TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/17 W191 2144993-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.11.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

17.11.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W191 2144993-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.12.2016, Zahl 1047941809-140276613, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.01.2020 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides gemäß §§ 3 und 8 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden behoben und die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 9 BFA-Verfahrensgesetz auf Dauer für unzulässig erklärt.

III.     XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und 2 und § 58 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte nach seinem Aufgriff am 11.12.2014 im Gemeindegebiet von Mönchhof (Burgenland) gemeinsam mit mehreren anderen Fremden im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle mangels eines gültigen Aufenthaltstitels einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Ein EURODAC-Anfrage ergab, dass der BF am 16.11.2014 in Bulgarien erkennungsdienstlich behandelt worden war.

1.2. In seiner Erstbefragung am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, gab der BF an, er sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, [sunnitischer] Moslem und ledig. Das Geburtsdatum des BF wurde nach seinen Angaben mit XXXX festgehalten. Er stamme aus Khogiani, Provinz Nangarhar, und habe zwölf Klassen die Grundschule in Jalalabad und Mazar-e Sharif besucht. Zu Hause lebten noch seine Eltern, fünf Brüder und fünf Schwestern.

Der BF gab an, er sei vor ca. zwei Monaten per Flugzeug von Jalalabad in den Iran gereist und von dort weiter über die Türkei, Bulgarien und Serbien schlepperunterstützt bis nach Österreich gebracht worden.

Als Fluchtgrund gab der BF an, seine Familie sei seit mehreren Jahren mit einer anderen Familie verfeindet, weshalb bereits sein Großvater getötet worden sei. Diese Familie arbeite jetzt mit den Taliban zusammen und sei sehr gefährlich und unberechenbar. Deshalb habe ihm sein Vater zur Flucht geraten, damit sein Leben nicht gefährdet sei.

1.3. Mit Eingabe vom 22.12.2014 gab der BF an, dass bei seiner Erstbefragung beim Alter ein Fehler gemacht worden sei, er sei am XXXX (ungerechnet XXXX ) geboren.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) hatte offenbar Zweifel an dem vom BF zuletzt angegebenen Alter und veranlasste eine sachverständige medizinische multifaktorielle Altersschätzung.

Dem Gutachten vom 04.04.2015 (nach Untersuchung am 25.03.2015) zufolge ergab sich ein Mindestalter von 17,6 Jahren und ein spätestmögliches fiktives Geburtsdatum XXXX Eine Minderjährigkeit des BF könne nicht ausgeschlossen werden.

1.4. Das BFA führte aufgrund der Angaben des BF zu seiner Reise und aufgrund des EURODAC-Treffers Konsultationen gemäß Dublin-Übereinkommen mit dem Mitgliedstaat Bulgarien betreffend die Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF.

Bulgarien stimmte zwar einer Rücküberstellung mit Schreiben vom 08.04.2015 zu – in Bulgarien hatte der BF als Geburtsdatum den XXXX angegeben –, das BFA machte davon aber offenbar im Hinblick auf das Ergebnis der Altersfeststellung – minderjährig – keinen Gebrauch und ließ den BF zum materiellen Verfahren in Österreich zu.

1.5. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 19.07.2016, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben.

Zu seinem Geburtsdatum befragt gab er an, dass sein bei der Erstbefragung angegebenes Alter stimme, er sei im Jahr XXXX geboren. Er habe nur aus Angst, nach Bulgarien abgeschoben zu werden, auf Rat seiner Freunde so wie diese angegeben, minderjährig zu sein.

Der BF beantwortete Fragen zu seinen Lebensumständen näher und gab nun an, er sei verheiratet. Er habe vor ca. vier oder fünf Jahren in Jalalabad geheiratet, zu Hause habe er eine Heiratsurkunde und ca. elf Monate mit seiner Frau ein gemeinsames Eheleben geführt. Die Ehefrau sei mit seiner Familie wegen Krieg in ihrem Distrikt nach Jalalabad gezogen. In Österreich wohne er bei seinem Onkel und dessen großer Familie, dieser sei Fahrer bei DHL.

