Entscheidungsdatum
17.09.2020Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W116 2167775-2/4E
W116 2167781-2/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Mario DRAGONI als Einzelrichter über die Beschwerden 1.) des XXXX , geb. XXXX , und 2.) der XXXX , geb. XXXX , beide StA. Syrien, gegen Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.07.2020, Zlen. 1.) 1092495201-200192212 und 2.) 1092495506-200192310, zu Recht erkannt:
A)
Den Beschwerden wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und 1.) dem XXXX und 2.) der XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1.) dem XXXX und 2.) der XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1.1. Der Erstbeschwerdeführer und seine Ehefrau, die Zweitbeschwerdeführerin, sind syrische Staatsangehörige, Araber und sunnitische Moslems. Sie haben nach illegaler Einreise am 27.10.2015 ihre ersten Anträge auf internationalen Schutz gestellt.
1.2. Mit den Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.07.2017 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurden den Beschwerdeführern der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 27.07.2018 erteilt (Spruchpunkt III.). Diese wurde zuletzt mit den Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2018 bis zum 27.07.2020 verlängert.
1.3. Die dagegen fristgerecht erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.12.2017, W211 2167775-1/7E und W211 2167781-1/7E, gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
1.4. Am 19.02.2020 stellten die Beschwerdeführer ihre zweiten, nunmehr gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Im Zuge der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung gab der Erstbeschwerdeführer zur Begründung seines neuerlichen Asylantrags im Wesentlichen an, dass er auf seinem Handy Nachrichten mit Todesdrohungen seitens der syrischen Behörden erhalten habe. Sie hätten ihm geschrieben, dass sie Fotos von Demonstrationen, auf welchen er zu sehen sei, hätten. Wegen seiner Teilnahme an Demonstrationen würden sie ihn holen, egal wo er sich aufhalte. Der letzten Nachricht der syrischen Behörde vom 29.01.2020 sei zu entnehmen, dass ihr Ziel der Tod des Erstbeschwerdeführers und seiner Familie sei. Außerdem sei sein Bruder in Syrien vom Geheimdienst besucht bzw. bedroht worden und mehrere Freunde von ihm seien getötet worden. Zu seinen Rückkehrbefürchtungen teilte er mit, dass er Angst vor dem Tod habe. Diese Fluchtgründe seien seit Jänner 2020 bekannt.
Die Zweitbeschwerdeführerin gab im Rahmen ihrer Erstbefragung an, dass sie, ihr Mann und ihr Sohn von dem syrischen Geheimdienst mit dem Tod bedroht worden seien. Mehrere Arbeitskollegen ihres Mannes seien trotz einer Abmachung mit der syrischen Regierung getötet worden. Sie bekomme seit Dezember 2019 bzw. Jänner und Februar 2020 auf Facebook Freundschaftsanfragen von Personen, die sie nicht kenne. Zu ihren Rückkehrbefürchtungen teilte sie mit, dass sie Angst um ihr Leben und das Leben ihres Sohnes und ihres Mannes habe. Diese Fluchtgründe seien seit Dezember 2019, Jänner und Februar 2020 bekannt. Zudem fügte sie als gesetzliche Vertreterin ihres Sohnes hinzu, dass dieser seit der Geburt in ihrer Begleitung bzw. Obhut sei und keine eigenen Fluchtgründe habe. Für den Sohn würden daher die von ihr angegebenen Fluchtgründe gelten.
1.5. Am 28.05.2020 wurden die Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache niederschriftlich einvernommen. Dabei wiederholte der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen sein Vorbringen vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und legte unter anderem ein Konvolut von Facebook- und WhatsApp-Konversationen als Beweismittel vor. Er behauptete, Anfang 2011 in Syrien vier bis fünf Mal bei Demonstrationen gegen das syrische Regime dabei gewesen zu sein, was er in seinem Erstverfahren bereits angegeben habe. Jetzt werde er verfolgt und bedroht, weil er in Österreich an mehreren Demonstrationen teilgenommen habe, bei denen er fotografiert und gefilmt worden sei. Seinem in Syrien lebenden Bruder seien Fotos von ihm und seiner Familie gezeigt worden und der Bruder sei gefragt worden, ob er ihn, den Erstbeschwerdeführer, kenne. Seitdem habe er keinen Kontakt mehr zu seinem Bruder. Insgesamt habe er seit November 2018 an zehn Demonstrationen in Wien teilgenommen, wobei die letzte Demonstration am 26.01.2020 gewesen sei. Er nehme regelmäßig an Seminaren der „Koordination der Syrischen Revolution in Österreich“ teil, in denen über die Situation in Syrien bzw. gegen das Regime diskutiert werde. Außerdem würde er sich an Hilfsprojekten für Syrien beteiligen, indem er an eine private Gruppe Hilfsgüter spende. Er habe auch Nachrichten auf WhatsApp erhalten, durch die er und seine Familie mit dem Tod bedroht worden seien, welche er als Beweismittel vorgelegt habe. Ergänzend gab er an, dass die Lage in Daraa schlecht sei. Assads Regierungstruppen seien dort und die Militärs hätten Wohnungen, darunter auch seine Wohnung, requiriert. Auf Vorhalt, dass er seit Kenntnis der Bedrohung keinerlei Anzeigen bezüglich einer Straftat bei der Polizei eingebracht habe, vermeinte der Erstbeschwerdeführer, dass er nicht bedacht habe, dass es ein Anruf aus Österreich mit einer syrischen Nummer gewesen sein könnte. Im Falle einer Rückkehr würde er sofort festgenommen und aufgehängt werden, da jeder, der gegen das Assad-Regime sei, als Verbrecher gelte und getötet werde.
