TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/28 W153 2229081-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.08.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

28.08.2020

Norm

BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9

Spruch

W153 2229081-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christoph KOROSEC als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. ungeklärt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.01.2020, Zl. 424151009-150598205, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der Bescheid ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Beim BF handelt es sich um einen Staatenlosen, der in Österreich geboren wurde und in Österreich lebt. Er hat einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, der zuletzt am 25.11.2016, mit Gültigkeit bis 25.11.2021, verlängert wurde. Ebenso besitzt der BF einen gültigen Fremdenpass.

Da der vielfach vorbestrafte BF im November 2019 wieder straffällig wurde und wegen schwerer Nötigung und absichtlich schwerer Körperverletzung angezeigt und in Untersuchungshaft genommen wurde, hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) das gegenständliche Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung durchgeführt.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 27.01.2020 wurde gegen den Beschwerdeführer (BF) gemäß § 52 Abs. 4 FPG (richtig § 52 Abs. 5 FPG) iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG iVm. § 50 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Der BF wurde am 31.01.2020 von einem Landesgericht wegen gefährlicher Drohung, versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung und schwerer Nötigung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren rechtskräftig verurteilt.

Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF wurde am XXXX in Österreich geboren. Bis 1973 war auf sämtlichen amtlichen Schriftstücken die Staatsangehörigkeit (StA) „Ungarn“ angegeben. Spätestens ab 1977 wurde die StA des BF als ungeklärt bzw. „staatenlos“ bezeichnet.

Der BF wuchs bei der bereits verstorbenen Stiefmutter bzw. in einem Kinderdorf auf.

Die Eltern und der (Adoptiv)Vater sind bereits verstorben. Der BF hat noch 2 Schwestern und einen Halbbruder, zu welchen kein Kontakt besteht.

Der BF ist geschieden und hat 7 Kinder, zu welchen ebenfalls kein Kontakt besteht. Darüber hinaus ergeben sich auch keine Abhängigkeiten zu anderen Personen im Bundesgebiet.

Der BF ist arbeitsfähig, er ging aber in Österreich nur unregelmäßig einer Beschäftigung nach. Zumindest seit 05.08.2015 bezieht er Notstands- bzw. Überbrückungshilfe.

Der BF leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung.

Der BF lebt in Österreich und ist derzeit in Haft. Er hat einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, der zuletzt am 25.11.2016, mit Gültigkeit bis 25.11.2021, verlängert wurde.

Am 01.08.2019 wurde dem BF zuletzt ein Fremdenpass ausgestellt.

Der BF wurde 35mal zumeist wegen Gewaltdelikten strafrechtlich verurteilt. Zuletzt wurde er am 31.01.2020 von einem Landesgericht wegen gefährlicher Drohung, versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung und schwerer Nötigung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren rechtskräftig verurteilt.

Es wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung des BF, einem Staatenlosen, dessen alleiniger Anknüpfungspunkt und Herkunftsstaat Österreich ist, unzulässig ist.

2. Beweiswürdigung

Die Feststellungen zur Identität und Staatenlosigkeit ergibt sich aus dem Aufenthaltstitel und Fremdenpass sowie aus der umfangreichen Aktenlage.

Die Feststellungen zu den Wohnsitzmeldungen des BF beruhen auf dem Zentralen Melderegister (ZMR) und die Feststellungen zum Aufenthaltsstatus des BF auf einem Fremdenregisterauszug.

Laut Sozialversicherungsauszug vom 15.11.2019 ergibt sich, dass der BF zuletzt seit 05.08.2015 Notstandshilfe, Überbrückungshilfe bezogen hat. Eine nachhaltige Anstellung am österreichischen Arbeitsmarkt konnte nicht festgestellt werden.

Dass der BF seit seiner Geburt im Bundesgebiet gelebt hat, ergibt sich aus der Aktenlage und den Aussagen des BF bei der Einvernahme vom 08.01.2020.

Die Feststellung zum Familien- und Privatleben ergibt sich insbesondere aus den Angaben des BF bei der Einvernahme vom 08.01.2020. Der BF lebte zum Schluss mit seiner Freundin zusammen, wobei er aufgrund einer Straftat gegenüber seiner Lebensgefährtin nunmehr eine Haftstrafe verbüßt. Er hat außer zu einem Freund keinerlei Kontakt zu anderen Personen, insbesondere keine Kontakte zu Familienangehörigen.

Die Feststellung, dass der BF an keiner lebensbedrohlichen oder dauerhaft behandlungsbedürftigen Erkrankung leidet, ergibt sich aus dem Akteninhalt und den Angaben des BF.

Dass der BF im Bundesgebiet 35x rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ergibt sich aus dem Strafregisterauszug. Der BF verbüßt derzeit eine Haftstrafe. In der Einvernahme gab der BF an, dass ihm die Tat fürchterlich leidtue und er zeigte auch Reue. Am 31.01.2020 wurde der BF von einem Landesgericht wegen gefährlicher Drohung, versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung und schwerer Nötigung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren rechtskräftig verurteilt. Mildernd wurde das umfassende und reumütige Geständnis und, dass es großteils nur beim Versuch geblieben sei, gewertet. Erschwerend sei hingegen die massive Vorstrafenbelastung (wenn auch großteils länger zurückliegend) sowie das Zusammentreffen von zwei Verbrechen und ein Vergehen und die brutale Vorgehensweise gegenüber der z.T. wehrlos am Boden liegenden Lebensgefährtin gewesen

Aus einem Schreiben der zuständigen Sicherheitsdirektion vom 11.08.2008 geht hervor, dass eingehend geprüft wurde, ob nicht etwa Anknüpfungspunkte in Deutschland oder Ungarn bestehen könnten. Die Behörde kam zum Ergebnis, dass keine Anknüpfungspunkte zu einem anderen Staat gebe. Das wiederholte Fehlverhalten bewirke zwar eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und sei derart schwerwiegend, dass auch die stark ausgeprägten privaten Interessen des BF in den Hintergrund treten würden, aber eine Ausweisung sei nicht möglich. Daher müsse dem Antrag auf Niederlassungsbewilligung gezwungenermaßen zugestimmt werden.

Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich dieser Beurteilung an und stellt fest, dass im vorliegenden Fall – auch im Sinne des von Österreich ratifizierten Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen (BGBl. III Nr. 81/2008) – von einer Erlassung einer Rückkehrentscheidung, auch bei Unzulässigkeit der Abschiebung mangels Zielstaat, Abstand zu nehmen ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgabe der Beschwerde

Der Ordnung halber wird festgestellt, dass das Bundesverwaltungsgericht bezüglich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides von einem Flüchtigkeitsfehler der Behörde ausgeht. Wie aus dem Inhalt des Bescheides hervorgeht, fußt die Erlassung der Rückkehrentscheidung nicht auf § 52 Abs. 4 FPG sondern auf § 52 Abs. 5 FPG iVm. § 9 BFA-VG.

Gemäß § 52 Abs. 5 FrPolG 2005 ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen bestimmte Drittstaatsangehörige nur dann zulässig, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FrPolG 2005 die Annahme rechtfertigen, dass der weitere Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt. Bei der Prüfung, ob die Annahme einer solchen Gefährdung gerechtfertigt ist, muss eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorgenommen werden (vgl. VwGH 22.3.2018, Ra 2017/22/0194). Dabei ist auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme (hier: eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit) gerechtfertigt ist (vgl. VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289). Es ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109; 31.8.2017, Ra 2017/21/0120)." (vgl. VwGH 21.06.2018, Ra 2016/22/0101)".

Da die Rückkehrentscheidung massiv in das Privat- und Familienleben des BF eingreift, dessen Lebensmittelpunkt seit seiner Kindheit in Österreich liegt, ist unter dem Gesichtspunkt von Art 8 EMRK deren Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen. Nach § 9 Abs 1 BFA-VG ist (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingreift, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0198).

Der BF weist unbestritten zahlreiche strafgerichtliche Verurteilungen im Bundesgebiet, zuletzt wegen gefährlicher Drohung, versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung und schwerer Nötigung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 Jahren, auf, wodurch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG dem Grunde nach erfüllt sind.

Im vorliegenden Fall darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass der BF staatenlos ist, immer seinen Lebensmittelpunkt in Österreich hatte und keine Bezugspunkte zu anderen Staaten aufweist. Beim BF handelt sich zwar um einen Fremden, da der BF kein österreichischer Staatsbürger ist. In analoger Anwendung der Definition eines Herkunftsstaates gem. § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG ist sein Herkunftsstaat jedoch unzweifelhaft Österreich. Er ist somit ein Fremder und Drittstaatsangehöriger, dessen Herkunftsstaat jedoch Österreich ist.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass der Verhinderung strafbaren Verhaltens, insbesondere im Hinblick auf Gewaltdelikten (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0474) große Bedeutung zukommt, und der BF oftmals straffällig geworden ist. Nach Abwägung der sich widerstreitenden Interessen ist im konkreten Fall dennoch - insbesondere unter Berücksichtigung, dass der BF nur in Österreich sozialisiert ist, er in Österreich seinen gewöhnlichen und rechtmäßigen Aufenthalt hat und keine Anknüpfungspunkte zu anderen Staaten bestehen, von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung Abstand zu nehmen.

Sein privates Interesse an einem Verbleib überwiegt (auch unter Bedachtnahme seines Lebenswandels) somit das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.

In diesem Zusammenhang wird auch auf die besonderen völkerrechtlichen Verpflichtungen, die Österreich mit der Unterzeichnung des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen (BGBl. III Nr. 81/2008) eingegangen ist, verwiesen, auch wenn dort im Art 31 die Ausweisung eines Staatenlosen unter gewissen Bedingungen (aus Gründen der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung) möglich wäre. Im konkreten Fall würde eine solche Ausweisung, wie oben dargelegt, nicht im Sinne dieses Abkommens sein.

Erweist sich eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs 5 FPG als unzulässig, besteht das Aufenthaltsrecht aufgrund des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" weiter. Allenfalls kann nach § 28 Abs 1 NAG von der Niederlassungsbehörde eine "Rückstufung" vorgenommen werden (siehe VwGH 29.05.2018, Ra 2018/21/0067). In der Folge wird daher die Niederlassungsbehörde zur Prüfung einer solchen "Rückstufung" zu befassen sein.

Aufgrund erfolgter Aufhebung der von der belangten Behörde ausgesprochenen Rückkehrentscheidung fällt auch die Voraussetzung für einen Ausspruch über die Unzulässigkeit der Abschiebung weg, weshalb der Spruchpunkt II. ebenfalls aufzuheben war.

Somit war der gegenständlichen Beschwerde stattzugeben und der Bescheid ersatzlos zu beheben.

Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Da bereits aufgrund der Aktenlage feststand, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben war, konnte nach § 24 Abs. 2 Z. 1 VwGVG eine mündliche Verhandlung entfallen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Interessenabwägung Privat- und Familienleben Rückkehrentscheidung strafrechtliche Verurteilung Voraussetzungen Wegfall der Gründe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W153.2229081.1.00

Im RIS seit

22.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

22.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten