Entscheidungsdatum
01.10.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
1.) L503 2160556-1/13E
2.) L503 2160561-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , und 2.) mj. XXXX , geb. XXXX , gesetzlich vertreten durch seine Mutter XXXX , beide StA. Irak, beide vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.5.2017, zu den Zahlen 1.) XXXX und 2.) XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 30.6.2020, zu Recht erkannt:
A.) I. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. bis III. der angefochtenen Bescheide werden gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, § 8 Abs. 1 AsylG 2005, § 57 AsylG 2005, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2, § 52 Abs. 9 FPG iVm § 46 FPG als unbegründet abgewiesen.
II. Spruchpunkt IV. der angefochtenen Bescheide wird dahingehend abgeändert, dass die Frist für eine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit vier Wochen ab Rechtskraft dieses Erkenntnisses festgelegt wird.
B.) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Die volljährige Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden kurz: „BF1“) und der minderjährige Zweitbeschwerdeführer (im Folgenden: „BF2“) sind Staatsangehörige des Irak. Hinsichtlich der Zuordnung der Ziffern zu den einzelnen Personen wird auf den Spruch dieses Erkenntnisses verwiesen.
2. Am 10.9.2015 stellte die BF1 für sich selbst und als gesetzliche Vertreterin für ihren minderjährigen Sohn, den BF2, Anträge auf internationalen Schutz.
Zu ihren Fluchtgründen gab die BF1 in ihrer Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Folgetag an, dass sie aus Bagdad stammen würden. Ihr Mann, XXXX , habe im Grünen Bezirk die Kameras überwacht. Der Grüne Bezirk sei ein Botschaftsviertel. Aufgrund seiner Tätigkeit sei er von der Miliz bedroht worden. Er hätte Videodaten an sie weitergeben und mit ihnen zusammenarbeiten sollen. Er habe dies abgelehnt und sei deshalb mit Bombardierung bedroht worden. Aufgrund dessen seien sie aus dem Irak geflüchtet. Ihr Mann lebe bereits seit viereinhalb Monaten in Österreich. Im Fall der Rückkehr in ihre Heimat fürchte die BF1 Bombardierung.
3. Am 25.8.2016 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme der BF1 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden kurz: „BFA“). Die BF1 gab dabei an, gesund zu sein und keine Medikamente zu nehmen; sie sei geistig und körperlich vollkommen gesund. Zu ihrem Leben im Irak befragt gab die BF1 an, sie habe neun Jahre lang die Grundschule in Bagdad besucht und danach drei Jahre in einer Tourismusschule in Bagdad studiert. Im Irak habe die BF1 immer als Friseurin gearbeitet. Sie hätten kein Problem gehabt, den Alltag zu bestreiten. Die Mutter, drei Schwestern und ein Bruder der BF1 befänden sich noch in Bagdad; sie habe täglich mit ihrer Mutter und ihren Schwestern Kontakt. Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die BF1 zusammengefasst an, dass zuerst ihr Mann bedroht worden sei, sie hätten Informationen von ihm haben wollen. Dann sei die BF1 von zwei Frauen im Friseurladen aufgefordert worden, ihr Geschäft zu schließen. Danach hätten sie vier Männer im Geschäft angegriffen und geschlagen. Sie hätte geblutet und ihr Kind verloren. Sie sei danach im Nonnenspital gewesen und hätte sich nicht mehr ins Geschäft getraut. Danach sei ihnen weiter gedroht worden, sie hätten ihren Sohn, den BF2, entführen wollen und hätten ihnen schriftlich gedroht. Deshalb seien sie zum Bruder der BF1 geflüchtet, wo sie bis zur Flucht geblieben seien. Am 21.3.2013 seien sie mit dem Bus aus dem Irak in die Türkei ausgereist.
Im Verfahren vor der belangten Behörde wurden betreffend die BF1 verschiedene Ausweisdokumente; betreffend den BF2 eine Schulbesuchsbestätigung und eine ergänzende differenzierende Leistungsbeschreibung der NMS XXXX für das Schuljahr 2015/16 vom 8.7.2016 vorgelegt.
Im Zuge einer von der belangten Behörde veranlassten kriminaltechnischen Untersuchung des vorgelegten Personalausweises und des Staatsbürgerschaftsnachweises der BF1 stellten sich beide Dokumente als Totalfälschungen heraus.
4. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 12.5.2017 wies die belangte Behörde die Anträge beider BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkte I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkte II.) ab. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurden den BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen beide BF Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkte III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte IV.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass die BF im Herkunftsstaat einer Bedrohung bzw. Verfolgung ausgesetzt gewesen seien oder sie bei einer Rückkehr in den Irak eine Gefährdung durch den Staat oder durch private Personen oder Organisationen bzw. Gruppierungen zu befürchten hätten. Eine Rückkehr in den Irak sei den BF zumutbar und möglich; es habe nicht festgestellt werden können, dass ihnen in ihrem Heimatland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen wäre oder sie dort in eine existenzbedrohende Notlage gedrängt würden. In ihrer Beweiswürdigung führte die belangte Behörde aus, dass eine derartig gravierende Bedrohung durch schiitische Milizen, wie im Verfahren vorgebracht, nicht glaubhaft sei, da der Mann der BF1 bereits am 8.5.2017 freiwillig in den Irak zurückgekehrt sei und nicht mehr in der Grünen Zone arbeite. Es sei nicht plausibel, dass die BF1 nach vier Jahren ein weiteres Mal einer Bedrohungssituation ausgesetzt wäre. Die Fluchtgeschichte der BF1 habe sich als zu blass, wenig detailreich und zu oberflächlich erwiesen und sei daher keinesfalls als glaubhaft zu qualifizieren. Die BF1 sei eine gesunde, arbeitsfähige Frau, die im Irak bereits Arbeitserfahrung gesammelt habe; eine Rückkehr sei ihr daher zumutbar und möglich. Alle ihre Familienangehörigen befänden sich im Irak, die gesamte Familie wohne in Bagdad.