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an (Auszug aus der Einvernahmeniederschrift, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„Ich bin bis zur 11. Klasse in die Schule gegangen, und dann konnte ich nicht weitermachen, weil die Taliban dort aktiv waren. Sie haben mich immer wieder gefragt, warum ich in die Schule gehe. Die Taliban haben mir immer vorgeworfen, dass ich Journalismus lernen möchte, um dann mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten. Zwei Mal sind die Taliban zu mir und meinen Freunde gekommen und haben uns aufgefordert, nicht mehr weiter in die Schule zu gehen. Ich habe große Angst gehabt, und deshalb habe ich die Schule abgebrochen. Durch diese Schwierigkeiten und Unsicherheiten hat sich meine Familie jetzt auf unsere Angehörigen aufgeteilt. Jeder lebt derzeit bei einem anderen Verwandten, weil wir in unserem Distrikt derzeit nicht leben können. In unserem Distrikt sind die IS und die Taliban aktiv. Egal wem wir uns anschließen würden, würden wir mit der anderen Seite Probleme bekommen und umgebracht werden. Wir haben auch Probleme mit der Regierung. Seit einem Jahr ist mein Kontakt mit meinem Vater abgebrochen. Sicher [ist er] in Afghanistan, aber wir wissen nicht wo. Die Taliban sammeln alle Jungen von meinem Dorf ein und nehmen sie nach Pakistan mit. Dort ist eine Madrasa, und dort werden die Jungen einer Gehirnwäsche unterzogen. Diese Gehirnwäsche wird mit Medikamenten unterstützt. Diese jungen Männer werden dann zu Selbstmordattentätern und Jihadisten ausgebildet. Einige Freunde von mir sind mit den Taliban gegangen. Einige Zeit später sind sie von Pakistan zurückgekommen. Dann haben sie in meinem Distrikt im XXXX Bazar einen Selbstmordanschlag gemacht. Das war der Grund, warum ich Afghanistan verlassen habe. Ich wollte nicht jemanden anderen umbringen und auch nicht selbst getötet werden.“

Der BF gab, an, seine Ausreise habe sein Onkel mütterlicherseits finanziell unterstützt. Ausgereist sei er per Flugzeug von Mazar-e Sharif aus, wo er auch seinen Führerschein erhalten habe. Er habe flüchten müssen, weil er der älteste Sohn sei. Sein Ziel sei sein in Österreich lebender Onkel gewesen. Seine Familie sei mit den Taliban verfeindet, er könne aber nicht sagen, mit welcher anderen Familie. Selbst habe er zweimal Kontakt mit ihnen gehabt, deren Gesicht sei mit einem schwarzen Schal zugedeckt gewesen.

Dem BF wurden Erkenntnisquellen zu seinem Herkunftsstaat ausgefolgt und die Möglichkeit zur Abgabe einer allfälligen Stellungnahme binnen Frist eingeräumt, von der er nicht Gebrauch machte.

1.6. Mit Bescheid vom 17.12.2016 wie das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 11.12.2014 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF „2“ [zwei] Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Sein Fluchtvorbringen beurteilte das BFA als unglaubhaft und begründete dies im Wesentlichen damit, dass er im Verfahren mehrfach angeführte unstimmige und widersprüchliche Angaben zu seinen Fluchtgründen und zu zeitlichen Abläufen sowie unwahre Angaben zu seiner Person (etwa zu seinem Geburtsdatum) gemacht habe und somit auch seiner persönlichen Glaubwürdigkeit kein sehr hohes Maß zukomme.

1.7. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 10.01.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und „Mangelhaftigkeit des Verfahrens“ ein.

