröffentlicht am 04.11.2020
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Entscheidungsdatum

04.11.2020

Norm

AsylG 2005 §5
BFA-VG §21 Abs3 Satz1
B-VG Art133 Abs4
Dublin III-VO Art17 Abs1
Dublin III-VO Art3 Abs1

Spruch

W185 2154592-3/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gerhard PRÜNSTER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE-Rechtsberatung-Diakonie, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.09.2020, Zl. 1142764502-191169072 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattgegeben, das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz wird zugelassen und der bekämpfte Bescheid wird behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer stellte am 11.02.2017 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Es lagen Eurodac-Treffermeldungen der Kategorie „2“ mit Griechenland (31.01.2016) sowie der Kategorie „1“ mit Deutschland (10.02.2016) vor. Im Zuge eines Konsultationsverfahren stimmte Deutschland der Übernahme des Beschwerdeführers nach Art 18 Abs 1 lit b Dublin III-VO ausdrücklich zu. Der Asylantrag des Beschwerdeführers wurde in der Folge mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) vom 10.04.2017 gemäß § 5 Abs 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und der Beschwerdeführer aus Österreich nach Deutschland ausgewiesen. Die dagegen am 24.04.2017 erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.05.2017 zur Zahl W233 2154592-1/2E abgewiesen. Dieses Verfahren erwuchs am 17.05.2017 in Rechtskraft.

Der Beschwerdeführer wurde nach Deutschland überstellt.

Am 15.11.2019 brachte der Beschwerdeführer den vorliegenden (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz in Österreich (Folgeantrag) ein. Eine EURODAC-Abfrage ergab drei Treffer der Kategorie „1“ und zwar mit Österreich vom 11.02.2017 und mit Deutschland vom 23.05.2017 sowie vom 10.02.2016.

Bei der Erstbefragung am 15.11.2019 gab der Beschwerdeführer vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Wesentlichen an, im Iran geboren und aufgewachsen zu sein. Er könne sich nicht genau erinnern, wann er den Iran verlassen habe; er glaube, er sei 15 oder 16 Jahre alt gewesen. Sein Zielland sei Deutschland gewesen, weil manche Familienmitglieder in Deutschland gelebt haben und er zu diesen gewollt habe. In Österreich würden seine Eltern sowie zwei seiner Brüder leben. Die Genannten seien anerkannte Flüchtlinge. Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, er habe niemanden in Afghanistan. Außerdem habe er keine Religion - jedoch Tattoos - was in Afghanistan nicht toleriert werde. Er würde aufgrund dessen getötet werden. Über seine Asylgründe betreffend den Iran wolle er keine Angaben machen. Er habe sich nach Verlassen des Iran drei bis vier Jahre in der Türkei aufgehalten und sei von dort über Griechenland, Mazedonien nach Deutschland gereist (Aufenthalt ca. ein Jahr und acht Monate). Anschließend sei er ca. drei Monate in Österreich gewesen, dann wieder ca. ein Jahr in Deutschland sowie fünf bis sechs Monate in Frankreich. Von dort sei er über Deutschland wieder nach Österreich gelangt, wo er sich seit ca. drei Monaten aufhalte. Von Österreich sei er nach einem Dublin-Verfahren nach Deutschland abgeschoben worden. Sein Asylantrag in Deutschland sei negativ entschieden worden und habe er eine Abschiebung bekommen. Er sei die meiste Zeit obdachlos und auf sich alleine gestellt gewesen. Er wolle nunmehr in Österreich bleiben.

Das Bundesamt richtete am 20.11.2019 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Deutschland.

Mit Schreiben vom 25.11.2019 stimmte Deutschland dem Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO ausdrücklich zu. Aus dem Schreiben der deutschen Dublin-Behörde ergibt sich, dass der Beschwerdeführer in Deutschland unter den oben angeführten Aliasdaten in Erscheinung getreten ist.

Im Zuge der Einvernahme vor dem Bundesamt am 10.01.2020 gab der Beschwerdeführer, im Beisein einer Rechtsberaterin und nach durchgeführter Rechtsberatung im Wesentlichen an, sich physisch und psychisch in der Lage zu fühlen, die Befragung zu absolvieren. Er habe bisher im Verfahren die Wahrheit gesagt. Während seiner Zeit in Deutschland habe er auf der Straße gelebt; er sei in XXXX acht Monate auf der Straße gewesen. Auf die Frage, wie es ihm gesundheitlich gehe, gab der Beschwerdeführer an, „nicht ganz gesund“ zu sein. Er habe psychische Probleme. Er brauche eine Operation; er könne nicht richtig atmen. Eine Operation in der Türkei habe keine Linderung gebracht. Der Beschwerdeführer legte CT-Bilder des Schädels vor und gab an, er hätte einen Unfall gehabt und habe drei bis vier Mal die Woche starke Kopfschmerzen. Er könne dann keine Adresse finden oder sich orientieren. Es gehe ihm dann sehr schlecht. Wenn es ihm schlecht gehe, dann schimpfe er jeden, egal wer vor ihm stehe. Er sei ein paar Mal beim Arzt gewesen und habe bei „ XXXX “ eine Therapie gemacht. Medikamente nehme er nicht ein. Der Beschwerdeführer nehme jedoch „Stoff und alles Mögliche“. Seine ganze Familie würden als anerkannte Flüchtlinge in Österreich leben. Er lebe mit den angegebenen Familienangehörigen aber nicht in einem gemeinsamen Haushalt. Die Frage, ob er mit den Genannten jemals in einem gemeinsamen Haushalt gelebt habe, verneinte der Beschwerdeführer und gab an, vor vier Jahren, als sie nach Österreich gekommen seien, seien sie gemeinsam für zwei bis drei Monate in einem Heim gewesen; danach sei der Beschwerdeführer nach Deutschland abgeschoben worden. Befragt nach einem finanziellen oder sonstigen Abhängigkeitsverhältnis gab der Beschwerdeführer an: „Ja, wenn ich Geld brauche um Zigaretten oder einen Fahrschein zu kaufen, geben mir mein Vater oder Bruder Geld. Sie geben mir nicht viel Bargeld. Sie kaufen mir es. Sie unterstützen mich. Sie wollen auch, dass wir gemeinsam leben. Sie wollen mir helfen, dass ich mein Leben wiederaufbauen kann“. Über Vorhalt der beabsichtigten Abschiebung nach Deutschland erklärte der Beschwerdeführer, dort seine „Termine nicht wahrnehmen“ und seine Medikamente nicht nehmen zu können. Er habe dort Geld bekommen, welches er jedoch binnen drei Tagen ausgegeben habe. In der Folge habe er dann den ganzen restlichen Monat gehungert. Er wolle damit sagen, dass er sein Leben nicht allein führen könne. Sein Vater und sein Bruder seien nach Deutschland gereist und hätten dort einen Termin mit seinem Vertreter vereinbart. Er habe sehr viel Pech in seinem Leben, immer wieder. Er sei in Deutschland nicht in medizinischer Behandlung gewesen. Er könne seine Sachen nicht selbst ordnen. Er wisse nicht, warum. Befragt, warum er in Deutschland acht Monate auf der Straße gelebt habe, gab der Beschwerdeführer an, die Polizei sei „hinter ihm her gewesen“ und habe ihn nach Afghanistan abschieben wollen. Er habe sich einige Monate bei seinen Freunden versteckt, aber es sei nicht mehr gegangen. Er habe auch kein Geld gehabt.