5. Mit Schriftsätzen ihrer rechtsfreundlichen Vertretung vom 24.5.2017 erhoben die BF fristgerecht Beschwerde gegen die Bescheide der belangten Behörde vom 12.5.2017. Darin monierten die BF einerseits Aktenwidrigkeit und ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, andererseits eine inhaltliche Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide. Konkret wurde zusammengefasst vorgebracht, dass die BF UNHCR-Flüchtlingszertifikate vom 6.8.2014 vorgelegt hätten; die belangte Behörde habe unrichtigerweise festgestellt, dass diese am 1.11.2011 ausgestellt worden seien. Die in den Bescheiden angeführten Länderberichte würden sich nur rudimentär mit dem konkreten Fluchtvorbringen der BF1, insbesondere mit der Situation von Frauen im Irak, befassen. Die belangte Behörde habe es unterlassen, die BF1 näher zu den Umständen der freiwilligen Rückkehr ihres Ex-Mannes und zur Situation als alleinstehende, geschiedene und alleinerziehende Frau zu befragen. Ein selbstbestimmtes Leben wäre der BF1 im Irak nicht möglich, alleine schon aufgrund ihres längeren Aufenthaltes in Europa würde sie als „verwestlicht“ und „unislamisch“ angesehen werden und daher im Falle einer Rückkehr in den Irak als Ehrlose verfolgt werden. Dass ihr Mann in den Irak zurückgekehrt sei, sei noch kein hinreichender Beweis, dass die Gefahr nicht mehr bestehe, zumal die BF1 Angst vor ihrem Mann habe, da er sie jahrelang geschlagen und schlecht behandelt habe. Des Weiteren habe sich die belangte Behörde nicht mit der religiösen Zugehörigkeit zu den Schiiten und der Sicherheitslage im Irak auseinandergesetzt. Das UNHCR-Flüchtlingszertifikat sei gänzlich unberücksichtigt geblieben, obwohl sich daraus die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention ipso facto ableiten lasse. Die belangte Behörde habe die Situation von geschiedenen, alleinstehenden und alleinerziehenden, westlich-orientierten Frauen gänzlich außer Acht gelassen. Aufgrund der Scheidung gelte die BF1 als unehrbare Frau und laufe Gefahr, bei einer theoretischen Rückkehr Opfer eines Ehrenmordes zu werden. Eine Rückkehr in den Irak sei aufgrund der Sicherheitslage und der persönlichen Umstände der BF nicht möglich. Die BF seien bemüht, sich in Österreich zu integrieren und würden keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen.
6. Am 6.6.2017 wurde der Akt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.
7. Am 30.6.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache der BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
Im Zuge der Verhandlung wurden betreffend die BF1 eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses (Alphabetisierung 1) vom 14.2.2017, eine Verständigung der BH XXXX vom 2.7.2019 über die Begründung einer Gewerbeberechtigung für das Gewerbe „Hausbetreuung, bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten“, eine Bestätigung eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 9.4.2018, ein Schreiben eines Klinischen und Gesundheitspsychologen und Psychotherapeuten vom 26.6.2020, eine Scheidungsurkunde in arabischer Schrift, ein UNHCR Refugee Certificate vom 6.8.2014, eine Verständigung der SVS vom 20.1.2020 betreffend das Ende der Pflichtversicherung, eine Anmeldebestätigung Werte- und Orientierungskurs, eine Teilnahmebestätigung Werte- und Orientierungskurs vom 9.5.2018, sowie betreffend den BF2 ein UNHCR Refugee Certificate vom 6.8.2014 vorgelegt.
Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA für den Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020) und der Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 wurden in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingebracht. Der Rechtsvertreter der BF erklärte, diese zur Kenntnis zu nehmen; auf eine Stellungnahme wurde verzichtet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der BF werden folgende Feststellungen getroffen:
Die BF tragen die im Spruch angeführten Namen und wurden an den dort angeführten Daten geboren. Ihre Identität steht nicht fest. Die BF sind Staatsangehörige des Irak; sie gehören der Volksgruppe der Araber an und bekennen sich zum schiitischen Islam. Die Muttersprache der BF ist Arabisch.
Die BF stammen aus Bagdad. Die BF1 besuchte dort zunächst neun Jahre lang die Grundschule, später drei Jahre lang eine Tourismusschule. Danach arbeitete sie als Friseurin. Von 2008 bis 2012 lebte die BF1 gemeinsam mit ihrem Sohn aus erster Ehe, dem BF2, in Syrien; auch dort war die BF2 als Friseurin tätig. Nach ihrer Rückkehr in den Irak heiratete sie am XXXX den irakischen Staatsangehörigen XXXX , geb. XXXX Die BF1 betrieb in Bagdad einen Friseursalon. Das Geschäft machte einen Umsatz von monatlich USD 1.800,00. Die Familie konnte im Irak ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Die BF2 hat drei Brüder und sieben Schwestern. Ihre Mutter, zwei Brüder und fünf Schwestern leben nach wie vor im Irak. Die BF2 steht in Kontakt mit ihrer Mutter und einem ihrer im Irak lebenden Brüder. Dieser hat im Irak zuletzt als Taxifahrer gearbeitet; eine Schwester der BF1 arbeitet im Irak als Schuldirektorin; andere Schwestern sind Witwen oder geschieden, sie erhalten (staatliche) finanzielle Unterstützung.
Der BF2 ist bis ins Jahr 2008 im Irak in den Kindergarten gegangen, danach besuchte er von 2008 bis 2012 die Volksschule in Syrien. Im Jahr 2012 – nach der Rückkehr in den Irak – besuchte dort einen Monat lang die Grundschule.
Am 22.3.2013 sind die BF gemeinsam mit XXXX mit dem Bus aus dem Irak in die Türkei ausgereist. Die BF1 und der BF2 wurden am 6.8.2014 von UNHCR in der Türkei als Mandatsflüchtlinge anerkannt. Der Ehegatte der BF1 reiste bereits im Mai 2015 weiter nach Österreich, die BF blieben noch bis zum 2.9.2015 in der Türkei und reisten im September 2015 in Österreich ein.
Am 8.5.2017 kehrte XXXX in den Irak zurück und lebt seitdem wieder dort. Im Juli 2017 wurde die Ehe zwischen der BF1 und ihrem Ehegatten geschieden; dieser hat im Irak wieder geheiratet. Weder die BF selbst noch ihre Familienangehörigen im Irak stehen in Kontakt zum Ex-Ehegatten der BF1.
Die BF1 leidet an Schlafstörungen, Migräne sowie Harnverlust und ist deshalb in ärztlicher Behandlung. Gegen Migräne und Harnverlust nimmt sie Medikamente ein. In einer fachärztlichen Stellungnahme eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 9.4.2018 wird eine Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik sowie chronifizierter Spannungskopfschmerz diagnostiziert. Im Schreiben eines Klinischen und Gesundheitspsychologen und Psychotherapeuten vom 26.6.2020 werden eine schwere posttraumatische Belastungsstörung, eine ausgeprägte nichtorganisch bedingte Schlafstörung, im Speziellen eine nichtorganisch bedingte Schlafstörung des Schlaf-Wach-Rhythmus diagnostiziert.
1.2. Zu den Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen der BF werden folgende Feststellungen getroffen:
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF bei einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt wären.
