TE Vwgh Erkenntnis 1997/6/26 95/11/0160

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Veröffentlicht am 26.06.1997
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
90/02 Kraftfahrgesetz;

Norm

AVG §37;
AVG §52;
KDV 1967 §30 Abs1 Z1;
KDV 1967 §30 Abs1;
KDV 1967 §31;
KDV 1967 §31a;
KFG 1967 §64 Abs2;
KFG 1967 §67 Abs2;
KFG 1967 §69;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Leukauf und die Hofräte Dr. Waldner, Dr. Bernard, Dr. Graf und Dr. Gall als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Lenhart, über die Beschwerde der E in W, vertreten durch Dr. T, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 27. Februar 1995, Zl. MA 65-8/80/95, betreffend Entziehung der Lenkerberechtigung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.750,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 73 Abs. 1 KFG 1967 die Lenkerberechtigung für Kraftfahrzeuge der Gruppe B entzogen und gemäß § 73 Abs. 2 KFG 1967 ausgesprochen, daß ihr auf die Dauer der gesundheitlichen Nichteignung keine neue Lenkerberechtigung erteilt werden darf.

In der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof macht die Beschwerdeführerin Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und Rechtswidrigkeit des Inhaltes des angefochtenen Bescheides geltend; sie beantragt dessen kostenpflichtige Aufhebung. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde begehrt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde nahm als erwiesen an, daß die Beschwerdeführerin wegen schizoaffektiver Psychose zum Lenken von Kraftfahrzeugen der Gruppe B nicht geeignet sei. Sie stützte sich dabei auf ein von ihr als schlüssig und nachvollziehbar bezeichnetes Gutachten eines ärztlichen Amtssachverständigen vom 11. Jänner 1995. Diesem wiederum lag ein von einem Sachverständigen der Forensischen Ambulanz der Universitätsklinik für Psychiatrie in Wien erstellter Befund vom 13. Dezember 1994 zugrunde, in welchem der Sachverständige zusammenfassend ausführte, es sei auf Grund der verminderten Reaktionsfähigkeit der Beschwerdeführerin und wegen der erst kurz zurückliegenden Exazerbation (laut PSCHYREMBEL, Klinisches Wörterbuch: "Verschlimmerung, Steigerung, Wiederaufbrechen") der schizoaffektiven Psychose "derzeit die Gewährung eines Führerscheines nicht zu empfehlen".

Gemäß § 30 Abs. 1 Z. 1 KDV 1967 gilt als zum Lenken von Kraftfahrzeugen einer bestimmten Gruppe geistig und körperlich geeignet, wer für das sichere Beherrschen dieser Kraftfahrzeuge und das Einhalten der für das Lenken dieser Kraftfahrzeuge geltenden Vorschriften ausreichend frei von psychischen Krankheiten und geistigen Behinderungen ist. Gemäß § 30 Abs. 1 zweiter Satz KDV 1967 müssen darüber hinaus die nötige kraftfahrspezifische Leistungsfähigkeit und Bereitschaft zur Verkehrsanpassung gegeben sein. Gemäß § 31 der zitierten Verordnung gelten als ausreichend frei von psychischen Krankheiten und geistigen Behinderungen im Sinne des § 30 Abs. 1 Z. 1 Personen, bei denen weder Erscheinungsformen von solchen Krankheiten oder Behinderungen, noch schwere geistige und seelische Störungen vorliegen, die eine Beeinträchtigung des Fahrverhaltens erwarten lassen. Wenn sich aus der Vorgeschichte oder bei der Untersuchung der Verdacht eines krankhaften Zustandes ergibt, der die geistige Eignung zum Lenken eines Kraftfahrzeuges einschränken oder ausschließen würde, ist eine Untersuchung durch einen entsprechenden Facharzt, die eine Prüfung der kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit einzubeziehen hat, anzuordnen.

Krankheiten, Behinderungen und Störungen im Sinne der §§ 30 Abs. 1 Z. 1 und 31 KDV 1967 sind für eine Entziehung oder Einschränkung der Lenkerberechtigung im Sinne des § 73 Abs. 1 KFG 1967 nur insoweit von Belang, als sie eine "Beeinträchtigung des Fahrverhaltens" (wegen fehlender oder zumindest eingeschränkter Fähigkeit zum sicheren Beherrschen der Kraftfahrzeuge und zum Einhalten der für ihr Lenken geltenden Vorschriften) und damit eine Gefährdung der Verkehrssicherheit erwarten lassen. Dies erfordert im Sachverständigengutachten entsprechende Ausführungen über die von der Krankheit, einer Behinderung oder einer Störung ausgehenden Auswirkungen auf das Verhalten der betreffenden Person im Straßenverkehr, sofern dies - was hier nicht der Fall ist ("status POST exacerbationem") - nicht ohnedies schon auf Grund der Art der Krankheit, Behinderung oder Störung auf der Hand liegt (siehe das hg. Erkenntnis vom 15. Jänner 1991, Zl. 90/11/0087, mwN).

Diesen Anforderungen genügt das ärztliche Sachverständigengutachten vom 11. Jänner 1995 (einschließlich des ihm zugrundeliegenden fachärztlichen Befundes), auf welches sich der angefochtene Bescheid stützt, nicht. Das Gutachten erschöpft sich in dem Hinweis "schizoaffektive Psychose" als Begründung für die Nichteignung der Beschwerdeführerin zum Lenken von Kraftfahrzeugen. Im fachärztlichen Befund vom 13. Dezember 1994 wird der "psychopathologische Status" der Beschwerdeführerin wie folgt beschrieben:

"Orientiert, Stimmung normothym, Sprach- und Gedankenductus beschleunigt, Entäußerungsdruck, ist aber kohärent und zielführend, derzeit kein Wahn und keine Halluzinationen faßbar. Bezüglich des abgelaufenen Krankheitsgeschehens besteht keine Krankheitseinsicht, keine Kritikfähigkeit. Mnestische Leistungen altersentsprechend, keine vegetative Symptomatik, Schlaf wird als gut bezeichnet".