Eine Ärztin für Allgemeinmedizin mit ÖAK-Diplom für Psychosomatische und Psychotherapeutische Medizin, Psychotherapeutin und Allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Sachverständige kommt in einer beauftragten „Gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren“ vom 16.02.2020 zu dem Ergebnis, dass beim Beschwerdeführer aus aktueller Sicht keine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung, jedoch eine psychische Störung durch psychotrope Substanzen in Form von Heroinabhängigkeit (F11.2), sowie der Verdacht auf multiplen Substanzgebrauch (F19.0) vorliege. An therapeutischen bzw. medizinischen Maßnahmen werde eine eventuelle Aufnahme in das Drogenersatzprogramm oder eine Entzugsbehandlung angeraten, welche in jedem europäischen Land möglich sei. Sofort notwendige Maßnahmen und Behandlungen werden nicht angeführt. Weiters wird ausgeführt, dass eine Verschlechterung bei einer Überstellung nicht auszuschließen sei. Eine akute Suizidalität finde sich derzeit nicht. In der Schlussfolgerung führt die Sachverständige an, es finde sich eine eindeutige und vom Asylwerber auch angegebene Drogenkrankheit. Der Asylwerber sei jedoch kognitiv ausreichend in der Lage, seine Interessen ohne Nachteil für sich wahrzunehmen. Eine Substitutions- oder Entzugsbehandlung könne in jedem europäischen Zielland erfolgen. Eine Operation der Nase scheine derzeit nicht akut angezeigt und könne gegebenenfalls ebenfalls in jedem anderen Land der EU erfolgen.

In einer Stellungnahme des Beschwerdeführers zu diesem Gutachten wird ausgeführt, es könne nicht nachvollzogen werden, wieso die Ärztin zu dem Schluss gelange, dass der Beschwerdeführer kognitiv in der Lage sei, seine Interessen ohne Nachteil für sich wahrzunehmen. Dieser finde kaum Schlaf, sei heroinabhängig, unkonzentriert, seine Stimmung sei schwer gedrückt. In Deutschland habe er sich kaum um seine Angelegenheiten kümmern können und sei obdachlos gewesen. In Österreich habe der Beschwerdeführer nahe Angehörige. Er benötige dringend deren Unterstützung. Außerdem befinde sich der Beschwerdeführer unter anderem wegen seiner Drogenabhängigkeit in Behandlung beim XXXX in XXXX . Aufgrund einer Nasenscheidewandkrümmung sei eine Operation erforderlich. Eine Überstellung und eine Unterbrechung der medizinischen Behandlung und familiären Fürsorge würde den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers gravierend verschlechtern und könnte sich existenzbedrohend auswirken.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 19.02.2020 wurde I. der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 15.11.2019 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Deutschland gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO zur Prüfung des Antrages zuständig ist, sowie II. gemäß § 61 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG dessen Abschiebung nach Deutschland zulässig sei.

Dieser Bescheid legt in seiner Begründung insbesondere auch ausführlich dar, dass in Deutschland die Praxis der asylrechtlichen und subsidiären Schutzgewährung, die Grund- und Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage unbedenklich seien und den Grundsätzen des Unionsrechts genügen.