Die BF haben im Irak keine Verfolgung durch Milizen aufgrund der Tätigkeit des Ex-Ehegatten der BF1 zu befürchten.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung oder Gefährdung oder einer sonstigen Gefahr für Leib oder Leben durch den Ex-Ehegatten der BF1 ausgesetzt wären.
Den BF droht im Irak auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung aufgrund ihrer schiitischen Glaubensrichtung oder ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe aufgrund ihres Geschlechts, ihres Familienstandes oder ihrer Lebenseinstellung.
Es kann auch keine sonstige Gefahr einer Verfolgung für die BF im Fall ihrer Rückkehr festgestellt werden.
1.3. Zur Lage der BF im Fall einer Rückkehr in den Irak:
Es kann unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass eine Abschiebung der BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK bedeuten oder für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit mit sich bringen würde.
Es kann insbesondere nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall ihrer Rückkehr in den Irak in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden. Die volljährige BF1 leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung, sie ist arbeitsfähig und verfügt auch über Schulbildung und Arbeitserfahrung im Irak. Der 17-jährige BF2 ist gesund. Es spricht nichts dagegen, dass die BF1 im Irak einer Arbeit nachgehen und für den Lebensunterhalt der Familie wird sorgen können. Die BF verfügen im Irak über ein Netz von Angehörigen, zu denen teilweise auch Kontakt besteht.
1.4. Zum Privat- und Familienleben der BF in Österreich:
Die BF halten sich seit September 2015 – somit seit fünf Jahren – im Bundesgebiet auf. Eine Schwester der BF1 lebt mit ihren Kindern in Österreich; die BF1 steht mit dieser in telefonischem Kontakt.
Die Deutschkenntnisse der BF1 und des BF2 sind nur gering ausgeprägt. Die BF1 hat im Zeitraum von 27.9.2016 bis 31.1.2017 einen Kurs „Deutsch für Asylwerbende – Alphabetisierung 1“ besucht. Die BF haben weder den Besuch von (sonstigen) Deutschkursen noch die Ablegung von Deutschprüfungen nachgewiesen. Am 9.5.2018 hat die BF1 an einem Werte- und Orientierungskurs des ÖIF teilgenommen.
Die BF beziehen Leistungen aus der Grundversorgung und sind unbescholten.
Die BF1 hat am 24.6.2019 das Gewerbe „Hausbetreuung, bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten“ angemeldet; im Juni und Juli 2019 arbeitete sie als Reinigungskraft in einem Hotel. Die Gewerbeberechtigung ist mittlerweile erloschen, die Pflichtversicherung endete am 31.1.2020. Die BF1 ist derzeit nicht erwerbstätig. Sie hat freundschaftlichen Kontakt zu einer irakischen Familie im Raum XXXX .
Der BF2 besuchte in Österreich ab 28.9.2015 (Schuljahr 2015/16) als außerordentlicher Schüler (ohne Benotung) drei Schulstufen der Neuen Mittelschule, zunächst in XXXX , später in XXXX . Danach besuchte er – mangels Sprachkenntnissen weiterhin als außerordentlicher Schüler – für ein Jahr eine Polytechnische Schule. Der BF2 spielt Fußball beim SV XXXX ; er hat mehrere Freunde in Österreich.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:
Zur Lage im Irak wird auf das vom Bundesverwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung vom 30.6.2020 in das Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, sowie den Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 verwiesen, in denen eine Vielzahl von Berichten diverser allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt werden. Insoweit die Berichtslage konkret im gegenständlichen Verfahren relevant ist (vor allem betreffend die Sicherheits- und Versorgunglage sowie die Situation von Frauen im Irak), wird darauf unten im Rahmen der Beweiswürdigung betreffend die Rückkehrbefürchtungen der BF näher eingegangen. Der rechtsfreundliche Vertreter der BF nahm die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Berichte in der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis und verzichtete auf eine Stellungnahme.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der BF:
Die zur Identität der BF getroffenen Feststellungen beruhen auf ihren Angaben im Verfahren; die Identität der BF wurde aber nicht durch Vorlage von unbedenklichen (internationalen) Urkunden, z.B. von Reisepässen, nachgewiesen. Die im Verfahren vorgelegten Dokumente der BF1 haben sich teilweise – soweit sie einer kriminaltechnischen Untersuchung unterzogen wurden (irakischer Staatsbürgerschaftsnachweis, Personalausweis) – als Totalfälschungen herausgestellt. Hinsichtlich des BF2 wurden keine Identitätsdokumente vorgelegt. Die oben festgestellten Identitäten können damit nur als Verfahrensidentitäten gelten.
Die Angaben der BF zu ihrer Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und Glaubensrichtung waren hingegen nicht zweifelhaft.
Die getroffenen Feststellungen zu ihrem bisherigen Leben im Irak und zu ihren Angehörigen im Herkunftsstaat beruhen unmittelbar auf den weitgehend glaubhaften Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Hinsichtlich des bisherigen Lebens der BF im Irak ist auf Folgendes hinzuweisen:
Die BF1 gab im Verfahren vor der belangten Behörde noch an, sie habe sich im Jahr 2007 von ihrem damaligen Ehegatten scheiden lassen, ca. zwei Jahre danach sei dieser verstorben; im Jahr 2010 habe sie dann die Obsorge (für den BF2, ihr einziges Kind [vgl. BF1, AS 62]; Anm.) bekommen (BF1, AS 68). In der Beschwerde wurde ausgeführt, dass ihr Sohn bis 2010 vom Ex-Mann versorgt worden sei (BF1, AS 215). In der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht gab die BF1 sodann an, der Vater ihres Sohnes, mit dem sie verheiratet gewesen sei, sei im Jahr 2003 getötet worden, weshalb die BF1 aus Angst, dass die Familie ihres verstorbenen Mannes ihr den Sohn wegnehme, im Jahr 2008 nach Syrien gegangen sei (vgl. Verhandlungsschrift S. 11). Es kann in Anbetracht dieser Widersprüche lediglich festgestellt werden, dass die BF1 in der Vergangenheit bereits verheiratet war und der BF2 dieser ersten Ehe entstammt.
Den Angaben des zweiten (nunmehrigen Ex-)Ehegatten der BF1, XXXX , in seinem Verfahren zufolge, hat er den BF2 adoptiert (vgl. seine Angaben im Verfahren zu IFA-/Verfahrenszahl: XXXX , AS 89).