Die Zweitbeschwerdeführerin gab im Zuge ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl an, dass sie kein Mitglied einer Partei gewesen sei, jedoch an Demonstrationen teilgenommen und auf Facebook und Twitter unter falaschen Namen gegen das Assad-Regime geschrieben habe. Sie habe fünf Facebook-Accounts mit verschiedenen Namen gehabt, welche gesperrt worden seien. Diese politischen Tätigkeiten hätten in der Zeit stattgefunden, als sie in Syrien gewesen sei, wobei sie von 2013 bis 2015, in den letzten Jahren ihres Aufenthaltes in Syrien, aus Angst um ihre Familie weniger geschrieben habe und weniger aktiv gewesen sei. Außerdem sei sie in Syrien zwischen 2011 und 2015 ständig wegen ihres sunnitisch-muslimischen Glaubens von iranischen Schiiten bei Kontrollpunkten bedroht worden. Konkret zu ihren Gründen für die Folgeantragsstellung befragt, gab sie im Wesentlichen an, dass sie seit 01.11.2018 bzw. seitdem sie in Wien leben würden, an 90 % der Demonstrationen gegen das syrische Regime teilgenommen hätten. Es habe auch viele Sitzungen gegeben, in denen gegen das Regime diskutiert worden sei. Gegen Ende Jänner 2020 hätten die Drohungen gegen sie und ihren Mann begonnen. Die Drohungen gegenüber ihrem Mann würden auch sie und ihr Kind betreffen. Sie habe auf Facebook mehrere Freundschaftsanfragen bekommen, welche mit Fotos von Assad und der syrischen Flagge versehen gewesen seien. Bezüglich ihres Sohnes wiederholte die Zweitbeschwerdeführerin, dass dieser keine eigenen Fluchtgründe habe und ersuchte, dessen Verfahren auf das Verfahren ihres Mannes und ihr Verfahren zu beziehen. Ergänzend gab sie an, dass sie persönlich im Bundesgebiet niemals bedroht worden sei, jedoch ihr Mann. In diesem Zusammenhang gab sie den vom Erstbeschwerdeführer erwähnten Vorfall mit dessen Bruder in Syrien wieder. Im Falle einer Rückkehr werde sie festgenommen werden. Im Zuge der Rückübersetzung gab die Zweitbeschwerdeführerin zusätzlich an, dass sie im Jahr 2015 in Österreich eine Nachricht über Messenger mit einer Drohung erhalten habe und dass auf Facebook drei verschiedene Seiten mit ihrem Namen und ihren Fotos erstellt worden seien. Dies hätten sie der Polizei und einem Gericht in Linz gemeldet, welche jedoch nichts gemacht hätten. Aus diesem Grund hätten sie kein Vertrauen zu den österreichischen Behörden bzw. der Polizei und hätten keine Anzeige gemacht.
2. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl:
2.1. Mit den Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.07.2020, am 17.07.2020 durch Hinterlegung zugestellt, wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), und hinsichtlich des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt II.).
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl traf herkunftsstaatsbezogene Feststellungen zur allgemeinen Lage in Syrien, stellte die Identitäten der Beschwerdeführer fest und begründete im angefochtenen Bescheid die abweisende Entscheidung im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführer persönlich unglaubwürdig seien und ihr Vorbringen vollkommen vage und lebensfremd sei. So seien ihre Kenntnisse über die von ihnen angegebene politische Organisation, bei welcher sie sich angeblich engagieren würden, äußerst rudimentär und habe der Erstbeschwerdeführer ausdrücklich verneint, dass er Mitglied dieser Organisation sei. Sie seien letztendlich nur in der Lage gewesen anzugeben, dass sie an Demonstrationen teilnehmen würden und Syrien durch finanzielle, humanitäre Hilfe unterstützen würden. Solche Unterstützungsleistungen würden jedoch selbst bei hypothetischer Wahrunterstellung nicht zu einer solchen vehementen Verfolgung durch die syrischen Behörden führen. Weiters hielt die belangte Behörde fest, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin in Bezug auf die Gründe, warum sie nicht bei ihren politischen Mitstreitern hinsichtlich ihrer Bedrohungslage um Rat, Hilfe oder Beistand gesucht hätten, vollkommen abweichende Angaben getätigt hätten. In diesem Zusammenhang sei äußerst fragwürdig, dass der Erstbeschwerdeführer nach seinen eigenen Angaben seinen engsten politischen Mitstreitern nicht vertrauen könne. Insoweit der Erstbeschwerdeführer seinen Folgeantrag auf die herrschende Lage in Daraa begründet habe, könne dies nicht zur Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten führen und sei diesen Behauptungen mit der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten bereits in einem Vorverfahren Rechnung getragen worden.
Sowohl den Feststellungen zur Person des Erstbeschwerdeführers als auch jenen zur Person der Zweitbeschwerdeführerin ist zu entnehmen, dass sie persönlich unglaubwürdig seien. Begründend wurde dazu zusammengefasst ausgeführt, dass die Beschwerdeführer weder in der Lage gewesen seien, glaubhaft darzulegen, woher sie wissen würden, dass es sich bei den angeblichen Drohschreiben um Schreiben von syrischen Behörden oder vom syrischen Geheimdienst handeln solle, noch hätten sie in Bezug auf die angebliche Nachricht des Bruders des Erstbeschwerdeführers erklären können, woraus sie schließen würden, dass der Geheimdienst bei dem Bruder in Syrien vorstellig geworden wäre. Selbst bei einer hypothetischen Wahrunterstellung wäre der allgemeinen Erfahrung der Behörde betreffend die Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes und der zahlreichen Schilderungen von syrischen Flüchtlingen zufolge, davon auszugehen, dass der Bruder des Erstbeschwerdeführers sofort festgenommen worden und einer peinlichen Befragung unterzogen worden wäre, da das syrische Regime Angehörigen von Regimegegnern oppositionelle Gesinnung unterstelle. Außerdem wäre von einer Normperson in einer solchen Lage wohl zu erwarten gewesen, dass sie mit der Möglichkeit des Zugriffs durch syrische Kräfte auch im Bundesgebiet rechnen und angesichts der Bedrohungslage für ihre Familie und sich selbst bei Behörden im Bundesgebiet Schutz suchen würde. Dies hätten die Beschwerdeführer jedoch nicht getan bzw. hätten sie in diesem Zusammenhang divergierende Angaben getätigt. Der Zweitbeschwerdeführerin wurde zudem vorgehalten, dass bei der von ihr vorgegebenen Bedrohungslage zu erwarten sei, dass sie genauestens über den Inhalt der Drohungen und der Berichte ihres Schwagers informiert sei, weshalb nicht nachzuvollziehen sei, dass sie sich an Details nach lediglich zwei Monaten nicht mehr genau erinnere. Ebenso seien die Behauptungen des Erstbeschwerdeführers zu den Kontaktversuchen zu seinem Bruder nicht glaubhaft. Er habe angegeben, dass er mehrfach versucht hätte, seinen Bruder telefonisch und per WhatsApp zu erreichen, jedoch hätten nach der Einsicht in die Daten seines Mobiltelefons keine Kontaktversuche zu der von ihm behaupteten Telefonnummer seines Bruders festgestellt werden können. Schlussendlich hätten die Beschwerdeführer – entgegen ihrer Angaben – in ihrem Vorverfahren nicht erwähnt, dass sie bereits in Syrien an Demonstrationen teilgenommen hätten bzw. wegen ihres sunnitisch-muslimischen Glaubens verfolgt worden seien.