Die Identität des Beschwerdeführers stehe nicht fest. Der Beschwerdeführer leide an einer psychischen Störung durch psychotrope Substanzen, im konkreten Fall Heroinabhängigkeit (F11.2), und bestehe der Verdacht auf multiplen Substanzgebrauch (F19.0). Des Weiteren leide er an einer Nasenscheidewandverkrümmung. Es könne nicht festgestellt werden, dass sonstige schwere psychische Störungen und/oder schwere oder ansteckende Krankheiten bestünden. Aus medizinischer Sicht spreche nichts gegen eine Rücküberstellung des Beschwerdeführers nach Deutschland. Die Drogenerkrankung sei auch dort behandelbar. Er leide weder an einer schweren körperlichen oder ansteckenden Krankheit, noch an einer psychischen Erkrankung, welche bei einer Überstellung/Abschiebung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würde. Der Beschwerdeführer habe am 10.02.2016 und am 23.05.2017 in Deutschland jeweils einen Asylantrag gestellt. Deutschland habe sich mit Schreiben vom 25.11.2019 gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO zur Führung seines Asylverfahrens für zuständig erklärt. Des Weiteren sei anzumerken, dass der Beschwerdeführer bereits am 19.05.2017 im Rahmen des Dublin-Übereinkommens nach Deutschland abgeschoben worden sei. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich über familiäre Anknüpfungspunkte in Form seines Vaters, seiner Mutter sowie zweier Brüder. Diese seien hier anerkannte Flüchtlinge. Der Beschwerdeführer lebe mit den angeführten Verwandten jedoch nicht im gemeinsamen Haushalt; ein besonderes gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis habe nicht festgestellt werden können. Eine besondere Integrationsverfestigung seiner Person in Österreich bestehe nicht. Auch könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Deutschland systematischen Misshandlungen bzw. Verfolgungen ausgesetzt gewesen sei oder diese dort zu erwarten hätte. Im Übrigen wurde ausgeführt, dass ein vom Beschwerdeführer im besonderen Maße substantiiertes, glaubhaftes Vorbringen betreffend das Vorliegen besonderer, bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, die die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung ernstlich möglich erscheinen lassen würden, im Verfahren nicht hervorgekommen sei. Die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG treffe zu. Die Ausweisung greife auch nicht auf unzulässige Weise in das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz des Familien- und Privatlebens ein.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, in welcher im Wesentlichen vorgebracht wird, dass der Beschwerdeführer an einer akuten Drogensucht leide, welche als Krankheit zu qualifizieren sei. Er sei von Heroin und anderen Substanzen abhängig und somit auf eine Entzugsbehandlung angewiesen. Die sachverständige Ärztin habe in ihrem Gutachten nicht ausschließen können, dass sich der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers im Falle einer Überstellung verschlechtern würde. Auf die Bedeutung der Familie hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers sei im Gutachten nicht eingegangen worden. Bevor der Beschwerdeführer wieder mit seiner Familie vereint worden sei, habe er in Deutschland aufgrund seiner Drogensucht monatelang auf der Straße gelebt, da er nicht in der Lage gewesen wäre, sein Leben selbständig zu regeln. Außerdem hätte er dort versucht, sich das Leben zu nehmen. Es sei nicht nachvollziehbar, wie die Ärztin zu dem Schluss gekommen sei, dass der Beschwerdeführer dennoch kognitiv in der Lage sei, seine Interessen ohne Nachteil für sich wahrzunehmen. Die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers seien bereits anerkannte Flüchtlinge in Österreich. Die Überstellung des Beschwerdeführers nach Deutschland würde die soeben wieder zusammengeführte Familie auseinanderreißen, darüber hinaus wäre die ohnehin prekäre psychische und physische Gesundheit des Beschwerdeführers durch die Überstellung und Trennung seiner Familie und den Verlust des emotionalen Rückhaltes erheblich gefährdet. Entsprechend eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens hätte die belangte Behörde Informationen aus Deutschland einholen müssen, ob besonders vulnerablen Asylwerber eine Substitutionstherapie sowie Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten würden. Der belangten Behörde sei im gegenständlichen Fall auch die fehlende Einholung einer Einzelfallzusicherung vorzuwerfen, zumal es sich beim Beschwerdeführer um eine kranke und vulnerable Person handle. Da im gegenständlichen Fall keine derartigen individuellen Garantien seitens der deutschen Behörden für die Unterbringung und Versorgung des vulnerablen Beschwerdeführers vorlägen, sei das Verfahren mit Mangelhaftigkeit belastet. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK könne mangels entsprechender Informationen nicht ausgeschlossen werden und sei die Überstellung des vulnerablen Beschwerdeführers nach Deutschland demnach unzulässig. Hätte die belangte Behörde ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt, hätte diese zur Erkenntnis gelangen müssen, dass die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art. 17 Dublin III-VO zwingend geboten gewesen wäre.

Am 03.04.2020 langte eine Beschwerdeergänzung ein, der ein klinisch-psychologischer Befundbericht vom 18.03.2020 angeschlossen war. Darin werde die Wichtigkeit der räumlichen Nähe zur Familie des Beschwerdeführers hervorgehoben. Der Beschwerdeführer habe suizidale Gedanken und sei auf sein familiäres Unterstützungsnetzwerk in Österreich angewiesen, welches in Deutschland jedenfalls fehlen würde. Überdies sei dem Befund zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer ausgeprägte Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeige und eine schwere depressive Störung mit suizidalen Gedanken und Handlungen zu beobachten sei. Außerdem würde ein organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntraumen durch Folter und durch Drogenkonsum als wahrscheinlich anzusehen sein. Auch aufgrund der anhaltenden Covid-19-Pandemie sei eine Überstellung nach Deutschland nicht zumutbar.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 06.04.2020, GZ W161 2154592-2/2E, wurde der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 2. Satz BFA-VG stattgegeben und der Bescheid behoben. Begründend wurde ausgeführt, dass das Bundesamt keine Feststellungen zur derzeit bestehenden COVID-19 Pandemie und deren unmittelbaren Auswirkungen (Grenzschließungen, Ausgangssperren) getroffen und sich auch nicht ausreichend damit auseinandergesetzt habe, ob der Beschwerdeführer aufgrund seiner Drogensucht tatsächlich in der Lage sei, seine Angelegenheiten für sich selbst zu regeln. Der Beschwerdeführer sei drogenabhängig und vulnerabel. Seine Kernfamilie lebe in Österreich. Ein Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers nach Art. 3 EMRK bei einer Überstellung nach Deutschland könne nicht ausgeschlossen werden.

