RS Vfgh 2020/12/11 G264/2019 (G264/2019-16)

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Veröffentlicht am 11.12.2020
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Index

14/02 Gerichtsorganisation

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
ASGG §89 Abs4
GSVG §76 Abs3 Z1
ASVG §196, §354
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verstoß einer Bestimmung des ASGG gegen das Rechtsstaatsprinzip mangels Möglichkeit des Arbeits- und Sozialgerichtes, die Höhe der Rückersatzpflicht von empfangenen Versicherungsleistungen zu mindern

Rechtssatz

Verfassungswidrigkeit der Wortfolgen "nach §65 Abs1 Z2 oder" sowie "Rückersatz- oder" und "Rück(" und das Zeichen ")" in §89 Abs4 ASGG idF BGBl 104/1985. Inkrafttreten der Aufhebung mit Ablauf des 31.12.2021. Im Übrigen: Zurückweisung des Antrags auf Aufhebung des §76 GSVG idF BGBl I 2/2015.

Die bescheidmäßig erfolgte Anordnung zur Rückzahlung empfangener Versicherungsleistungen durch den Versicherungsträger enthält bereits implizit auch den Abspruch, dass die Voraussetzungen eines Rückforderungsverzichts nach §76 Abs3 Z1 GSVG, der dem Sozialversicherungsträger ins pflichtgemäße Ermessen gestellt ist, nicht vorliegen bzw dass das eingeräumte Ermessen nicht zu Gunsten des Versicherten gehandhabt werde. Auch die Klage des Antragstellers wendet sich gegen die auferlegte Pflicht zur Rückzahlung insgesamt (und macht auch Verzichtbarkeit im konkreten Fall geltend), weshalb es nicht zutrifft, dass die Frage der Verzichtbarkeit auf den Rückforderungsanspruch von vornherein nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien sein könnte. Zulässigkeit des Hauptantrags gegen §89 Abs4 ASGG: Dieser Bestimmung ist nach der stRsp des OGH die Anordnung immanent, dass den Arbeits- und Sozialgerichten die Anwendung der Verzichtsregelung des §76 Abs3 Z1 GSVG verwehrt sei. Der VfGH hat daher dieses Verständnis des §89 Abs4 ASGG zugrunde zu legen.

Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip:

§354 Z2 ASVG zählt die "Feststellung der Verpflichtung zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung" zu den Leistungssachen, ohne den Verzicht auf die Rückforderung hievon auszunehmen. Angesichts der inneren Verbundenheit dieser Angelegenheiten kann dem Gesetzgeber daher nicht unterstellt werden, dass der Verzicht auf die Rückforderung zu Unrecht empfangener Leistungen nicht unter §354 Z2 ASVG fällt, sondern den "Verwaltungssachen" (§355 ASVG) zuzurechnen ist. Im Hinblick auf diese Grundsatzentscheidung des ASVG, die für sich genommen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, setzt die Verfassungsmäßigkeit der Ausgestaltung der sukzessiven Kompetenz der ordentlichen Gerichte in Rückforderungsangelegenheiten voraus, dass den ordentlichen Gerichten im Rahmen ihrer Entscheidung über Rückforderungsansprüche auch die Kognition über den gänzlichen oder teilweisen Verzicht nach §76 Abs3 Z1 GSVG offensteht.

Den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips genügt §89 Abs4 ASGG nicht, denn er belastet den vor den Arbeits- und Sozialgerichten Rechtschutzsuchenden in rechtsstaatswidriger Weise einseitig mit dem Rechtschutzrisiko, weil dem Arbeits- und Sozialgericht nur noch eine vollumfängliche Auferlegung der Rückersatzpflicht oder die vollumfängliche Verneinung dieser eingeräumt ist, ohne die Rückersatzpflicht bei Vorliegen der Voraussetzungen des §76 Abs3 Z1 GSVG in einer dem Vorgehen des Sozialversicherungsträgers entsprechenden Weise mindern zu können.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Gericht Organisation, Arbeits- u Sozialgerichtsbarkeit, Rechtsstaatsprinzip, Kompetenz sukzessive, VfGH / Parteiantrag, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Verwerfungsumfang, VfGH / Fristsetzung, Rechtsschutz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:G264.2019

Zuletzt aktualisiert am

06.04.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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