2.2. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG vom 09.07.2020 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
2.3. Gegen den oben genannten Bescheid wurde seitens des Vereines Menschenrechte Österreich mit Schreiben vom 31.07.2020 fristgerecht eine Beschwerde erhoben, welche sich ausschließlich gegen Spruchpunkt I. richtet und am 31.07.2020 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einlangte. In dieser wurde neben einer Wiederholung des bisherigen Verfahrensganges und Fluchtvorbringens zusammenfassend im Wesentlichen ausgeführt, dass gemäß den „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“, vom November 2015, Personen, die tatsächlich oder auch nur vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen oder diese unterstützen würden, zu Risikoprofilen gehören und aus politischen Gründen verfolgt werden würden. Durch die Teilnahme an Demonstrationen gegen die Regierung hätten die Beschwerdeführer der Regierung verdeutlicht, dass sie die Opposition unterstützen würden. Außerdem seien die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien allein aufgrund der Asylantragstellung in Österreich einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Auch aufgrund des Umstandes, dass der Erstbeschwerdeführer aus der Stadt Daraa stamme, welche bekanntermaßen gegen die Regierung gewesen sei, und der Tatsache, dass die Beschwerdeführer an Demonstrationen gegen die Regierung teilgenommen hätten, was auch im oppositionellen Fernsehen ausgestrahlt worden sei, sei davon auszugehen, dass sie im Falle einer Rückkehr nach Syrien besonders die Aufmerksamkeit der syrischen Behörden erwecken würden. Die belangte Behörde hätte somit zum Ergebnis kommen müssen, dass den Beschwerdeführern der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen sei.
3. Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht:
Die gegenständliche Beschwerde und die Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt und sind am 14.08.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Entscheidungswesentlicher Sachverhalt:
Auf Grundlage der gegenständlichen, nunmehr zweiten Asylanträge der Beschwerdeführer vom 19.02.2020, ihrer diesbezüglichen Einvernahmen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der gemeinsamen Beschwerde gegen die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der von den Beschwerdeführern vorgelegten Dokumente und der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Syrien und Angehörige der arabischen Volksgruppe. Sie bekennen sich zum sunnitisch/moslemischen Glauben und stammen aus Daraa, einem ehemals von Regierungstruppen und Rebellenmilizen umkämpftes Gebiet im Süden Syriens. Im Juli 2018 haben die in der Stadt verbliebenen Rebellen Daraa aufgegeben und die syrische Armee ist darin einmarschiert.
Die Beschwerdeführer haben Syrien mit ihrem minderjährigen Sohn im Oktober 2015 legal von ihrem Wohnort aus über die Grenze zum Libanon verlassen und sind schließlich nach Österreich gelangt, wo sie am 27.10.2015 ihre ersten Anträge auf internationalen Schutz gestellt haben. Diese wurden mit den Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.07.2017 hinsichtlich des Status der Asylberechtigten abgewiesen und die dagegen fristgerecht erhobenen Beschwerden wurden vom Bundesverwaltungsgericht abgewiesen. Am 19.02.2020 haben die Beschwerdeführer die gegenständlichen, nunmehr zweiten Asylanträge gestellt.
Festgestellt wird, dass es den Länderberichten zufolge an der syrischen Grenze zu einer Befragung von erfolglosen Asylwerbern kommt, wobei die Rückkehrer über Gründe ihrer (illegalen) Ausreise, über den Aufenthaltszweck und u.U. auch nach politischen Aktivitäten im Ausland gefragt werden. Bei der „Sicherheitsprüfung“ an den Grenzübergangsstellen wird bekanntlich überprüft, ob ein Rückkehrer Syrien gesetzeswidrig verlassen hat. Personen, deren Profil irgendeinen Verdacht erregt, sind dem Risiko einer längeren Haft und Folter ausgesetzt.
Die Beschwerdeführer haben im Bundesgebiet wiederholt an regimefeindlichen Demonstrationen und sonstigen Veranstaltungen gegen das syrische Regime teilgenommen. Fotos und Videos, auf denen der Erstbeschwerdeführer und seine Familie bei solchen Demonstrationen zu sehen ist, wurden veröffentlicht und ist damit zu rechnen, dass sie damit auch dem syrischen Regime bekannt sind. Gerade solche Aktivitäten sind aber durchaus geeignet, die Beschwerdeführer in das Blickfeld der syrischen Behörden zu rücken. Wie sich aus den Länderberichten nämlich eindeutig ergibt, werden die Aktivitäten syrischer Staatsbürger im Ausland von den syrischen Behörden aufmerksam beobachtet. Bekanntlich muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, exilpolitische Tätigkeiten auszuspähen und darüber zu berichten (AA 13.11.2018; vgl. ÖB 7.2019). Weiters ist im März 2018 auf einer oppositionsnahen Nachrichtenseite eine Datenbank mit 1,5 Mio. Namen erschienen, die vom syrischen Regime mit Haftbefehl gesucht werden sollen und die nach eigener Darstellung auf zugespielten vertraulichen Dokumenten der syrischen Sicherheitsbehörden basiert. Medienberichten zufolge haben sich viele syrische Flüchtlinge darauf mit korrekten Angaben wiedergefunden, darunter Namen, Geburtsdatum bis hin zu den Namen der Großeltern (vgl. deutsches Auswärtiges Amt vom 13.11.2018 zur Lage in Syrien).
Den Beschwerdeführern droht bei einer Rückkehr nach Syrien die reale Gefahr, dass ihnen auch aufgrund ihrer Herkunft aus der ehemals umkämpften Region Daraa von der syrischen Regierung eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und sie als Oppositionelle verfolgt, festgenommen, gefoltert oder gar hingerichtet werden und daher der Gefahr erheblicher Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wären. Davon abgesehen ist auch ihre Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam durchaus geeignet, die Beschwerdeführer zum Ziel von Verfolgungen zu machen. Der bewaffnete Konflikt wurde nämlich zunehmend konfessionell und sunnitische Zivilisten sind weiterhin das Hauptziel der Regimetruppen und von Pro-Regime-Milizen.