In einer weiteren „Gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren“ gelangte die bereits oben angesprochene sachverständige Ärztin am 07.06.2020 zu dem Ergebnis, dass beim Beschwerdeführer aktuell eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung in Form eines hochgradigen Verdachtes auf PTBS (F43.1) sowie eine Opiatabhängigkeit vorlägen; derzeit befinde sich der Beschwerdeführer in einem ärztlich überwachten Substitutionsprogramm. An therapeutischen bzw. medizinischen Maßnahmen werde angeraten, eine Unterbringung an einem ruhigen Ort, aber mit gutem Zugang zur ärztlichen und Apothekenversorgung, sicherzustellen. Eine längerfristige, eventuell auch stationäre Entzugsbehandlung wäre ebenso anzuraten wie eine engmaschige Psychotherapie. Weiters werde Seroquel gegen die gelockerte Impulskontrolle und ein schlafanstoßendes Antidepressivum angeraten. Weiters wird ausgeführt, dass sich der psychische und damit auch der physische Zustand des Beschwerdeführers bei einer Überstellung deutlich verschlechtern würde; eine Suizidhandlung sei nicht ausgeschlossen. Den Schlussfolgerungen der sachverständigen Ärztin kann weiters entnommen werden, dass die Annahme bestehe, dass der Beschwerdeführer im Alter von rund 12 bis 13 Jahren glaubhaft sexuell missbraucht worden sei und darauf mit PTBS reagiert habe. Die Drogenabhängigkeit und der Alkoholkonsum dürfe demnach als Selbstmedikation zur Selbstanästhesierung interpretiert werden. Der Beschwerdeführer gehöre zu einer eindeutig vulnerablen Gruppe. Eine Überstellung erscheine derzeit höchst bedenklich, da auch bereits ein Suizidversuch stattgefunden habe. Die Substitutionsmaßnahmen sollten unbedingt weitergeführt werden.

In einer Stellungnahme vom 22.07.2020 wird zu diesem Gutachten ausgeführt, dass daraus eindeutig hervorgehe, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei. Er sei nämlich auf medizinische Behandlung angewiesen, die ihm in seinem Herkunftsland nicht zur Verfügung stehe. Bereits der Konsum von Alkohol sei in Afghanistan (auch nach dem Fall der Taliban) illegal und werde bestraft. Dem Beschwerdeführer würden daher asylerhebliche Eingriffe in seine körperliche Integrität drohen. Auf eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Alkohol vom 13.03.2018 wurde verwiesen. Der Beschwerdeführer könne seine Drogen- und Alkoholabhängigkeit in Afghanistan aufgrund der schlechten medizinischen Versorgungslage nicht adäquat behandeln lassen. Auch ergebe sich aus den UNHCR Richtlinien vom April 2016, dass Alkohol- und Drogenabhängige mit Beschimpfungen und Bedrohungen zur rechnen hätten bzw. der Gefahr willkürlicher Übergriffe ausgesetzt seien. Auch die Versorgung von Personen mit psychischen Erkrankungen sei in Afghanistan sehr prekär. Bei einer Rückkehr sei ein Rückfall und eine Suizidhandlung nicht auszuschließen. Der Beschwerdeführer gehöre der sozialen Gruppe der allein stehenden psychisch kranken Personen an. Ein familiäres unterstützendes Netzwerk würde dem Beschwerdeführer in Afghanistan fehlen. Dem Asylantrag des Beschwerdeführers sei daher staatzugeben und ihm der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

Mit Schreiben vom 29.07.2020 brachte der Beschwerdeführer eine weitere Stellungnahme zum Gutachten vom 07.06.2020 ein. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass eine sichere und geschützte Lebenssituation Voraussetzung und Grundlage für eine positive Prognose in Bezug auf die Gesundheit und Zukunft des Beschwerdeführers sei. Eine solche wäre in Österreich durch die Unterstützung seiner Familie gewährleistet, während in Deutschland kein familiäres oder sonstiges soziales Unterstützungsnetzwerk bestehen würde. Das Gutachten lege eindeutig dar, dass eine Überstellung des Beschwerdeführers nach Deutschland nicht zumutbar sei, da der Beschwerdeführer unter einer schweren Traumatisierung leide und auf die Weiterführung seiner ärztlich überwachten Substitutionsbehandlung angewiesen sei. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art. 17 Dublin III-VO sei zwingend geboten.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 01.09.2020 wurde I. der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Deutschland gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO zur Prüfung des Antrages zuständig ist, sowie II. gemäß § 61 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG dessen Abschiebung nach Deutschland zulässig sei.

Es bestehe ein hochgradiger Verdacht auf PTBS (F43.1) sowie Opiatabhängigkeit des Beschwerdeführers. Am 14.06.2020 habe sich der Beschwerdeführer einer Nasenoperation unterzogen. Der Beschwerdeführer befinde sich in einem ärztlich überwachten Substitutionsprogramm und sei als vulnerabel anzusehen. Eine stationäre Entzugsbehandlung und eine Psychotherapie seien empfohlen worden. Es könne nicht festgestellt werden, dass sonstige schwere psychische Störungen und/oder schwere oder ansteckende Krankheiten bestünden. Aus medizinischer Sicht spreche nichts gegen eine Rücküberstellung des Beschwerdeführers nach Deutschland. Dieser leide weder an einer schweren körperlichen oder ansteckenden Krankheit, noch an einer psychischen Erkrankung, welche bei einer Überstellung/Abschiebung eine unzumutbare Verschlechterung seines Gesundheitszustandes bewirken würde.

Der Beschwerdeführer habe am 10.02.2016 und am 23.05.2017 in Deutschland jeweils einen Asylantrag gestellt. Deutschland habe sich mit Schreiben vom 25.11.2019 gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO zur Führung seines Asylverfahrens für zuständig erklärt. Der Beschwerdeführer sei am 19.05.2017 im Rahmen des Dublin-Übereinkommens nach Deutschland abgeschoben worden.

Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich über familiäre Anknüpfungspunkte in Form seines Vaters, seiner Mutter sowie zweier Brüder, welche sämtlich anerkannte Flüchtlinge seien. Der Beschwerdeführer lebe mit den angeführten Verwandten nicht im gemeinsamen Haushalt; ein besonderes gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis habe nicht festgestellt werden können. Die Beziehung gehe nicht über ein übliches verwandtschaftliches Maß hinaus. Es sei nicht vom Vorliegen eines iSd Art 8 EMEK schützenswerten Familienlebens auszugehen. Eine besondere Integrationsverfestigung seiner Person in Österreich bestehe nicht. Das Bundesamt traf in der Folge allgemeine Feststellungen zur aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Deutschland systematischen Misshandlungen bzw. Verfolgungen ausgesetzt gewesen sei oder diese dort zu erwarten hätte.

Im Übrigen wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer nicht in eine Risikogruppe betreffend COVID-19 falle. Ein bei einer Überstellung nach Deutschland vorliegendes individuelles „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK sei hierzu nicht erkennbar. Es sei nicht glaubhaft gemacht worden, dass der Beschwerdeführer konkret Gefahr liefe, in Deutschland Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werde oder einer Verletzung von Art. 3 EMRK drohe. Die Versorgung von Asylwerbern in Deutschland sei gewährleistet. In Deutschland sei auch die erforderliche medizinische Versorgung gewährleistet. Es hätten sich auch keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigenden notorischen Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Deutschland ergeben. Die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG treffe zu. Die Ausweisung greife auch nicht auf unzulässige Weise im Sinne von Art. 8 EMRK in das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz des Familien- und Privatlebens ein. Beim Beschwerdeführer liege keine lebensgefährliche Erkrankung vor. Auch ergebe sich kein Hinweis, dass anstehende oder dringliche ärztliche Behandlungen vorliegen würden. Der Beschwerdeführer befinde sich nicht in einem lebensbedrohlichen Zustand. Bei Bedarf seien in Deutschland medizinische Behandlungsmöglichkeiten gewährleistet; dies auch für drogenabhängige Personen und Vulnerable. Die Transportfähigkeit sei gegeben. Der Beschwerdeführer sei kognitiv in der Lage, seine Interessen wahrzunehmen. Der Beschwerdeführer habe sich während des Asylverfahrens und der Pandemie in einer Betreuungsstelle aufgehalten, sodass keine besondere gegenseitige Abhängigkeit mit bzw von seiner Familie bestehe. Die Familie des Beschwerdeführers könne diesen in Deutschland besuchen und auch finanzielle Unterstützung leisten. Unter Einbeziehung des psychischen und physischen Zustandes des Beschwerdeführers stelle eine Überstellung nach Deutschland keine Verletzung des Art. 3 EMRK dar.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und beantragte darin u.a. auch die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung. Es wurde zusammengefasst ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer vor seiner nunmehrigen Einreise nach Österreich in Deutschland aufgehalten habe, dort jedoch nicht in der Lage gewesen sei, sich sein Leben ohne familiäre Unterstützung selbst zu organisieren und daher acht Monate auf der Straße gelebt habe. Es sei in Deutschland zu Suizidversuchen gekommen und der Beschwerdeführer sei deswegen für drei Monate (Anm: gemeint wohl drei Wochen) in eine geschlossene Abteilung einer Psychiatrie eingewiesen worden. In Österreich seien die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers aufhältig. Diese würden den Genannten unterstützen (finanziell, mental, bei der Organisation von Arztterminen und deren Einhaltung etc.). Ohne diese Unterstützung wäre der Beschwerdeführer nicht in der Lage, sein Leben selbst zu regeln. Das intensive Abhängigkeitsverhältnis zu bzw von seinen Angehörigen gehe auch aus dem der Beschwerde angeschlossenen Sozialbericht vom 14.09.2020 hervor. Der Beschwerdeführer sei nunmehr in die Grundversorgung Wien überstellt worden. Eine Überstellung des Beschwerdeführers in die Wohnung der hier aufhältigen Familie sei geplant. Derzeit würden der unbedingt erforderliche psychologische, psychiatrische und medizinisch erhöhte Betreuungsbedarf jedoch noch in einer spezialisierten Betreuungsstelle besorgt. Dem Beschwerdeführer habe bereits ein Substitutions- und ein Gesprächstherapieplatz organisiert werden können. Dem psychologischen Gutachten sei zu entnehmen, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers im Falle einer Überstellung nach Deutschland wesentlich verschlechtern würde. Auf die Bedeutung der Familie hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers sei im Gutachten jedoch nicht eingegangen worden. Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers habe sich in den letzten Monaten weiter verschlechtert - dies sei dem aktuellen psychiatrischen Befund vom 15.09.2020 (Anhang zur Beschwerde) zu entnehmen. Vor dem Hintergrund der Diagnosen (PTBS, Abhängigkeitssyndrom, rezidivierende depressive Störung) bestehe erhöhter Betreuungsbedarf. Überdies seien dem Beschwerdeführer diverse Medikamente verschrieben worden, welche dem beigefügten Medikationsplan entnommen werden könnten (Anm: Mirtabene, Quetiapin). Die Familienangehörigen hätten den Beschwerdeführer - trotz der damals bestehenden Gebietsbeschränkung und der COVID-19 Pandemie - fast täglich besucht. Aus dem psychiatrischen Befund vom 15.09.2020 gehe klar hervor, dass die familiäre Anbindung, die durch einen Verbleib in Wien gewährleistet werden könnte, zur psychischen Stabilisierung des Beschwerdeführers wesentlich beitragen würde. Eine erneute Trennung von der Familie würde dessen psychischen Zustand weiter verschlechtern. Die Vulnerabilität des Beschwerdeführers sei bereits vom Bundesverwaltungsgericht im Erkenntnis vom 06.04.2020 bestätigt worden. Das Bundesamt hätte im vorliegenden Fall eine Einzelfallzusicherung betreffend Unterbringung und Versorgung einholen müssen. Überdies seien die Auswirkungen der steigenden Infektionszahlen von COVID-19 auf die deutsche Einreisepolitik und die Unterbringung von besonders vulnerablen Asylwerben nicht absehbar. Aufgrund der besonderen Vulnerabilität des Beschwerdeführers sei die Überstellung nach Deutschland auszusetzen und Österreich habe vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen.