Hinsichtlich des Vorbringens zur Scheidung von ihrem zweiten Ehemann XXXX ist anzumerken, dass dieser bereits im Beschwerdeschriftsatz vom 24.5.2017 an mehreren Stellen als „Exmann“ der BF1 und sie selbst als „geschieden“ bezeichnet wird (vgl. BF1, AS 225, 229), obwohl die BF1 in der mündlichen Verhandlung angab, dass die Ehe erst im Juli 2017 geschieden worden sei und dazu eine Scheidungsurkunde in arabischer Schrift in Vorlage brachte (vgl. Verhandlungsschrift S. 7).
Die Feststellungen zu den gesundheitlichen Problemen der BF1 gründen sich auf ihr Vorbringen im Rahmen der mündlichen Verhandlung (Verhandlungsschrift S. 9) sowie auf die im Verfahren vorgelegten medizinischen Befunde vom 9.4.2018 und 26.6.2020.
2.2. Zum Fluchtvorbringen der BF:
2.2.1. Zur behaupteten Verfolgungsgefahr durch Milizen aufgrund der Tätigkeit des Ex-Ehegatten der BF1:
Die BF1 gab bei ihrer Erstbefragung an, ihr damaliger Ehegatte sei aufgrund seiner Tätigkeit im Irak von einer Miliz bedroht worden. Er habe abgelehnt, mit dieser zusammenzuarbeiten und sei deshalb mit Bombardierung bedroht worden; aufgrund dessen seien sie aus dem Irak geflüchtet (BF1, AS 7). In ihrer niederschriftlichen Einvernahme durch die belangte Behörde führte die BF1 aus, dass zuerst ihr Mann bedroht worden sei. Dann sei die BF1 von zwei Frauen im Friseursalon aufgefordert worden, ihr Geschäft zu schließen. Danach hätten sie vier Männer im Geschäft angegriffen und geschlagen; die BF1 hätte geblutet und ihr ungeborenes Kind verloren. Es sei ihnen weiter gedroht worden, sie hätten den BF2 entführen wollen und sei ihnen schriftlich gedroht worden. Die Familie sei zunächst zum Bruder der BF1 geflüchtet und am 22.3.2013 mit dem Bus in die Türkei ausgereist (BF1, AS 65).
In der Türkei wurden die BF am 6.8.2014 von UNHCR als Mandatsflüchtlinge anerkannt (vgl. die vorgelegten UNHCR Refugee Certificates vom 6.8.2014).
Da seit den behaupteten fluchtauslösenden Ereignissen jedenfalls ein Zeitraum von siebeneinhalb Jahren verstrichen ist, war zu prüfen, ob die BF bei einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen aus diesen Gründen zu befürchten hätten.
Dies war aus folgenden Gründen zu verneinen:
Eingangs ist dazu festzuhalten, dass der nunmehrige Ex-Ehegatte der BF1, XXXX , mittels eines im April 2017 von der Irakischen Botschaft in Wien ausgestellten Heimreisezertifikats am 8.5.2017 in den Irak zurückgekehrt ist (vgl. die Verständigung von IOM vom 9.5.2017 sowie den von der irakischen Botschaft ausgestellten laissez-passer; beides erliegend im Verfahrensakt des Ex-Ehegatten der BF1, IFA-/Verfahrenszahl: XXXX , AS 127 ff).
Soweit in der Beschwerde vorgebracht wird, dass die Rückkehr des Ehegatten der BF1 in den Irak noch kein hinreichender Beweis sei, dass die Gefahr nicht mehr bestehe (BF1, AS 229), sind dem die Aussagen der BF1 selbst in der mündlichen Verhandlung entgegenzuhalten. Zur Rückkehr ihres Ex-Ehegatten in den Irak befragt gab die BF1 nämlich Folgendes an (Verhandlungsschrift S. 8):
"VR: Wissen Sie warum er unbedingt in den Irak zurückkehren wollte?
P1: Einerseits wollte er zu seiner damaligen Tätigkeit zurückkehren und diese fortsetzen. Nachgefragt welche dies war gebe ich an, dass er als Leibwächter für einen Politiker, einer angesehenen Person, gearbeitet. Einerseits wollte er zu seiner Arbeit zurückkehren und diese Arbeit weiter ausüben, so hat er mir das gesagt. Zweitens ist er es nicht gewohnt, in einem fremden Land zu wohnen. Er hatte Sehnsucht nach seiner Heimat."
Über weiteres Befragen gab die BF1 an (Verhandlungsschrift S. 12 f):
"VR: Ihr Ex-Mann hat in seinem Verfahren vorgebracht, er sei aufgrund seines Berufes, konkret der Bewachungstätigkeit, bedroht worden, bzw. Milizen hätten versucht ihn zu rekrutieren. Nun haben Sie heute gesagt, dass ein Hauptgrund für die Rückkehr ihres Ex-Mannes war, dass er seinen Beruf wieder ausüben will, was er offensichtlich auch wieder macht. Heißt das, dass die in diesem Zusammenhang vorgebrachte Bedrohung nicht mehr aktuell ist?
P1: Die Drohungen hat es schon gegeben, als ich mit ihm neu verheiratet war, hat man gedroht meinen Sohn zu entführen. Ich persönlich wurde in meinem Friseursalon attackiert und habe mein Baby verloren.
VR: War diese Attacke auch wegen Ihres damaligen Mannes?
P1: Ja. Wegen meiner Ehe zu diesem Mann. Deswegen haben wir Richtung Türkei verlassen. Warum er zurückkehrte und warum er diese Tätigkeit wieder ausübt, dafür habe ich keine Erklärung.
VR: Wäre es nicht denkbar, dass sich in Hinblick auf dieses Problem die Lage gebessert hat?
P1: Wir sind jetzt getrennt, er hat sein eigenes Leben, ich muss mich hier auf meinen Sohn konzentrieren. Wie er seine Gefahr und seine Probleme im Irak löst ist seine Angelegenheit, das ist sein Problem. Wenn er sich in Gefahr begibt ist das sein Problem.
VR: Anders gefragt, Sie haben gesagt, dass Ihre Probleme bzw. Ihre damaligen Attacken auch auf Sie in Zusammenhang mit Ihrem damaligen Mann standen. Im Fall einer hypothetischen Rückkehr: Sie sind jetzt nicht mehr mit diesem Mann verheiratet, wollen mit ihm nichts mehr zu tun haben, würden dann diese ursprünglichen Probleme dann auch wieder aktuell sein?
P1: Die Gefahr bei einer Rückkehr, die ich jemals erleben könnte und mein Sohn, können sein wegen der allgemeinen Lage, die Situation ist sehr gefährlich im Irak, wir können jederzeit entführt werden von den Milizen. Er (mein Ex-Mann) hat uns auch mit dem Tod bedroht. Da habe ich auch Angst vor ihm."