Eine hinsichtlich des Reiseweges zumutbare und legale Rückkehr nach Syrien ist im Grunde genommen nur über Gebiete oder Flughäfen möglich, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, sodass die Beschwerdeführer bei einer Einreise Gefahr laufen, festgenommen zu werden. Für nach Syrien zurückkehrende, abgelehnte Asylwerber besteht im Allgemeinen bei der Ankunft die reale Gefahr, aufgrund einer angenommenen politischen Gesinnung inhaftiert zu werden, und in der Folge schweren Misshandlungen ausgesetzt zu sein (UK Home 8.2016). Die Sicherheitsorgane haben am Flughafen freie Hand, und es gibt keine Schutzmechanismen, wenn eine Person verdächtigt und deswegen misshandelt wird. Es kann passieren, dass die Person sofort inhaftiert und dabei Opfer von Verschwindenlassen oder Folter wird.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
„Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung
Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für Täter vorsieht. Nichtsdestotrotz wenden die Sicherheitskräfte in Tausenden Fällen solche Praktiken an (USDOS 13.3.2019). Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet (HRW 18.1.2018; vgl. AI 22.2.2018, USDOS 13.3.2019, AA 13.11.2018). Sie richten sich von Seiten der Regierung insbesondere gegen Oppositionelle oder Menschen, die vom Regime als oppositionell wahrgenommen werden (AA 13.11.2018).
NGOs berichten glaubhaft, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlung, Bestrafung und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten begehen (USDOS 13.3.2019; vgl. TWP 23.12.2018). Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Frauen, Männern und Minderjährigen sind weit verbreitet. Die Regierung soll hierbei auch auf Personen abzielen, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden (USDOS 13.3.2019). Es sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen Familienmitglieder wegen der als regierungsfeindlich wahrgenommenen Tätigkeit von Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden, auch wenn die als regierungsfeindlich wahrgenommenen Personen ins Ausland geflüchtet waren (AA 13.11.2018; vgl. AI 22.2.2018).
Systematische Folter und die Bedingungen in den Haftanstalten führen häufig zum Tod der Insassen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Diese Bedingungen waren so durchgängig, dass die UN Commission of Inquiry zu dem Schluss kam, diese seien Regierungspolitik. Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festhalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) an unbekannten Orten fest (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 13.11.2018, SHRC 24.1.2019). Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dafür dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken (MOFANL 7.2019).
In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen. Selten wird ein Häftling freigelassen. Unschuldige bleiben oft in Haft, um Geldsummen für ihre Freilassung zu erpressen oder um sie im Zuge eines „Freilassungsabkommens“ auszutauschen (SHRC 24.1.2019).
Seit Sommer 2018 werden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde, wenn auch unter Angabe wenig glaubwürdiger amtlich festgestellter natürlicher Todesursachen (Herzinfarkt, etc.). Berichte von ehemaligen Insassen sowie Menschenrechtsorganisationen benennen als häufigste Todesursachen Folter, Krankheit als Folge mangelnder Ernährung und Hygiene in den Einrichtungen und außergerichtliche Tötung (AA 13.11.2018; vgl. SHRC 24.1.2019). Die syrische Regierung übergibt die Überreste der Verstorbenen nicht an die Familien (HRW 17.1.2019).
Mit Stand Dezember 2018 ist der Verbleib von 100.000 syrischen Gefangenen noch immer unbekannt. Laut Menschenrechtsgruppen und den Vereinten Nationen sind wahrscheinlich Tausende, wenn nicht Zehntausende davon umgekommen (TWP 23.12.2018).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind jedoch keine Neuerung der Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 24.1.2019).
Russland, der Iran und die Türkei haben im Zusammenhang mit den Astana-Verhandlungen wiederholt zugesagt, sich um die Missstände bezüglich willkürlicher Verhaftungen und Verschwindenlassen zu kümmern. Im Dezember 2017 gründeten sie eine Arbeitsgruppe zu Inhaftierungen und Entführungen im syrischen Konflikt, es waren bisher jedoch nur geringe Fortschritte zu verzeichnen (HRW 17.1.2019).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen und der Folter von Inhaftierten beschuldigt (FH 1.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Opfer sind vor allem (vermutete) regierungstreue Personen und Mitglieder von Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Zu den Bedingungen in den Hafteinrichtungen der verschiedenen regierungsfeindlichen Gruppen ist wenig bekannt, NGOs berichten von willkürlichen Verhaftungen, Folter und unmenschlicher Behandlung. Der IS bestrafte häufig Opfer in der Öffentlichkeit und zwang Bewohner, darunter auch Kinder, Hinrichtungen und Amputationen mitanzusehen. Es gibt Berichte zu Steinigungen und Misshandlungen von Frauen. Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) werden systematische Misshandlungen von Gefangenen der Freien Syrischen Armee (FSA) und der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vorgeworfen. Berichtet werden auch Folter und Tötungen von Gefangenen durch den IS (USDOS 13.3.2019).
Quellen:
- AA - Deutsches Auswärtiges Amt (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges- amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-
2018.pdf, Zugriff 10.12.2018
- AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/2018 - The State of the Wolrd’s Human Rights - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/1425112.html. Zugriff 12.12.2018
- FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 - Syria.
https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2018/syria. Zugriff 12.12.2018
- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Syria. https://www.ecoi.net/en/ document/1422595.html. Zugriff 12.12.2018
- HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Annual report on the human rights situation in 2018 - Syrian Arab Republic. https://www.ecoi.net/en/document/2002172.htm l. Zugriff 29.1.2019
- MOFANL - Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands - Department for Country of Origin Information Reports (7.2019): Country of Origin Information Report Syria - The security situation. per E-Mail am 27.8.2019
- SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018. http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf. Zugriff 31.1.2019
- TWP - The Washington Post (23.12.2018): Syria’s once teeming prison cells being emptied by
mass murder. https://www.washingtonpost.com/graphics/2018/world/svria-bodies/?
noredirect=on&utm term=.6a8815bb3721. Zugriff 14.2.2019
- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Syria. https://www.ecoi.net/en/document/2004226.htm I . Zugriff 19.3.2019
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von 18 oder 21 Monaten gesetzlich verpflichtend. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten (CIA 3.4.2019; vgl. AA 13.11.2018, FIS 14.12.2018). Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palestinian Liberation Army (PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018). Auch Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Erreichen des 42. Lebensjahres in den aktiven Dienst einberufen werden. Vor dem Ausbruch des Konflikts bestand der Reservedienst im Allgemeinen nur aus mehreren Wochen oder Monaten Ausbildung zur Auffrischung der Fähigkeiten, und die Regierung berief Reservisten nur selten ein. Seit 2011 hat sich das jedoch geändert. Es liegen außerdem einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr schwierig zu sagen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird. Männer können ihren Dienst-/Reservedienststatus bei der Militärbehörde überprüfen. Die meisten tun dies jedoch nur auf informellem Weg, um zu vermeiden, sofort rekrutiert zu werden (BFA 8.2017).
Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Militärbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit, oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (BFA 8.2017).
Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen (TIMEP 6.12.2018).
Aktuell ist ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints weit verbreitet. In der Praxis wurde die Altersgrenze erhöht und auch Männer in ihren späten 40ern und frühen 50ern sind gezwungen Wehr-/Reservedienst zu leisten. Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab, als vom allgemeinen Gesetz. Dem Experten zufolge würden jedoch jüngere Männer genauer überwacht, ältere könnten leichter der Rekrutierung entgehen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis 27 ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden, bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können. Ebenso wurden seit Ausbruch des Konflikts aktive Soldaten auch nach Erfüllung der Wehrpflicht nicht aus dem Wehrdienst entlassen (ÖB 7.2019).
Die Militärpolizei verhaftet in Gebieten unter der Kontrolle der Regierung junge Männer, die für den Wehrdienst gesucht werden. Nachdem die meisten fixen Sicherheitsbarrieren innerhalb der Städte aufgelöst wurden, patrouilliert nun die Militärpolizei durch die Straßen. Diese Patrouillen stoppen junge Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln und durchsuchen Wohnungen von gesuchten Personen (SHRC 24.1.2019). Es gab in der Vergangenheit Fälle, in denen Familienmitglieder von Wehrdienstverweigerern oder Deserteuren Vergeltungsmaßnahmen wie Unterdrucksetzung und Inhaftierung ausgesetzt waren (TIMEP 6.12.2018).
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten haben und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in SYP leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2000 USD oder das Äquivalent in SYP nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet. Außerdem kann basierend auf einem Beschluss des Finanzministers das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Person, die sich weigert den Betrag zu bezahlen, konfisziert werden (SANA 8.11.2017; vgl. SLJ 10.11.2017, PAR 15.11.2017).
Quellen:
- AA - Deutsches Auswärtiges Amt (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges- amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 10.12.2018
- BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 13.12.2018
- CIA - Central Intelligence Agency (3.4.2019): The World Factbook: Syria - Military and Security, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/sy.html. Zugriff 6.4.2019
- FIS - Finnish Immigration Service (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact- finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf. Zugriff 1.2.2019
- ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus (7.2019): Asylländerbericht Syrien 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2014213/SYRI_ÖB+Bericht_2019_07.pdf. Zugriff 19.8.2019
- PAR - Webseite des Parlaments der Arabischen Republik Syrien (15.11.2017): /35/ ^ij jjjläJII2007/ ^l*J /30/ (vijj^l^JI pl*JI http://parliament.gov.sy/arabic/index.php?node=201 &nid=18681&RID=-1&Last=10262&First=0&CurrentPage=0&Vld=-1&Mode=&Service=- 1 &Loc1 =&Key1 =&SDate=&EDate=&Year=&Country=&Num=&Dep=-1 &, Zugriff 7.12.2017
- SANA - Syrian Arab News Agency (8.11.2017): jj— JA jl*ii jjjli ßj. ^*^Jl ÄJJ Ä^AUJI SJJJJ ÄJJAJI ^UJl J—^Jl ^JJ J^IJ iuJjNi i. ojl’xill http://www.sana.sy/?p=656572, Zugriff 15.1.2019
- SHRC - Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf. Zugriff 31.1.2019
- SLJ - Syrian Law Journal [Twitter] (10.11.2017): Kurznachricht vom 10.11.2017 08:37, https://twitter.com/syrian_law/status/929025146429624320. Zugriff 15.1.2019
- TIMEP - The Tahrir Institute for Middle East Policy (6.12.2018): TIMEP Brief: Legislative Decree No. 18: Military Service Amnesty.
https://timep.org/wp-content/uploads/2018/12/LegislativeDecree18SyriaLawBrief2018-FINAL12-6-18a.pdf. Zugriff 19.2.2019
Befreiung und Aufschub
Der einzige Sohn einer Familie. Studenten oder Regierungsangestellte können vom Wehrdienst befreit werden oder diesen aufschieben. Auch medizinische Gründe können Befreiung oder Aufschub bedingen. Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert. In der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Es scheint, dass es schwieriger wird, einen Aufschub zu erlangen, je länger der Konflikt andauert (BFA 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (BFA 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).
Seit einer Änderung des Gesetzes über den verpflichtenden Wehrdienst im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich. Zudem kann die Aufschiebung durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB 7.2019).
Unbestätigte Berichte legen nahe, dass der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit über den Wegfall von Aufschubgründen informiert ist und diese auch digital überprüft werden. Zuvor mussten Studenten den Status ihres Studiums selbst dem Militär melden, mittlerweile wird der Status der Studenten jedoch aktiv überprüft. Generell werden Universitäten nun strenger überwacht und von diesen wird nun verlangt, dass sie das Militär über die Anwesenheit bzw. Abwesenheiten der Studenten informieren (BFA 8.2017). Einem Bericht zufolge gibt es nun in Bezug auf ein Studium als Befreiungsgrund auch Altersgrenzen für den Abschluss des Studiums. Ein weiterer Bericht gibt an, dass gelegentlich Studenten trotz einer Befreiung bei Checkpoints rekrutiert wurden (FIS 14.12.2018).
