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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch die Entscheidung einer weiblichen Richterin des BVwG über die Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz eines männlichen Staatsangehörigen von Afghanistan bei behauptetem Eingriff in die sexuelle SelbstbestimmungSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist ein am 1. Jänner 1999 geborener, afghanischer Staatsangehöriger, welcher der Volksgruppe der Hazara angehört und schiitischer Moslem ist. Er stellte am 10. Mai 2015 als unbegleiteter Minderjähriger in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 16. Jänner 2017, wo der Beschwerdeführer von einer Organwalterin befragt wurde, gab er an, seine Familie sei von Paschtunen bedroht worden, die Anhänger der Taliban gewesen seien. Sein Bruder und er seien von den Taliban mehrmals "komisch angefasst" und aufgefordert worden, mit ihnen mitzugehen. Sein Bruder sei auf der Flucht vor den Taliban in einen Brunnen gestürzt und gestorben. Danach sei der Beschwerdeführer von den Taliban aufgefordert worden, für sie zu kämpfen. Sie hätten seinen Vater bedroht und den Beschwerdeführer entführen und missbrauchen wollen.
2. Mit Bescheid vom 2. März 2017 wies das BFA den Antrag gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab. Es erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 und §55 AsylG 2005, erließ gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG, stellte gemäß §25 Abs9 FPG fest, dass die Abschiebung gemäß §46 FPG nach Afghanistan zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
3. Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde von einer (Einzel-)Richterin geführt. In der mündlichen Verhandlung brachte der Beschwerdeführer vor: "Die Talibankämpfer haben uns immer wieder besucht, sie wollten mich mitnehmen und mich in eine abgelegene Gegend bringen, wo sich eine Moschee befunden hat. In der Nähe der Moschee gab es keine Häuser und lebten auch nicht viele Menschen. Sie wollten mich mitnehmen, um mich zu missbrauchen (Bacha-Bazi). Sie haben meinen Vater geschlagen. Mit einer Kalaschnikow. Sie haben auf meinen Vater mit den Gewehrkolben eingeschlagen. Und sie haben meinen Vater bedroht, dass sie mich herausgeben sollen, oder sie würden meinen Vater umbringen und niemand würde etwas erfahren" (Protokoll vom 26. Juli 2018, S 14). Der Vorfall habe sich einen Monat vor der Ausreise des Beschwerdeführers ereignet, als er dreizehn Jahre alt gewesen sei.
Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde ab. Es führte aus, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung habe glaubhaft machen können. Vor dem Hintergrund der im Erkenntnis wiedergegebenen Länderberichte zur Situation von "Bacha Bazi" (Tanzjungen) in Afghanistan führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass "entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers […] ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht mit wesentlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr [droht], Opfer eines sexuellen Missbrauchs zu werden, da er mit nunmehr einundzwanzig Jahren, Bartwuchs und männlichem Auftreten nicht mehr zu der als Bacha Bazi bevorzugten Personengruppe gehört. Darüber hinaus wirkt das gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers, insbesondere auch betreffend Bacha Bazi […] konstruiert und unsubstantiiert".
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, Gegenschrift hat es keine erstattet.
II. Rechtslage
1. §20 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 68/2013, lautet:
"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung
§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.
(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §25 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013."