Die von der BF1 zu diesem Themenbereich vorgebrachten Fluchtgründe stehen ausschließlich im Zusammenhang mit der damaligen Bewachungstätigkeit ihres Ex-Ehegatten im Irak. Auch die behaupteten Angriffe auf die Person der BF1 in ihrem Friseursalon sind untrennbar mit der Tätigkeit ihres Ex-Ehegatten im Irak verbunden. Angesichts des Umstandes, dass dieser nun aus Österreich wieder in den Irak zurückkehrte, um gerade jene Tätigkeit wiederaufzunehmen, aufgrund derer er und seine Familie (wie im Verfahren behauptet) asylrelevanter Verfolgung – bis hin zur Flucht aus dem Heimatland – ausgesetzt gewesen sein sollen, drängt sich beinahe zwingend der Schluss auf, dass die behauptete Gefahr im Herkunftsstaat jedenfalls nicht (mehr) besteht, zumal die Motive des Ex-Ehegatten der BF1 für seine Rückkehr in den Irak lediglich im Wunsch nach Wiederaufnahme seiner bisherigen Arbeit und in der Sehnsucht nach seiner Heimat gelegen waren. Die Ausführungen in der Beschwerde, die Rückkehr des Ex-Ehegatten der BF1 in den Irak sei kein hinreichender Beweis dafür, dass die Gefahr nicht mehr bestehe, wirken vor diesem Hintergrund als lebemsfremd und kann zweifellos ausgeschlossen werden, dass sich der Ex-Ehegatte der BF1 aus den eben angeführten – denkbar schwachen – Motiven aus freien Stücken, nachdem er bereits einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt hatte, wieder in den Irak und damit geradewegs in die behauptete Todesgefahr (Rückkehrbefürchtung der BF1: „Bombardierung“; vgl. BF1, AS 8) begeben würde. Das ursprüngliche Fluchtvorbringen, insbesondere in Hinblick auf die konkreten BF – die BF1 ist mittlerweile geschieden und besteht keinerlei Kontakt mehr zu ihrem Ex-Ehegatten – ist damit evidentermaßen nicht mehr aktuell. Die BF1 bestätigte in ihrer Einvernahme, dass dies „seine [gemeint: ihres Ex-Ehegatten] Angelegenheit“ und „sein Problem“ sei; sie seien jetzt getrennt, er habe sein eigenes Leben. Auf konkrete Nachfrage, ob die ursprünglichen Probleme wieder aktuell sein würden, jetzt, da sie nicht mehr mit ihrem damaligen Ehegatten verheiratet sei und auch nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle, bezog sich die BF1 hinsichtlich einer allfälligen Rückkehrgefährdung nur noch auf die allgemeine Lage im Irak bzw. auf eine angeblich von ihrem Ex-Ehegatten selbst ausgehende Gefahr. Dass die BF bei einer Rückkehr in den Irak tatsächlich einer Gefährdung aus den ursprünglich vorgebrachten Fluchtgründen ausgesetzt wären, ist damit nicht ersichtlich.
Eine aktuelle Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung der BF durch Milizen aufgrund der Tätigkeit des Ex-Ehegatten der BF1 im Irak war damit zu verneinen.
2.2.2. Zur behaupteten Verfolgungsgefahr durch den Ex-Ehegatten der BF1:
Im Beschwerdeschriftsatz wurde erstmals vorgebracht, dass der Ex-Ehegatte der BF1 dieser gegenüber sehr gefühlskalt und aggressiv gewesen sei. Er habe den BF2 regelmäßig geschlagen und eingeschüchtert und sei in Österreich vermehrt handgreiflich gegen die BF1 geworden und habe sie zusehends eingeschüchtert. Ihr Verhältnis habe sich immer verschlechtert und habe ihr Mann der BF1 nicht einmal mitgeteilt, dass er freiwillig in den Irak zurückkehren werde. Sie habe dies erst über die Caritas erfahren. Die BF1 pflege keinen Kontakt mehr zu ihrem Mann und wolle diesen auch nicht mehr sehen (BF1, AS 217); sie habe Angst vor ihrem Mann (BF1, AS 229). In der mündlichen Verhandlung stellte die BF1 die Umstände der Rückkehr ihres Ehegatten in den Irak in diametralem Widerspruch zum bisherigen Vorbringen dar; nicht die Caritas habe die BF1 über seine Rückkehr informiert, sondern habe ihr Mann selbst der BF1 diese „kurzfristig“ mitgeteilt. Die BF1 sei mit ihrem Sohn zur Diakonie gegangen und hätte dort seine Rückkehr bekanntgegeben (vgl. Verhandlungsschrift S. 8). Schon diese gänzlich verschiedenen Sachverhaltsversionen lassen erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt des erstatteten Vorbringens zu den Umständen der Rückkehr des Ehegatten der BF1 und dessen Drohungen aufkommen. So erhellt nicht, weshalb ihr Ehegatte die BF1 zunächst (lediglich) fragen sollte, ob sie mit ihm in den Irak zurückkehre und als sie dies verneint habe, schließlich sämtliche für eine Rückkehr – nur seiner Person – notwendigen Schritte heimlich setzen (Beantragung eines Heimreisezertifikates) (vgl. Verhandlungsschrift S. 8) und die BF1 erst einen Monat nach seiner Rückkehr in den Irak bedrohen sollte, weil sie die „Rückkehr verweigert“ hätte (vgl. Verhandlungsschrift S. 7). Die BF1 begründete dies damit, dass ihr Ehegatte die Drohungen ausgesprochen habe, nachdem er die Hoffnung, dass (auch) die BF1 in den Irak zurückkehren würde, verloren hätte; dies sei im Jahr 2017 gewesen. Danach habe die BF1 nichts mehr von ihm gehört (vgl. Verhandlungsschrift S. 14). Dass die BF1 (oder ihr Sohn) weiterhin bedroht würden, wurde nicht vorgebracht und erscheinen auch die behaupteten, mittlerweile drei Jahre in der Vergangenheit liegenden Drohungen – insbesondere vor dem Hintergrund der folgenden, seither eingetretenen Umstände – eine aktuelle Gefährdung keineswegs nahezulegen: So ist die BF1 mittlerweile von ihrem Ehegatten geschieden; zur Scheidung hat auch ihr Ehegatte selbst zugestimmt. Der (nunmehrige Ex-)Ehegatte der BF1 ist im Irak auch wieder verheiratet; mit dieser Frau hat er auch Kinder aus der Zeit vor der Ehe mit der BF1 (Verhandlungsschrift S. 9). Es besteht, wie bereits erwähnt, kein Kontakt der BF1 mehr mit ihrem Ex-Ehegatten; auch der Bruder der BF1, der für diese im Irak die Scheidungsmodalitäten geregelt