In der Beschwerdebegründung wurden zunächst verfassungsrechtliche Bedenken zur damals geltenden Dauer der Beschwerdefrist von zwei Wochen ausgeführt. In weiterer Folge wurde das Vorbringen des BF zusammengefasst wiederholt und moniert, der BF fürchte Zwangsrekrutierung durch die Taliban. Aus Anlass der beweiswürdigenden Ausführungen des BFA folgten Ausführungen zur – schlechten – Situation für Asylwerber in Bulgarien und der deshalb erfolgten falschen Altersangabe. Der BF sei verheiratet und – da eine Rückkehr nach Nangarhar nicht möglich sei – im Falle einer Rückkehr daher gezwungen, sich im Familienverband in Mazar-e Sharif niederzulassen.

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

1.8. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt mit Begleitschreiben vom11.01.2017 dem BVwG vor und monierte, dass die Beschwerdefrist von zwei Wochen versäumt worden sei.

Mit Schreiben vom 25.01.2017 teilte das BFA dies sowie die damit verbundenen Rechtsfolgen per E-Mail dem Vertreter des BF mit.

1.9. Mit Parteiengehör vom 03.02.2017 teilte das BVwG dem BF mit, dass seine Beschwerde offenbar verspätet eingebracht worden sei, und räumte ihm die Gelegenheit zur Stellungnahme dazu ein.

1.10. Mit Schreiben vom 03.02.2017 machte der Vertreter des BF umfassende Ausführungen zur Frage des tatsächlichen Zeitpunktes der rechtswirksamen Zustellung des Bescheides und stellte in eventu einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

1.11. Das BVwG übermittelte dem BFA dieses Schreiben zur Stellungnahme.

Mit Stellungnahme vom 15.02.2017 machte das BFA Ausführungen dazu und führte unter anderem aus, es ließe sich nicht leugnen, dass mit dem Fehlen des Aliasgeburtsdatums ein zustellmäßiger Mangel seitens des Bundesamtes einhergegangen sei.

Das BVwG ging in der Folge von der fristgemäßen Einbringung der gegenständlichen Beschwerde aus.

1.12. Laut Bescheid des AMS vom 11.04.2017 wurde dem BF eine Beschäftigungsbewilligung als Lehrling/Auszubildender für Restaurantfachmann von 11.04.2017 bis 10.07.2020 erteilt.

1.13. Mit Urteil des Bezirksgerichts Salzburg vom 05.12.2017 wurde der BF gemäß §§ 15 und 228, 223 StGB (versuchte Urkundendelikte, gefälschter afghanischer Führerschein) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt.

Die diesbezügliche Auskunftsbeschränkung trat mit 12.04.2018 ein.

1.14. Am 31.01.2019 wurde der BF als nicht hilfsbedürftig aus der Grundversorgung des Landes Salzburg entlassen.

1.15. Laut Meldung des Stadtpolizeikommando Salzburg vom 02.11.2019 wurde der BF wegen des Verdachts der Begehung der Schweren Nötigung angezeigt, weil er einem anderen Mann vor einer Arztpraxis drohte: „Wenn du noch einmal Kindern Drogen anbieten wirst, bringe ich dich um“.

Offenbar wurde ein Verfahren diesbezüglich entweder nicht eingeleitet, oder es wurde eingestellt.

1.16. Das BVwG führte am 27.01.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF mit seinem Vertreter und einer Vertrauensperson (seinem Onkel) sowie ein Mitarbeiter des BFA persönlich erschienen.

Der Onkel des BF gab an, er sei seit ca. 2005 in Österreich und anerkannter Flüchtling seit 2011. Er lebe in Salzburg, habe sieben Jahre in einer Bäckerei gearbeitet, sei dann im Transportgewerbe tätig gewesen und möchte jetzt einen Restaurantbetrieb beginnen; er habe auch öfter bei der Diakonie als Dolmetsch gearbeitet.