2. §6 der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes für das Geschäftsverteilungsjahr vom 1. Februar 2020 bis 31. Jänner 2021 (im Folgenden: GV 2020) lautet auszugsweise:
"1. TEIL:
ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN
[…]
2. Abschnitt:
Richterinnen und Richter des Bundesverwaltungsgerichtes
[…]
§6. Unzuständigkeit
(1) Eine Richterin oder ein Richter ist im Sinne dieser Geschäftsverteilung unzuständig, wenn
1. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache auf Grund gesetzlicher Bestimmungen nicht zugewiesen hätte werden dürfen;
2. sie oder er als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender in der betreffenden Rechtssache nach §6 VwGVG iVm. §7 AVG befangen ist; in diesem Fall hat sich die Richterin oder der Richter unter Anzeige an den Präsidenten und bei Richterinnen und Richtern einer Außenstelle (§§16 bis 18) bei gleichzeitiger Mitteilung an die Leiterin oder den Leiter der Außenstelle in der betreffenden Rechtssache der weiteren Ausübung des Amtes zu enthalten (§27);
3. ihr/ihm zwei oder mehrere Rechtssachen zwar ursprünglich zu Recht zugewiesen worden sind, sich nachträglich aber durch die Zuweisung einer weiteren Rechtssache ergibt, dass sie im Sinne des §34 Abs4 AsylG 2005 mit dieser weiteren Rechtssache unter einem zu führen sind;
4. sie oder er wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 für die betreffende Rechtssache nicht zuständig ist;
5. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache nach den Bestimmungen der jeweils bei der Zuweisung geltenden Geschäftsverteilung nicht zugewiesen hätte werden dürfen (zB wegen Annexität).
(2) Ist eine Richterin oder ein Richter als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender eines Senates in einer Rechtssache wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 unzuständig und wird aus diesem Grund diese Rechtssache erneut zugewiesen, so verliert sie oder er damit gleichzeitig auch die Zuständigkeit für alle Rechtssachen, die zu dieser Rechtssache annex sind oder zu denen diese Rechtssache annex ist.
(3) Die Wahrnehmung der Unzuständigkeit der Richterinnen und Richter und das weitere Verfahren richten sich nach den diesbezüglichen Bestimmungen der Geschäftsordnung des Bundesverwaltungsgerichtes."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, normiert §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt (vgl VfSlg 20.260/2018; vgl auch bereits VfGH 25.11.2013, U1121/2012).
3.2. Der Beschwerdeführer hat bereits in seiner Einvernahme vor der Verwaltungsbehörde – was das Bundesverwaltungsgericht verkennt – nicht bloß abstrakt und ohne jegliche Konkretisierung die Befürchtung des sexuellen Missbrauchs seiner Person vorgebracht, sondern konkrete Belästigungen geschildert und darauf aufbauend Befürchtungen hinsichtlich künftigen sexuellen Missbrauchs geäußert (vgl VfSlg 20.260/2018; VfGH 26.2.2019, E2425-2430/2018). Er hat somit einerseits erfolgte und andererseits drohende (VfSlg 20.260/2018 und VfGH 18.9.2015, E1003/2014) Eingriffe in sein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung im Sinne des §20 Abs2 AsylG 2005 behauptet. Es ist aus den Akten auch nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer über die in §20 Abs1 AsylG 2005 eingeräumte Möglichkeit in Kenntnis gesetzt wurde, durch einen Organwalter desselben Geschlechts einvernommen zu werden, oder er anderes verlangt hätte. Daraus ergibt sich, dass in dieser Sache ein männlicher Richter hätte verhandeln müssen (§20 Abs2 AsylG 2005; vgl VfSlg 19.739/2013).
3.3. Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer, wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung festhält, bereits einundzwanzig Jahre alt ist und er nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf Grund seines Alters und männlichen Erscheinungsbildes nicht mehr Gefahr laufe, in Afghanistan als "Tanzjunge" sexuell missbraucht zu werden. Auch durch diese rechtliche Bewertung wird die durch die Behauptung des Eingriffes in die sexuelle Selbstbestimmung begründete Zuständigkeit nach §20 Abs2 AsylG 2005 nicht beseitigt, hat doch – wie der Verfassungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat – bei der Begründung der Zuständigkeit nach §20 Abs2 AsylG 2005 keine Prüfung der Glaubwürdigkeit oder eines Zusammenhanges mit dem konkreten Fluchtvorbringen zu erfolgen (VfSlg 19.671/2012; s. auch VfGH 9.10.2018, E1297-1301/2018, und VfSlg 20.260/2018).
3.4. Der Beschwerdeführer wurde daher in seinem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) verletzt.
IV. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Schlagworte
Asylrecht, Gericht Zusammensetzung, BundesverwaltungsgerichtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:E1414.2020Zuletzt aktualisiert am
27.01.2021