hat, sieht den Ex-Ehegatten der BF1 seit der Scheidung nicht mehr (Verhandlungsschrift S. 9). Überhaupt sind keinerlei Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass zwischen den Familienangehörigen der BF1 einerseits und dem Ex-Ehegatten andererseits noch Kontakt bestehen würde; die BF1 betonte, er habe „ein eigenes Leben“ (vgl. Verhandlungsschrift S. 13). Auf Vorhalt des erkennenden Gerichtes, dass die BF1 selbst angegeben hat, dass ihr Ex-Mann wiederum verheiratet sei und Familie habe, gab die BF1 befragt zu dessen Motiv, ihr jetzt noch etwas anzutun, an: „Das wird keine Rolle spielen, Irak herrschen keine Gesetze und macht jeder, was er will und die Rache herrscht sehr häufig im Irak, das ist einer der Gründe warum ich nicht in den Irak zurückkehren möchte. Er meint das natürlich ernst. Die Situation im Irak, die Sicherheit ist sehr schlecht, wird nicht gewährt, die Situation wird immer schlechter, es werden Menschen auf offener Straße getötet.“ (Verhandlungsschrift S. 14). Damit hat die BF1 allerdings keine konkreten Gründe behauptet, weshalb ihr Ex-Ehegatte auf Rache sinnen sollte, zumal er der Scheidung zugestimmt hat, im Irak mittlerweile wieder ein eigenes Familienleben führt und die BF seither nie wieder kontaktiert hat; der Verweis auf eine allgemein schlechte Sicherheitslage im Irak vermag ein konkretes Vorbringen zur (aktuellen) Gefahr einer individuellen Verfolgung nicht zu ersetzen. Auf die Frage, ob es bei einer hypothetischen Rückkehr nicht einfach möglich wäre, dem Ex-Mann aus dem Weg zu gehen, antwortete die BF1 lediglich ausweichend und bezog sich wiederum bloß allgemein auf die fehlende Sicherheit und die Gefahren für die BF im Irak (Verhandlungsschrift S. 14). Soweit der Rechtsvertreter der BF in der mündlichen Verhandlung den BF2 dazu befragt hat, ob sein Vater im Fall einer Rückkehr in den Irak Anspruch darauf erheben würde, dass der BF2 zu ihm komme (der BF2 antwortete darauf: „Das weiß ich nicht“) (Verhandlungsschrift S. 15), so werden auch dadurch keine wie auch immer gearteten Rachemotive des Ex-Ehegatten der BF1 oder sonstige Gefährdungsmomente aufgezeigt, zumal der leibliche Vater des BF2 dem Vorbringen der BF1 zufolge bereits verstorben ist (vgl. die Ausführungen unter Punkt 2.1.) und der Ex-Ehegatte der BF1 den BF2 zwar adoptiert hat, aber nichts darauf hindeutet, dass er den Kontakt zum BF2 überhaupt wiederherstellen wollte, was sich schon daran zeigt, dass er seit seiner Rückkehr in den Irak – seit mittlerweile drei Jahren – tatsächlich keinen Kontakt zum BF2 aufzunehmen versucht hat.
Für das erkennende Gericht sind keine Gründe ersichtlich, weshalb die BF im Irak gezwungen wären, wieder mit dem Ex-Ehegatten der BF1 in Kontakt zu treten, zumal auch ihre Familienangehörigen keinerlei Kontakte mit diesem pflegen; vielmehr ist unter Berücksichtigung der soeben dargestellten Umstände auszugehen, dass die BF auch im Irak weiterhin (wie dies ohnehin seit Jahren der Fall ist) nicht vom Ex-Ehegatten der BF1 behelligt würden.
Insgesamt kann daher nicht festgestellt werden, dass die BF bei einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr einer Verfolgung oder Gefährdung oder einer sonstigen Gefahr für Leib oder Leben durch den Ex-Ehegatten der BF1 ausgesetzt wären.
2.3. Zu den weiteren Rückkehrbefürchtungen der BF und zur aktuellen Lage im Irak:
Was die Feststellung anbelangt, dass eine asylrelevante Verfolgung der BF aufgrund ihrer schiitischen Glaubensrichtung, ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe aufgrund ihres Geschlechts, ihres Familienstandes oder ihrer Lebenseinstellung oder eine sonstige Gefahr einer Verfolgung nicht festgestellt werden kann und die BF im Fall ihrer Rückkehr in den Irak auch keiner sonstigen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wären oder in keine existenzbedrohende Notlage geraten würden, so ist dazu Folgendes auszuführen:
2.3.1. Zur schiitischen Glaubensrichtung der BF:
Unstrittig ist, dass sich die BF zum schiitischen Islam bekennen (vgl. BF1, AS 59; Verhandlungsschrift S. 14 f). In der Beschwerde wird moniert, dass sich die belangte Behörde nicht mit der religiösen Zugehörigkeit zu den Schiiten auseinandergesetzt habe (AS 229).
Aus den aktuellen Länderberichten zum Irak ergibt sich keine besondere Gefährdungslage von Schiiten im Zentralirak bzw. konkret in Bagdad:
Die wichtigste ethnisch-religiöse Gruppierung im Irak sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65% der Bevölkerung ausmachen (vgl. Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020, S. 7). Die Schiiten dominieren das politische System im Irak; die Mehrheit der Einwohner von Bagdad sind Schiiten (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, S. 8 u. 21).
Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme durch die belangte Behörde gab die BF1 ausdrücklich an, dass es keine Verfolgung ihrer Person alleine aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit gegeben habe (BF1, AS 69). Das nunmehrige Beschwerdevorbringen hinsichtlich einer allfälligen Gefährdung aufgrund ihres schiitischen Glaubensbekenntnisses blieb im Verfahren gänzlich unsubstantiiert und kann damit angesichts der Berichtslage zum Irak nicht von einer maßgeblichen Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen Gefährdung der BF aus Gründen ihrer Zugehörigkeit zum schiitischen Islam ausgegangen werden.
2.3.2. Zur Stellung der Frauen im Irak:
Die BF1 führt eine Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der geschiedenen, alleinerziehenden und westlich orientierten Frauen ins Treffen (vgl. BF1, AS 233).