Syrische Männer mit Wohnsitz und Aufenthaltserlaubnis im Ausland können sich gegen Zahlung eines „Wehrersatzgeldes“ vom Wehrdienst befreien lassen. Laut Wehrpflichtgesetz Art. 46 von 2012 beträgt diese Zahlung je nach Wohnort zwischen 4.000 und 5.000 USD. Gemäß Gesetz Nr. 33 vom August 2014 müssen bei einem Auslandsaufenthalt von über vier Jahren 8.000 USD bezahlt werden. Für im Ausland geborene und weiterhin wohnhafte Syrer im wehrpflichtigen Alter beträgt diese Zahlung 2.500 USD. Es ist jedoch nicht bekannt, ob dies auch für syrische Männer gilt, die seit Beginn des Bürgerkriegs ins Ausland geflüchtet sind (AA 13.11.2018).
Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt, im Zuge des aktuellen Konfliktes - manchmal sogar Jahre danach - trotzdem eingezogen zu werden (BFA 8.2017).
Christliche und muslimische religiöse Führer können weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit werden, wobei muslimische Führer dafür eine Abgabe bezahlen müssen (USDOS 21.6.2019). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern der religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht und die Mitglieder der Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen (FIS 14.12.2018).
Von Staatsangestellten wird erwartet, dass sie dem Staat zur Verfügung stehen. Laut Legislativdekret Nr. 33 von 2014 wird das Dienstverhältnis von Staatsangestellten beendet, wenn sie sich der Einberufung zum Wehr- oder Reservedienst entziehen (BFA 8.2017). Hierzu gab es Ende 2016 ein Dekret, welches jedoch nicht umfassend durchgesetzt wurde. Im November 2017 gab es eine erneute Direktive des Premierministers, der bereits eine nicht bekannte Anzahl von Entlassungen folgte (SD 7.12.2017).
Quellen:
- AA - Deutsches Auswärtiges Amt (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 10.12.2018
- BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf. Zugriff 13.12.2018
- DRC/DIS - Danish Refugee Council/ The Danish Immigration Service (8.2017): Syria, Recruitment Practices in Government-controlled Areas and in Areas under Opposition Control, Involvement of Public Servants and Civilians in the Armed Conflict and Issues Related to Exiting Syria, https://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/7AF66D4A-5407-4B98-9750- 7B16318EF188/0/SvrienFFMrapportaugust2017.pdf. Zugriff 1.2.2019
- FIS - Finnish Immigration Service (23.8.2016): Syria: Military Service, National Defence Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, https://coi.easo.europa.eu/administration/finland/PLib/Report_Military-Service_-Final.pdf. Zugriff 16.1.2019
- ÖB - Österreichische Botschaft Damaskus (7.2019): Asylländerbericht Syrien 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2014213/SYRI_ÖB+Bericht_2019_07.pdf. Zugriff 19.8.2019
- SD - Syria Direct (7.12.2017): Syrian public sector employees fired in latest government conscription effort, http://syriadirect.org/news/syrian-public-sector-employees-fired-in-latest-government-conscription-effort/, Zugriff 13.12.2018
- USDOS - United States Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom - Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2011033.html. Zugriff 3.7.2019
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges verlor die syrische Armee viele Männer aufgrund von Wehrdienstverweigerung, Desertion, Überlaufen und zahlreichen Todesfällen (TIMEP 6.12.2018).
Wehrdienstverweigerer werden laut Gesetz in Friedenszeiten mit ein bis sechs Monaten Haft bestraft, die Wehrpflicht besteht dabei weiterhin fort. In Kriegszeiten wird Wehrdienstverweigerung laut Gesetz, je nach den Umständen, mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren bestraft (AA 13.11.2018). Bezüglich der Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung gehen die Meinungen der Quellen auseinander. Während manche die Ergreifung eines Wehrdienstverweigerers mit Foltergarantie und Todesurteil gleichsetzen, sagen andere, dass Betroffene sofort eingezogen würden. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen (BFA 8.2017).
Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt (Landinfo 3.1.2018).
Desertion wird gemäß dem Militärstrafgesetz von 1950 in Friedenszeiten mit ein bis fünf Jahren Haft bestraft und kann in Kriegszeiten bis zu doppelt so lange Haftstrafen nach sich ziehen. Deserteure, die zusätzlich außer Landes geflohen sind (sogenannte „externe Desertion“), unterliegen Artikel 101 des Militärstrafgesetzbuchs, der eine Strafe von fünf bis zehn Jahren Haft in Friedenszeiten und 15 Jahre Haft in Kriegszeiten vorschreibt. Desertion im Angesicht des Feindes ist mit lebenslanger Haftstrafe zu bestrafen. In schwerwiegenden Fällen wird die Todesstrafe verhängt (BFA 8.2017).
Deserteure werden härter bestraft als Wehrdienstverweigerer. Deserteure riskieren, inhaftiert, gefoltert und getötet zu werden. Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von „high profile“-Deserteuren der Fall sein, also z.B. Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet haben oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018).
Seit Ausbruch des Syrienkonflikts werden syrische Armeeangehörige erschossen, gefoltert, geschlagen und inhaftiert, wenn sie Befehle nicht befolgen (AA 13.11.2018).
In Gebieten, welche durch sogenannte Versöhnungsabkommen wieder unter die Kontrolle der syrischen Regierung gebracht wurden, werden häufig Vereinbarungen bezüglich des Wehrdienstes getroffen. Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt, sondern stattdessen bei der Polizei eingesetzt werden (BFA 8.2017). Berichten zufolge wurden solche Zusagen von der Regierung aber bisweilen auch gebrochen (AA 13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018). Auch in den „versöhnten Gebieten" sind Männer im entsprechenden Alter also mit der Wehrpflicht oder mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht die Regierungseinheiten unterstützt (FIS 14.12.2018).
Quellen:
- AA - Deutsches Auswärtiges Amt (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598 1542722823 auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-November-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 10.12.2018
- BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien - mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf. Zugriff 13.12.2018
- FIS - Finnish Immigration Service (14.12.2018): Syria: Fact-Finding Mission to Beirut and Damascus, April 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Fact- finding+mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 1.2.2019
- Landinfo (3.1.2018): Syria: Reactions against deserters and draft evaders, https://www.ecoi.net/en/file/local/1441219/1226_1534943446_landinfo-report-syria-reactions-against-deserters-and-draft-evaders.pdf, Zugriff 20.2.2019
- TIMEP - The Tahrir Institute for Middle East Policy (6.12.2018): TIMEP Brief: Legislative Decree No. 18: Military Service Amnesty, https://timep.org/wp-content/uploads/2018/12/LegislativeDecree18SyriaLawBrief2018-FINAL12-6-18a.pdf, Zugriff 19.2.2019
Rückkehr
Im Juli 2018 zählte die syrische Bevölkerung geschätzte 19,5 Millionen Menschen (CIA 3.4.2019).