In der "Zusammenfassung" heißt es nach dem Hinweis auf vorangegangene stationär-psychiatrische Behandlungen der Beschwerdeführerin wegen Exacerbationen einer schizoaffektiven Psychose, es finde sich derzeit wieder ein im wesentlichen stationäres psychopathologisches Zustandsbild bei "St.p. Exacerbation" einer schizoaffektiven Psychose. Es bestehe aber weiterhin keine Krankheitseinsicht und keine Distanzierung zum abgelaufenen Krankheitsgeschehen. Es fänden sich keine Auffälligkeiten im neurologischen Status und in den laborchemischen Befunden. Weder im fachärztlichen Befund noch im ärztlichen Gutachten wird dargetan, inwiefern bei dem bei der Beschwerdeführerin festgestellten status POST exacerbationem eine Beeinträchtigung des Fahrverhaltens im oben beschriebenen Sinn zu erwarten sei. Bloß mögliche oder nicht auszuschließende Beeinträchtigungen reichen nicht aus, um aus diesem Grund einen Mangel der geistigen Eignung annehmen zu können. Es muß vielmehr eine Prognose möglich sein, daß voraussichtlich eine derartige Beeinträchtigung eintreten werde. § 31 KDV 1967 setzt die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes einer solchen Beeinträchtigung voraus (siehe dazu die hg. Erkenntnisse vom 21. November 1989, Zl. 88/11/0238, und vom 21. Jänner 1992, Zl. 91/11/0051). Dazu findet sich im fachärztlichen Befund vom 13. Dezember 1994 im Zusammenhang mit dem festgestellten "psychopathologischen status" der Beschwerdeführerin keine Aussage.

Das ärztliche Sachverständigengutachten und der ihm zugrundeliegende fachärztliche Befund reichen auch nicht aus, um den (wie die Gegenschrift - S. 3 oben - zeigt dem angefochtenen Bescheid weiters zugrundeliegenden) Schluß zuzulassen, der Beschwerdeführerin fehle die geistige und körperliche Eignung wegen des Mangels der nötigen kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit (§ 30 Abs. 1 zweiter Satz KDV 1967). Laut fachärztlichem Befund seien bei der Untersuchung der Beschwerdeführerin Scores erhebbar gewesen, die "eine Beeinträchtigung der Reaktionssicherheit nicht ausschließen lassen (grenzwertiges Leistungspotential)"; die Leistungsqualifikation könne jedoch nicht unabhängig von der derzeitigen Medikation (Melleril) gesehen werden. Die angeführte pauschale Leistungsqualifikation ergebe sich auf Basis der folgenden Teilleistungen und Richtwerte des Labors:

Die motorische Reaktionsfähigkeit auf einfache akustische und optische Signale sei reduziert; die gemessenen Zeiten der sogenannten Einfachreaktionen lägen unter den Erwartungen. Die motorische Reaktionssicherheit bei komplexer Reizabfolge und mittlerem Zeitdruck (Mehrfachreaktionen) sei noch nicht signifikant reduziert, jedoch sei eine diskrete Verzögerung des Reaktionsverhaltens faßbar ohne eine gleichzeitig erhöhte Neigung zu Fehlreaktionen. Die Belastbarkeit des Reaktionsverhaltens unter erhöhtem Zeitdruck sei reduziert. Die Untersuchung der Vigilanz und Konzentrationsleistung in Form eines Belastungsversuches mit einfachen optischen Signalen über die Dauer von ca. 8 Minuten ergebe eine erhöhte Schwankung der Aufmerksamkeitszuwendung in der monotonen Versuchssituation. In einem Dauerbelastungsversuch auf höherem kognitiven Niveau über 21 Minuten sei die Konzentrationsleistung noch nicht signifikant reduziert, jedoch falle das reduzierte Arbeitstempo (reduzierter Antrieb) auf.

Aus diesem fachärztlichen Befund ist eine Quantifizierung der Beeinträchtigung der Reaktionssicherheit nicht zu erkennen. Es fehlt die Angabe der im einzelnen erbrachten Leistungen und der jeweiligen Richtwerte. Es wird auch nicht aufgezeigt, welche Auswirkung die angegebene Medikation auf die Reaktionssicherheit zeitigt. Damit kann nicht beurteilt werden, ob die Reaktionssicherheit der Beschwerdeführerin so stark beeinträchtigt ist, daß deshalb die - zum Lenken von Kraftfahrzeugen der Gruppe B - notwendige kraftfahrspezifische Leistungsfähigkeit nicht mehr gegeben ist. Der fachärztliche Befund selbst spricht zusammenfassend nur von "verminderter" kraftfahrspezifischer Leistungsfähigkeit, nicht aber von deren Fehlen. Im ärztlichen Sachverständigengutachten vom 11. Jänner 1995 ist von der kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin überhaupt nicht die Rede.

Diese Unvollständigkeiten des ärztlichen Sachverständigengutachtens belasten den angefochtenen Bescheid, der sich auf dieses Gutachten stützt, mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Er war aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. Damit erübrigt sich ein Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Schlagworte

Gutachten Auswertung fremder BefundeAnforderung an ein GutachtenGutachten Überprüfung durch VwGH

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1997:1995110160.X00

Im RIS seit

12.06.2001

Zuletzt aktualisiert am

16.11.2010
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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