Im Hinblick auf geschlechtsspezifische Verfolgung im Irak wird im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 15):
"Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichem Leben in Irak verhindert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z. B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Laut UNESCO (2018) sind 44% der Frauen über 15 Jahre des Lesens und Schreibens mächtig (Männer: 56%). In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. 24,3% der 20-24jährigen Frauen wurden laut UNICEF (2018) vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. […]"
Im Hinblick auf die Situation von Frauen im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 98 ff und 105 ff):
"Häusliche Gewalt ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem […], vor dem Frauen nur wenig rechtlichen Schutz haben […]. Das irakische Strafgesetz enthält zwar Bestimmungen zur Kriminalisierung von Körperverletzung, es fehlt jedoch eine ausdrückliche Erwähnung von häuslicher Gewalt […]. Der Irak hat zwar eine nationale Strategie gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen angenommen, aber noch kein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt verabschiedet […].
Nach Artikel 41, Absatz 1 des Strafgesetzbuches hat der Ehemann das Recht, seine Frau innerhalb der durch Gesetz oder Gewohnheit vorgeschriebenen Grenzen zu disziplinieren […]. Diese Grenzen sind recht vage definiert, sodass verschiedene Arten von Gewalt als "rechtmäßig" interpretiert werden können. Nach Artikel 128 Absatz 1 des Strafgesetzbuches können Straftaten, die aufgrund der "Ehre" oder "vom Opfer provoziert" begangen wurden, ungestraft bleiben, bzw. kann in solchen Fällen die Strafe gemildert werden. Täter, die Gemeinschaft, aber auch Opfer selbst sehen häusliche Gewalt oft als "normal" und rechtfertigen sie aus kulturellen und religiösen Gründen […]. Frauen tendieren dazu häusliche Gewalt aus Scham oder Angst vor Konsequenzen nicht zu melden, manchmal auch um den Täter zu schützen […]. Viele Frauen haben kein Vertrauen in die Polizei und halten den von ihr gebotenen Schutz für nicht angemessen […].
Während sexuelle Übergriffe, wie z.B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Artikel 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet […]. Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist […]. Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar […].
[…]
Der Irak verfügt zurzeit über keinen adäquaten rechtlichen Rahmen, um Frauen und Kinder vor häuslicher, sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen […].
[…]
Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft […]. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken […]. Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, den Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten […].
[…]
Die hohe Anzahl an Todesopfern in den Konfliktjahren, die meisten davon männlich, hat zu einem hohen Anteil an Haushalten mit weiblichen Familienoberhäuptern geführt […]. Einer Studie zufolge haben etwa 8,9% der Haushalte einen weiblichen Haushaltsvorstand […]. Gemäß einer anderen Quelle sind allein 10% der irakischen Frauen Witwen und viele davon Alleinversorgerinnen ihrer Familien […].
Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem (PDS). Viele sind auf Unterstützung durch ihre Familien, Behörden und NGOs angewiesen. Während theoretisch die meisten Frauen im Irak theoretisch Anspruch auf öffentliche oder NGO-Hilfe haben, erhalten in der Praxis nur 20-25% von ihnen diese Hilfe. Darüber hinaus deckt die Hilfe nur einen Teil des jeweiligen Haushaltsbedarfs ab […]. Haushalte mit weiblichen Familienoberhäuptern sind besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung […]. Aufgrund vieler Hindernisse beim Zugang zu Beschäftigung müssen Frauen auf andere Mittel zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wie Geld leihen, Essen rationieren und ihre Kinder zur Arbeit schicken […].
Im Kontext einer Gesellschaft, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen traditionell gering ist, sind solche Haushalte mit erhöhten bürokratischen Hindernissen und sozialer Stigmatisierung, insbesondere auch im Rückkehrprozess konfrontiert […].
Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden […]. Alleinstehende Frauen und Witwen haben oft Schwierigkeiten, ihre Kinder registrieren zu lassen, was dazu führt, dass den Kindern staatliche Leistungen, wie Bildung, Lebensmittelbeihilfen und Zugang zum Gesundheitswesen verweigert werden […].
[…]
Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Sie müssen jedoch damit rechnen, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen oder als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet zu werden. Im Rahmen einer Ehescheidung wird das Sorgerecht für Kinder ganz überwiegend den Vätern (und ihren Familien) zugesprochen […]. Nach anderen Angaben bleibt eine Scheidung im Irak weiterhin mit starkem sozialen Stigma verbunden […].
[…]
Auch Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen […]. Im Jahr 2018 gab es einige Morden an Frauen, die in der Öffentlichkeit standen und als gegen soziale Gebräuche und traditionelle Geschlechterrollen verstoßend wahrgenommen wurden, darunter Bürgerechtlerinnen und Personen, die mit der Beauty- und Modebranche in Verbindung standen […].
Mädchen und Frauen haben immer noch einen schlechteren Zugang zu Bildung. Je höher die Bildungsstufe ist, desto weniger Mädchen sind vertreten. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für die Mädchen ab oder ziehen eine "frühe Ehe" für sie vor […]."
Das Gericht verkennt nicht, dass sich die Situation von Frauen im Irak vielfach als schwierig darstellt und besonders geschiedene Frauen häufig Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt sind. Aus der Berichtslage ergibt sich jedoch nicht, dass bereits jede (geschiedene) Frau schon aufgrund der bloßen Tatsache ihres Aufenthalts im Irak einer entsprechenden Verfolgungsgefahr unterliegt, was sich im konkreten Fall auch daran zeigt, dass einige Schwestern der BF1 geschieden sind und weiterhin im Irak leben können, dort auch finanziell unterstützt werden (Verhandlungsschrift S. 7). Dass die BF1 einer besonderen Gefährdungssituation unterliegen würde, weil sie einen (nunmehr) 17-jährigen Sohn hat, ist nicht ersichtlich. Ähnliches gilt für den Umstand, dass sich die BF1 ca. fünf Jahre lang in einem westlichen Land aufgehalten hat. Die BF1 brachte in der mündlichen Verhandlung vor, dass sie unverschleiert sei; die Situation im Irak sei sehr gefährlich (vgl. Verhandlungsschrift S. 12). Auf die Frage des erkennenden Gerichtes, ob sie seinerzeit im Irak verschleiert gewesen sei, gab sie an (Verhandlungsschrift S. 13):
P1: "Nein. Ich war nicht verschleiert, aber ich war mit ihm verheiratet, also in seinem Schutz.
VR: Das heißt, Sie konnten auch damals ohne Schleier auf die Straße gehen?
P1: In früheren Zeiten, in der Saddam Zeit, war die Sicherheitslage anders. Später, in späterer folge, hat es die bewaffneten Milizen gegeben, als die Amerikaner auch bei uns waren, dort ist es sehr gefährlich für eine Frau."
Es trifft zu, dass im Irak insbesondere auch Frauen unter Druck stehen, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft, und einige Muslime weiterhin Frauen und Mädchen bedrohen, wenn sich diese weigern, den Hijab zu tragen bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten.