Die Zahl der Binnenvertriebenen belief sich im September 2018 auf insgesamt 6,2 Millionen Menschen (UNHCR 30.9.2018). 2018 sind insgesamt etwa 1,2 bis 1,4 Millionen IDPs in Syrien zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).
Mit März 2019 waren 5.681.093 Personen in den Nachbarländern Syriens und Nordafrika als syrische Flüchtlinge registriert (UNHCR 11.3.2019). 2018 sind laut UNHCR insgesamt etwa 56.000 Flüchtlinge nach Syrien zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).
Weder IDPs noch Flüchtlinge sind notwendigerweise in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).
Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele unterschiedliche Faktoren die Rückkehrmöglichkeiten beeinflussen. Ethno-religiöse, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle, wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber Gemeinden, die der Opposition zugeneigt sind (FIS 14.12.2018). Über die Zustände, in welche die Flüchtlinge zurückkehren und die Mechanismen des Rückkehrprozesses ist wenig bekannt. Da Präsident Assad die Kontrolle über große Gebiete wiedererlangt, sind immer weniger Informationen verfügbar und es herrschen weiterhin Zugangsbeschränkungen und Beschränkungen bei der Datenerhebung für UNHCR (EIP 6.2019). Die Behandlung von Einreisenden ist stark vom Einzelfall abhängig, und über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse (ÖB 7.2019).
Das Fehlen von vorhersehbarer und nachhaltiger physischer Sicherheit in Syrien ist der Hauptfaktor, der die Rückkehrvorhaben von Flüchtlingen negativ beeinflusst. Weiters werden das Fehlen einer adäquaten Unterkunft oder Wohnung oder fehlende Möglichkeiten den Lebensunterhalt zu sichern als wesentliche Hindernisse für die Rückkehr genannt. Als wichtiger Grund für eine Rückkehr wird der Wunsch nach Familienzusammenführung genannt (UNHCR 7.2018). Rückkehrüberlegungen von syrischen Männern werden auch von ihrem Wehrdienststatus beeinflusst (DIS/DRC 2.2019).
Bereits im Jahr 2017 haben die libanesischen Behörden trotz des Konfliktes und begründeter Furcht vor Verfolgung vermehrt die Rückkehr syrischer Flüchtlinge gefordert. Eine kleine Anzahl von Flüchtlingen ist im Rahmen lokaler Abkommen nach Syrien zurückgekehrt. Diese Rückkehrbewegungen werden nicht von UNHCR überwacht. Einige Flüchtlinge kehren aufgrund der harschen Politik der Regierung ihnen gegenüber und sich verschlechternden Bedingungen im Libanon nach Syrien zurück, und nicht weil sie der Meinung sind, dass Syrien sicher sei. Gemeinden im Libanon haben Tausende von Flüchtlingen in Massenausweisungen/Massenvertreibungen ohne Rechtsgrundlage oder ordnungsgemäßes Verfahren vertrieben. Zehntausende sind weiterhin der Gefahr einer Vertreibung ausgesetzt (HRW 17.1.2019). Viele syrische Flüchtlinge kehren aufgrund der schlechten Bedingungen im Libanon und Jordanien nach Syrien zurück, und weil sie außerhalb Syriens keine Zukunft für sich sehen (IT 19.8.2018). UNHCR hat nur vereinzelt und für kurze Zeit Zugang zu Personen, die aus dem Libanon nach Syrien zurückkehren, und kann auch keine ungestörten Interviews mit ihnen führen (AA 13.11.2018).
Flüchtlinge, die aus dem Libanon nach Syrien zurückkehren möchten, müssen dies bei den lokalen Sicherheitsbehörden melden und diese leiten den Antrag an die syrischen Behörden weiter (IT 19.8.2018; vgl. Reuters 25.9.2018). Die syrischen Behörden überprüfen die Antragsteller. Anträge auf Rückkehr können von der Regierung auch abgelehnt werden. Der Anteil der Personen, denen die Rückkehr nicht gestattet wird, wird von den verschiedenen Quellen mit 5% (SD 16.1.2019), 10% (Reuters 25.9.2018), bis hin zu 30% (ABC 6.10.2018) angegeben. In vielen Fällen wird auch Binnenvertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgebiete nicht erlaubt (USDOS 13.3.2019).
Gründe für eine Ablehnung können (wahrgenommene) politische Aktivitäten gegen die Regierung bzw. Verbindungen zur Opposition oder die Nicht-Ableistung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019). Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden, und darum die Genehmigung zur Rückkehr nicht erhalten, sind aufgefordert ihren Status zu „regularisieren“, bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019). In Jordanien gibt es für diese Regularisierung jedoch bisher keine Abläufe. Im Januar 2019 fanden erstmals organisierte Rückkehrbewegungen einer geringen Anzahl von syrischen Flüchtlingen aus Jordanien am syrisch-jordanischen Jaber-Nassib-Grenzübergang statt. Organisiert wurde die Rückkehr von einem zivilen Komitee, ohne Beteiligung der jordanischen Behörden und auch hier wurden die Namen der Antragsteller den syrischen Behörden zur Rückkehrgenehmigung übermittelt (SD 16.1.2019).
Der Sicherheitssektor kontrolliert den Rückkehrprozess in Syrien. Die Sicherheitsdienste institutionalisieren ein System der Selbstbeschuldigung und Informationsweitergabe über Dritte, um große Datenbanken mit Informationen über reale und wahrgenommene Bedrohungen aus der syrischen Bevölkerung aufzubauen. Um intern oder aus dem Ausland zurückzukehren, müssen Geflüchtete umfangreiche Formulare ausfüllen (EIP 6.2019).
Gesetz Nr. 18 von 2014 sieht eine Strafverfolgung für illegale Ausreise in der Form von Bußgeldern oder Haftstrafen vor. Entsprechend einem Rundschreiben wurde die Bestrafung für illegale Ausreise jedoch aufgehoben und Grenzbeamte sind angehalten Personen, die illegal ausgereist sind, „bei der Einreise gut zu behandeln“. Einem syrischen General zufolge müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren möchten, in der entsprechenden syrischen Auslandsvertretung „Versöhnung“ beantragen und unter anderem angeben wie und warum sie das Land verlassen haben und Angaben über Tätigkeiten in der Zeit des Auslandsaufenthaltes etc. machen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt wird. Syrer, die über die Landgrenzen einreisen, müssen dem General zufolge dort ein „Versöhnungsformular“ ausfüllen (DIS 6.2019).