Mit Schreiben vom 21.09.2020 brachte der Beschwerdeführer eine Beschwerdeergänzung ein. Der Beschwerdeführer befinde sich seit 14.09.2020 in medizinischen und psychosozialer Behandlung in der integrativen Suchtberatung „ XXXX “. Das Vorbringen in der Beschwerde, wonach der Beschwerdeführer in Deutschland sein Leben ohne seine Familie nicht selbständig organisieren habe könne und es dort zu einem Suizidversuch gekommen sei, würden nun durch das vorgelegte ärztliche Attest und die Dokumente der deutschen Klinik, in welche der Beschwerdeführer eingewiesen worden sei, des Sozialamtes in Deutschland und eines deutschen Polizeipräsidiums, belegt. Auf die Beschwerdeergänzung aus dem Vorverfahren vom 03.04.2020 wurde verweisen, da diese im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.04.2020 keine Berücksichtigung gefunden habe.

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.09.2020, GZ W185 2154592-3/5Z, wurde der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Begründend wurde ausgeführt, dass im vorliegenden Fall ohne nähere Prüfung des Sachverhaltes nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers eine reale Gefahr der Verletzung von Bestimmungen der EMRK bedeuten würde.

Am 28.10.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht der „Abschlussbericht“ einer Klinik in Deutschland betreffend den stationären Aufenthalt des Beschwerdeführers im Zeitraum vom 25.08.2018 bis 17.09.2018 (Beschwerdeergänzung) ein. Bereits in der Beschwerde vom 16.09.2020 sei auf den prekären psychischen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers während dessen Aufenthalt in Deutschland hingewiesen worden. Der stationäre Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung der genannten Klinik werde durch den nunmehr vorgelegten Bericht bestätigt. Aus dem Bericht ergeben sich folgende Diagnosen:

-        Anpassungsstörungen (F43.2)

-        Schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden (F12.1)

-        Aggressivität (F91.1)

-        Sonstige dissoziative Störungen; Konversionsstörungen (F44.88)

Zwei Wochen der Unterbringung seien richterlich erfolgt. Medikation bei Entlassung: Fol Lichtenstein 5mg, Magnesium Verla N, Omeprazol 20mg, Quentiax 25mg und Sweatosan Tab.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer, ein volljähriger Staatsangehöriger aus Afghanistan, stellte insgesamt zwei Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Zum Asylantrag vom 11.02.2017 ist eine rechtskräftig negative Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergangen. Der Beschwerdeführer wurde am 19.05.2017 nach Deutschland überstellt.

Während seines Aufenthalts in Deutschland wurde der Beschwerdeführer nach einem Suizidversuch behördlich in eine Psychiatrische Klinik eingewiesen und befand sich dort im Zeitraum vom 25.08.2018 bis 17.09.2018 in stationärer Behandlung.

In weiterer Folge gelangte dieser erneut illegal in das Bundesgebiet und stellte hier am 15.11.2019 seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Deutschland stimmte dem Wiederaufnahmeersuchen Österreichs gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO ausdrücklich zu.

Den Beschwerdeführer betreffend liegen folgende sachverständige bzw fachärztliche Stellungnahmen/Befunde vor:

Abschlussbericht einer Psychiatrischen Klinik in Deutschland aus 2018

Gutachterliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren vom 16.02.2020

Klinisch-psychologischer Befundbericht vom 18.03.2020

Gutachterliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren vom 07.06.2020

Sozialbericht der Diakonie vom 14.09.2020

Psychiatrischer Befund vom 15.09.2020

Es wurden den Beschwerdeführer betreffend folgende Diagnosen gestellt:

-        Anpassungsstörungen (F43.2);

-        Schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden (F12.1);

-        Aggressivität (F91.1);

-        Sonstige dissoziative Störungen; Konversionsstörungen (F44.88);

-        psychische Störung durch psychotrope Substanzen in Form von Heroinabhängigkeit (F11.2), Verdacht auf multiplen Substanzgebrauch (F19.0);

-        ausgeprägte Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung; schwere depressive Störung mit suizidalen Gedanken und Handlungen; organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntraumen durch Folter und durch Drogenkonsum;

-        hochgradiger Verdacht auf PTBS (F43.1), Opiatabhängigkeit mit multiplen Substanzgebrauch;

-        Abhängigkeitssyndrom, rezidivierende depressive Störung;

Dem Beschwerdeführer wurden folgende Medikamente verordnet bzw angeraten:

-        Omeprazol

-        Quentiax/Quetiapin

-        Mirtabene

-        Sweatosan

-        Seroquel

Der Beschwerdeführer nimmt derzeit an einem ärztlich überwachten Substitutionsprogramm teil (Methadon). Er befindet sich in medizinischer und psychosozialer Behandlung und benötigt ein stabiles (familiäres) Umfeld (siehe weiter unten).

Der Beschwerdeführer wohnt zurzeit in einem speziellen Heim der Diakonie, wo sein erhöhter Betreuungsbedarf und permanenter Zugang zu klinischen Psychologen sichergestellt ist.

In Österreich leben die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers als anerkannte Flüchtlinge. Diese unterstützen den Beschwerdeführer im täglichen Leben, etwa dadurch, dass sie Arzttermine organisiert, auf die Einhaltung dieser Termine achtet, den Beschwerdeführer zu den Einvernahmen vor dem Bundesamt begleitete und die Verlegung des Beschwerdeführers in ein Heim nach Wien organisierte. Es finden regelmäßige (wechselseitige) Besuche statt. In weitere Zukunft plant die Familie des Beschwerdeführers, diesen bei sich aufzunehmen.