Das Gericht anerkennt die persönliche Entscheidung der BF1, kein Kopftuch zu tragen, wie sie dies bereits im Irak getan hat. Dass es die BF1 allerdings als Ausdruck ihrer Identität und einer westlichen Lebenseinstellung verstehen würde, das Kopftuch abzulehnen, legte sie in keiner Weise dar, vielmehr beschränkte sie sich bei der Schilderung ihrer Rückkehrbefürchtungen darauf, bloß zu erwähnen, dass sie unverschleiert sei: "Zuerst, [S]ie sehen, dass ich unverschleiert bin. Die Situation im Irak ist sehr gefährlich…" (Verhandlungsschrift S. 12). Auch sonst sind in der mündlichen Verhandlung keinerlei Anhaltspunkte dafür hervorgekommen, dass es die BF1 als unzumutbaren Eingriff in ihre Lebensweise empfinden würde, sich im Irak an bestimmte religiöse oder gesellschaftliche Gebote zu halten, z.B. ein Kopftuch zu tragen; die BF1 erwähnte solches mit keinem Wort. In ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde am 25.8.2016 gab die BF1 an, nach wie vor "gläubiger Moslem" zu sein (BF1, AS 68); in der mündlichen Verhandlung bejahte sie weiterhin, Schiitin zu sein (vgl. Verhandlungsschrift S. 14 f) und schränkte dies nicht weiter ein. Die BF1 hat auch nicht dargelegt, ob und welche (weiteren) Verhaltensweisen und Ansichten bei ihr nunmehr vorliegen würden, um tatsächlich von einem westlichen Lebensstil in identitätsstiftender Art und Weise ausgehen zu können; zusätzliche, in der Person der BF1 gelegene Faktoren, kamen gegenständlich ebenso nicht hinzu (vgl. etwa das Erkenntnis des VfGH vom 23.9.2019, E 2018/2019; hier hatte die Beschwerdeführerin ihren als westlich wahrgenommen Lebensstil insbesondere als Bloggerin in sozialen Medien zum Ausdruck gebracht). Der Umstand, dass die BF1 im Irak als Friseurin gearbeitet hat (vgl. BF1, AS 64), stellt nach Ansicht des erkennenden Gerichtes noch kein Indiz für einen westlichen Lebensstil dar. Dass die BF1 aufgrund ihres Lebensstils im Irak einer realen Gefahr ausgesetzt wäre, konnte damit nicht festgestellt werden.
Die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung oder einer sonstigen Gefahr für Leib oder Leben der BF1 als Angehörige einer sozialen Gruppe aufgrund ihres Geschlechts, Familienstandes oder ihrer Lebenseinstellung war damit zu verneinen.
2.3.3. Zur Sicherheitslage im Irak:
Im Hinblick auf die Sicherheitslage im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt:
Zur allgemeinen Sicherheitslage (S. 14):
"Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat […]. Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert […]. Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete […].
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren […]. […]"
Zur Sicherheitslage in Bagdad (S. 21 ff):
"Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden […].
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden […]. Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt […]).
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen […], doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen […]. Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden […].
Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet […]. Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad […].
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet […], im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten […]. Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar […]
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren […].
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen."
Wenngleich die Berichte noch ein durchaus problematisches Bild von der Sicherheitslage im Irak – so auch in Bagdad – zeichnen, kann daraus nach Ansicht des erkennenden Gerichtes aber nicht abgeleitet werden, dass gleichsam jeder, der dorthin verbracht wird, einer maßgeblichen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt ist. Die Gefahr einer aktuellen, asylrelevanten Verfolgung der BF wurde bereits verneint; eine maßgebliche Gefährdung der BF allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage konnte – insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach wie vor zahlreiche Familienangehörige der BF (konkret: die Mutter der BF1, zwei ihrer Brüder und fünf ihrer Schwestern; vgl. Verhandlungsschrift S. 6) im Irak leben und überdies keine Anhaltspunkte für eine erhöhte Sicherheitsgefährdung der BF als Zivilpersonen hervorgekommen sind – nicht festgestellt werden.
2.3.4. Zur Versorgungs- und Wirtschaftslage im Irak:
Im Hinblick auf die Grundversorgung im Irak wird im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 25):
"Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Jenseits des Ölsektors – daraus stammen 90% der Staatseinnahmen – verfügt Irak kaum über eigene Industrie. Der Hauptarbeitgeber ist die öffentliche Hand. Über 4 Mio. der geschätzt 38 Mio. Iraker sind Staatsbedienstete.
Öffentliche Gehälter wurden in den letzten Jahren aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise gar nicht oder erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt. Nach Angaben der Weltbank (2018) leben über 70 % der Iraker in Städten, wobei die Mehrzahl der Stadtbewohner in prekären Verhältnissen lebt, ohne ausreichenden Zugang zu öffentlichen Basis-Dienstleistungen. Bedürftige erhalten Lebensmittelgutscheine, mit denen sie in speziellen staatlichen Geschäften einkaufen können. Die vom "IS" befreiten Gebiete sind immer noch stark durch improvisierte Sprengfallen oder nicht-explodierte Kampfmittel kontaminiert. Einige Städte und Siedlungen sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv von UNDP und internationalen Gebern unterstützt. Deutschland ist seit 2014 mit kumuliert ca. 2 Mrd. Euro einer der größten Geber.
Über die befreiten Gebiete hinaus ist im gesamten Land die durch Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur stark sanierungsbedürftig. Die Versorgungslage ist für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Nach Angaben der WHO (2014) leben 17% der Bevölkerung unterhalb der internationalen Armutsgrenze (1,90 USD/Tag). Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt.
Die Stromversorgung ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten häufig unterbrochen. In der RKI erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag, insbesondere im Sommer und Winter (höherer Verbrauch durch Klimatisierung und Heizperiode).
Die Wasserversorgung leidet unter völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen. Sie führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Hinzu kommt Verschmutzung durch (Industrie-)Abfälle. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. Kritisch wird die Wasserversorgung in den Sommermonaten immer wieder in der Hafenstadt Basra (ca. 2 Mio. Einwohner), die insbesondere im Sommer 2018 unter einer Wasserkrise litt. Über 100.000 Fälle von registrierten Magen-Darm-Erkrankungen waren auf die schlechte Wasserqualität zurückzuführen."
Im Hinblick auf die Grundversorgung und Wirtschaft im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt:
Zur Wirtschaftslage (S. 134 f):
"Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 […]. Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet […]
Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar […]. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat […]
Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung […].
Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen […]. Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an […]. Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unters