Syrer benötigen in unterschiedlichen Lebensbereichen eine Sicherheitsfreigabe von den Behörden, so z.B. auch für die Eröffnung eines Geschäftes, eine Eheschließung und Organisation einer Hochzeitsfeier, um den Wohnsitz zu wechseln, für Wiederaufbautätigkeiten oder auch um eine Immobilie zu kaufen (FIS 14.12.2018; vgl. EIP 6.2019). Die Sicherheitsfreigabe kann auch Informationen enthalten, z.B. wo eine Person seit dem Verlassen des konkreten Gebietes aufhältig war. Der Genehmigungsprozess könnte sich einfacher gestalten für eine Person, die in Damaskus aufhältig war, wohingegen der Aufenthalt einer Person in Orten wie Deir ez-Zour zusätzliche Überprüfungen nach sich ziehen kann. Eine Person wird für die Sicherheitserklärung nach Familienmitgliedern, die von der Regierung gesucht werden, befragt, wobei nicht nur Mitglieder der Kern- sondern auch der Großfamilie eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018).
Für Personen aus bestimmten Gebieten Syriens erlaubt die Regierung die Wohnsitzänderung aktuell nicht. Wenn es darum geht, wer in seinen Heimatort zurückkehren kann, können einem Experten zufolge ethnisch-konfessionelle aber auch praktische Motive eine Rolle spielen. Genannt werden zum Beispiel Sayyida Zeinab - eine schiitisch dominierte Gegend, in welcher der Sayyida Zeinab Schrein gelegen ist - oder die christliche Stadt Ma‘lula in Damaskus-Umland, in die Muslime nicht zurückkehren können (FIS 14.12.2018). Ehemalige Bewohner von Homs müssen auch vier Jahre nach der Wiedereroberung durch die Regierung noch immer eine Sicherheitsüberprüfung bestehen, um in ihre Wohngebiete zurückkehren und ihre Häuser wieder aufbauen zu können (TE 28.6.2018). Syrer, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht an jedem Ort, der unter Regierungskontrolle steht, niederlassen. Die Begründung eines Wohnsitzes ist nur mit Bewilligung der Behörden möglich (ÖB 21.8.2019). Das syrische Innenministerium kündigte Anfang 2019 an, keine Sicherheitserklärung mehr als Voraussetzung für die Registrierung eines Mietvertrages bei Gemeinden zu verlangen (SLJ 29.1.2019; vgl. ÖB 10.5.2019), sondern Mieten werden dort registriert und die Daten an die Sicherheitsbehörden weitergeleitet (ÖB 10.5.2019), sodass die Sicherheitsbehörden nur im Nachhinein Einspruch erheben können. Abgesehen von Damaskus wurde dies bisher nicht umgesetzt (ÖB 21.8.2019). Außerhalb von Damaskus muss die Genehmigung nach wie vor eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass Syrer aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen (ÖB 7.2019).
Eine Reihe von Vierteln in Damaskus bleiben teilweise oder vollständig geschlossen, selbst für Zivilisten, die die Wohnviertel nur kurz aufsuchen wollen, um nach ihren ehemaligen Häusern zu sehen (SD 19.11.2018).
Es ist schwierig Informationen über die Lage von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude der Rückkehrer, oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von Rückkehrern. Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen der Regierung nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder sogar mit Verwandten sprechen, nachdem sie nach Syrien zurückgekehrt sind (Syria Direct 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es wohl auch aufgrund deren geringen Zahl keine Angaben (ÖB 7.2019).
Die syrische Regierung führt Listen mit Namen von Personen, die als in irgendeiner Form regierungsfeindlich angesehen werden. Die Aufnahme in diese Listen kann aus sehr unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zum Beispiel kann die Behandlung einer Person an einer Kontrollstelle wie einem Checkpoint von unterschiedlichen Faktoren abhängen, darunter die Willkür des Checkpoint-Personals oder praktische Probleme, wie die Namensgleichheit mit einer von der Regierung gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, können unterschiedliche Konsequenzen von Regierungsseite, wie Festnahme und im Zuge dessen auch Folter, riskieren. Zu als oppositionell oder regierungsfeindlich angesehenen Personen gehören einigen Quellen zufolge unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person diese Tätigkeit in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet ausgeführt hat, Aktivisten und Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren, oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien wie Angriffe der Regierung verbreitet haben sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben. Einer Quelle zufolge kann es sein, dass die Regierung eine Person, deren Vergehen als nicht so schwerwiegend gesehen wird, nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit festnimmt (FIS 14.12.2018).
Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Checkpoint beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. In einem Ort, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, zu wohnen oder von dort zu stammen kann den Verdacht des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018).
Es wird regelmäßig von Verhaftungen von und Anklagen gegen Rückkehrer gemäß der Anti-Terror-Gesetzgebung berichtet, wenn diesen Regimegegnerschaft unterstellt wird. Diese Berichte erscheinen laut Deutschem Auswärtigen Amt glaubwürdig, können im Einzelfall aber nicht verifiziert werden (AA 13.11.2018).
Es muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, exilpolitische Tätigkeiten auszuspähen und darüber zu berichten (AA 13.11.2018; vgl. ÖB 7.2019). Es gibt Berichte, dass syrische Sicherheitsdienste mit Drohungen gegenüber noch in Syrien lebenden Familienmitgliedern Druck auf in Deutschland lebende Verwandte ausüben (AA 13.11.2018). Die syrische Regierung hat Interesse an politischen Aktivitäten von Syrern im Ausland. Eine Gefährdung eines Rückkehrers im Falle von exilpolitischer Aktivität hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und von zahlreichen anderen Faktoren, wie dem familiären Hintergrund und den Ressourcen ab, die der Regierung zur Verfügung stehen (BFA 8.2017). Der Sicherheitssektor nützt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um, wie in der Vergangenheit, lokale Informanten zur Informationsgewinnung und Kontrolle der Bevölkerung zu institutionalisieren. Die Regierung weitet ihre Informationssammlung über alle Personen, die nach Syrien zurückkehren oder die dort verblieben sind, aus. Historisch wurden Informat