2. Beweiswürdigung:

Die festgestellten Tatsachen hinsichtlich der Vorverfahren des Beschwerdeführers ergeben sich aus den vorliegenden Verwaltungsakten.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers basieren auf den oben angeführten, unbedenklichen medizinischen Stellungnahmen/Befunden. Die Feststellungen zum Suizidversuch des Beschwerdeführers in Deutschland, der Einweisung in eine psychiatrische Klinik und des dreiwöchigen stationären Aufenthalts, ergeben sich aus den diesbezüglichen Unterlagen aus Deutschland aus dem Jahr 2018.

Die Feststellungen zur persönlichen und familiären Situation des Beschwerdeführers ergeben sich aus der Aktenlage, insbesondere aus den Angaben vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und der Beschwerdeergänzung sowie den vorgelegten ärztlichen Schreiben.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idgF, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt. In Asylverfahren tritt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl an die Stelle des Bundesasylamtes (vgl § 75 Abs. 18 AsylG 2005 idF BGBGl I 2013/144).

§ 16 Abs. 6 und § 18 Abs. 7 BFA-VG bestimmen für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, dass §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden sind.

Zu A) Stattgebung der Beschwerde:

Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) lauten:

„§ 5 (1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuwiesen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzuhalten, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des § 9 Abs. 2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde.

(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.“

Die maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) lauten:

Art. 3 Abs. 1:

„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaats-angehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“

Art. 17:

„Ermessensklauseln:

(1) Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Er unterrichtet gegebenenfalls über das elektronische Kommunikationsnetz DubliNet, das gemäß Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 eingerichtet worden ist, den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.

Der Mitgliedstaat, der nach Maßgabe dieses Absatzes zuständig wird, teilt diese Tatsache unverzüglich über Eurodac nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 mit, indem er den Zeitpunkt über die erfolgte Entscheidung zur Prüfung des Antrags anfügt.

(2) Der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat kann, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Artikeln 8 bis 11 und 16 nicht zuständig ist. Die betroffenen Personen müssen dem schriftlich zustimmen.

Das Aufnahmegesuch umfasst alle Unterlagen, über die der ersuchende Mitgliedstaat verfügt, um dem ersuchten Mitgliedstaat die Beurteilung des Falles zu ermöglichen.

Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt alle erforderlichen Überprüfungen vor, um zu prüfen, dass die angeführten humanitären Gründe vorliegen, und antwortet dem ersuchenden Mitgliedstaat über das elektronische Kommunikationsnetz DubliNet, das gemäß Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 eingerichtet wurde, innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Gesuchs. Eine Ablehnung des Gesuchs ist zu begründen.

Gibt der ersuchte Mitgliedstaat dem Gesuch statt, so wird ihm die Zuständigkeit für die Antragsprüfung übertragen.“

§ 21 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idgF lautet:

„§ 21 (3) Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.“

Im gegenständlichen Verfahren ging das Bundesamt unter Zugrundelegung der Ergebnisse der Ermittlungsverfahren zunächst zutreffend davon aus, dass gemäß den Bestimmungen der Dublin III-VO Deutschland zur Prüfung des in Rede stehenden Antrages des auf internationalen Schutz zuständig ist. Deutschland hat der Aufnahme des Beschwerdeführers auch ausdrücklich zugestimmt. Dennoch wäre im konkreten Einzelfall der Selbsteintritt Österreichs geboten gewesen. Dies aufgrund folgender Erwägungen:

Zu dem im vorliegenden Fall gebotenen Selbsteintritts Österreichs:

Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Dublin III-VO wird ein Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Art. 7 bis 15) der Dublin III-VO bestimmt wird. Ungeachtet dessen sieht Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO die Möglichkeit des Selbsteintritts eines Mitgliedstaates vor, auch wenn dieser nach den Kriterien der Dublin III-VO nicht für die Prüfung zuständig ist.

Da Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO keine inhaltlichen Vorgaben beinhaltet, liegt es primär an den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und im Ermessen des einzelnen Mitgliedstaates, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Selbsteintritt erfolgt (aus jüngster Zeit: VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0192ua, mit Hinweis auf Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Art. 17 K2).

Auch der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 10.12.2013, Rechtssache C-394/12, Abdullahi, festgehalten, dass Art. 3 Abs. 2 (sogenannte Souveränitätsklausel) und Art. 15 Abs. 1 (humanitäre Klausel) der Verordnung Nr. 343/2003 (diese entsprechen nunmehr Art. 17 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 Unterabsatz 1 der Dublin III-VO) "die Prärogativen der Mitgliedstaaten wahren" sollen, "das Recht auf Asylgewährung unabhängig von dem Mitgliedstaat auszuüben, der nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien für die Prüfung eines Antrags zuständig ist. Da es sich dabei um fakultative Bestimmungen handelt, räumen sie den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen ein" (vgl. Rn. 57, mwN).

Nach der Rechtsprechung des VfGH (zB VfGH 17.06.2005, B 336/05; 15.10.2004, G 237/03) und des VwGH (zB VwGH 18.11.2015, Ra 2014/18/0139; 17.11.2015, Ra 2015/01/0114, 02.12.2014, Ra 2014/18/0100, 15.12.2015, Ra 2015/18/0192ua) macht die grundrechtskonforme Interpretation des AsylG 2005 eine Bedachtnahme auf die – in Österreich in Verfassungsrang stehenden – Bestimmungen der EMRK notwendig und es ist aus innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Gründen das Selbsteintrittsrecht zwingend auszuüben, sollte die innerstaatliche Überprüfung der Auswirkungen einer Überstellung ergeben, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers bedroht wären.

Zwar ist dem Bundesamt insofern zuzustimmen, dass die Erkrankungen des Beschwerdeführers per se nicht aktuell lebensbedrohlich sind und auch grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten (Substitution, psychologisch/psychiatrische Betreuung) im zuständigen Mitgliedstaat bestehen. Dennoch erscheint es fallgegenständlich sinnvoll und angezeigt, vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

Wie sich aus den zahlreichen Befunden/Arztschreiben, welche zum Teil von einem Zeitpunkt nach der Erstellung der gutachterliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren vom 07.06.2020 und auch nach Bescheiderlassung datieren (14.09.2020, 15.09.2020), ergibt, liegen beim Beschwerdeführer schwere psychische Erkrankungen unter anderem in Form einer Posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1), einer psychischen Verhaltensstörung durch Opioide, eines Abhängigkeitssyndroms (F11.2) und einer rezidivierenden depressiven Störung (gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, F33.2), vor. In Deutschland wurde der Beschwerdeführer nach einem Suizidversuch nach dem Unterbringungsgesetz in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und dort 3 Wochen stationär behandelt.

Der Beschwerdeführer ist aufgrund seines gesundheitlichen Zustands als besonders vulnerabel anzusehen.

Der Beschwerdeführer wird medikamentös behandelt, befindet sich zurzeit in sozialpsychiatrischer Behandlung und nimmt zudem an einem ärztlich begleiteten Substitutionsprogramm teil. Er lebt in einem Heim der Diakonie, in welchem er stets Zugang zu ausgebildeten klinischen Psychologen hat. Die Familie des Beschwerdeführers, welche ebenfalls in Wien aufhältig ist, besucht diesen regelmäßig und bietet dem Beschwerdeführer ein stabiles soziales Umfeld und trägt so einen wichtigen Teil zur psychischen Stabilisierung des Beschwerdeführers bei (siehe FA-Schreiben vom 15.09.2020).

Zwar hat die Behörde ihrer Entscheidung die (zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden) Diagnosen den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers betreffend im Wesentlichen korrekt wiedergegeben, in weiterer Folge jedoch die sich daraus ergebenden ärztlichen Schlussfolgerungen und Einschätzungen falsch interpretiert bzw ignoriert.

So hat eine Klinische- und Gesundheitspsychologin und Psychotherapeutin nach einer Untersuchung des Beschwerdeführers am 18.03.2020 ausgeführt, dass die anhaltende Unsicherheit seiner Lebenssituation sowie jede weitere Zwangsmaßnahme (Anm: gemeint wohl eine Abschiebung) und die damit verbundene Unterbrechung der dringendst notwendigen fachärztlichen und psychologischen Betreuung als weitere traumatische Erfahrung mit wahrscheinlicher Retraumatisierung anzusehen wäre. Als große Unterstützung sei die räumliche Nähe der Familie des Beschwerdeführers anzusehen.

Eine sachverständige Ärztin für Allgemeinmedizin kommt in ihrer „Gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren“ vom 07.06.2020 zu dem Schluss, dass eine Überstellung des Beschwerdeführers höchst bedenklich erscheine, zumal bereits ein Suizidversuch stattgefunden habe und die Substitutionsmaßnahmen unbedingt weitergeführt werden sollten. Eine Unterbringung an einem ruhigen Ort mit gutem Zugang zur ärztlichen und Apothekenversorgung, eine längerfristige, eventuell auch stationäre Entzugsbehandlung und eine engmaschige Psychotherapie würden dringend angeraten. Ausgeführt wurde weiters, dass sich der psychische und damit auch der physische Zustand bei einer Überstellung deutlich verschlechtern würden und auch eine Suizidhandlung nicht ausgeschlossen werden könne (AS 529f).

Einem Sozialbericht der Diakonie vom 14.09.2020 ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer als vulnerabel anzusehen sei und in jeglicher Hinsicht Unterstützung, benötige, welche er sowohl in der Unterkunft der Diakonie als auch von der gesamten Familie, welche in Wien lebe, erhalte.

In einem psychiatrischen Befund vom 15.09.2020 wird festgehalten, dass zur Stabilisierung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers eine langfristige fachspezifische Behandlung und intensive psychosoziale Unterstützung notwendig seien. Die familiäre Anbindung, die durch einen Verbleib in Wien gewährleistet werden könnte, würde zur psychischen Stabilisierung beitragen. Eine Trennung von seiner Familie würde den psychischen Zustand des Beschwerdeführers weiter verschlechtern. Bei einer drohenden Abschiebung müsse ggf. auch mit akuter Suizidalität gerechnet werden.

Zwar ist, wie auch die Behörde festgestellt hat, grundsätzlich eine medizinische bzw psychiatrische Behandlung des Beschwerdeführers auch in Deutschland möglich, jedoch ist im speziellen Einzelfall zu berücksichtigen, dass die gesamte „Kernfamilie“ des Beschwerdeführers in Wien aufhältig ist und der Genannte, wie die Fachleute übereinstimmend festgestellt haben, wesentlich auf deren Unterstützung angewiesen ist. Alle oben zit Ärzte bzw Psychologen sprechen sich fallgegenständlich demnach auch einheitlich und klar gegen eine Abschiebung und für einen Verbleib des Beschwerdeführers in Österreich, und somit in einem stabilen familiären Umfeld, aus.

Nach dem Gesagten erscheint es infolge der Konstellation aus dem Vorliegen schwerer psychischer Erkrankungen in Zusammenschau mit der als essentiell erachteten vorliegenden familiären Nahebeziehung zu der sich rechtmäßig in Österreich aufhältigen Familie - im Rahmen der „Ermessensklausel“ des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO im konkreten Einzelfall angezeigt, vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

Eine mündliche Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 6a und 7 BFA-VG unterbleiben, zumal sämtliche verfahrenswesentliche Abklärungen, insbesondere aber der gesundheitliche Zustand des Beschwerdeführers, eindeutig aus den vorliegenden Verwaltungsakten beantwortet werden konnten.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Drogenabhängigkeit Dublin III-VO familiäre Situation Gesundheitszustand Pandemie psychische Erkrankung psychische Störung Selbsteintrittsrecht Überstellungsrisiko Zulassungsverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W185.2154592.3.01

Im RIS seit

27.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

27.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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