Der BF gab an, er spreche Paschtu und etwas Dari und sei gesund. Zu seiner Integration legte er einen Arbeitsvertrag vom 09.05.2019, zwei Bestätigungen eines Restaurantbetriebs, Empfehlungsschreiben und weitere Bestätigungen aus dem Restaurantgewerbe sowie einen Bescheid des AMS und ein Teilprüfungszeugnis A2 (mündliche Prüfung) vor und gab dazu an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

„Ich bin seit Anfang 2019 in diesem Betrieb saisonal beschäftigt. Mein Chef möchte, dass ich eine Lehre beginne, und hat einen Antrag gestellt. Wenn alles gut geht, kann ich ab Sommer 2020 eine Lehre beginnen.“

Der BF gab an, er sei seit 2014 verheiratet und habe zwei bis drei Mal im Monat mit seiner Frau telefonischen Kontakt. Er habe keine Kinder. Er habe zunächst versucht, auf dem Landweg in den Iran zu gelangen, sei aber wieder nach Afghanistan abgeschoben worden. Das zweite Mal sei er dann von Mazar-e Sharif aus mit einem iranischen Visum nach Teheran geflogen, weil er das Visum nur in Mazar-e Sharif und nicht in Jalalabad bekommen hätte können, weil sich das iranische Konsulat in Mazar-e Sharif befinde. Ein Freund in Mazar-e Sharif habe ihm dabei geholfen. Seine Verwandten würden alle in Khogiani leben. Seinen Reisepass habe er in der Türkei verloren.

In Österreich habe er Freunde, mit denen er Sport (Volleyball) betreibe, sowie welche, die er in der Arbeit kennengelernt habe, er sei derzeit als Küchenhilfe beschäftigt. Früher habe er bei seinem Onkel in Salzburg gewohnt. Derzeit könne er bei seinem Chef ein privates Zimmer bewohnen.

Der BF sprach verständlich Deutsch.

Der BFV [Vertreter des BF] legte eine Strafregisterbescheinigung vom 10.12.2019 vor, wonach der BF keine Verurteilung aufwies. Auf Vorhalt der Verurteilung wegen des gefälschten Führerscheins sagte der BF:

„BF: Mein Freund in Mazar-e Sharif hat mir vorgeschlagen, dass ich den Führerschein machen soll. Eigentlich sollte ich sechs Monate lang den Führerschein machen, aber ich habe den innerhalb von 20 Tagen bekommen. Ich bezahlte auch den Beamten Geld dafür.

RI [Richter]: Wieso ist Ihr Geburtsjahr im Führerschein 1993?

BF: Das hat die Behörde falsch eingetragen. Ich war nur 20 Tage in Mazar-e Sharif und habe dort den Führerschein erhalten.

RI: Wieso haben Sie dann gesagt, dass Sie den Führerschein in Balkh umgetauscht haben?

BF: Nein, umgetauscht habe ich den Führerschein nicht, sondern gegen Geld den Führerschein dort gekauft.

RI: Haben Sie in Österreich jetzt einen Führerschein gemacht?

BF: Nein, ich warte jetzt auf den positiven Asylbescheid, und danach werde ich den Führerschein machen.“

Befragt zu dem Vorfall am 02.11.2019 sagte der BF:

„RI: Die Polizei hat Sie angezeigt, weil Sie am 19.08.2019 vor einer Arztpraxis von Frau XXXX jemanden bedroht haben mit den Worten: „Wenn du noch einmal Drogen an Kinder anbieten wirst, bringe ich dich um“? Was sagen Sie dazu?

BF: Dieser Mensch ist ein Drogenverkäufer und ein erwachsener Mann. Er war mit meinem Cousin (16 Jahre alt) unterwegs. Ich habe den Menschen gebeten, dass er nicht mehr mit meinem Cousin unterwegs sein wird und ihm keine Drogen überlässt.

BFA wird die Möglichkeit eingeräumt, Fragen an den BF zu stellen.

BFA: Von wem wurden Sie angezeigt? Wie heißt der Mann, der Drogen verkauft?

BF: Dieser Mann ist über 30 Jahre alt. Wie er heißt, weiß ich jetzt nicht mehr. Dieser Mensch ist in Salzburg der Polizei bekannt. Er hat viele Straftaten begangen.“

Der BF gab an, er habe Kontakt mit seiner Frau und befrage sie auch nach dem Befinden seiner Mutter, die bei seinen drei Onkel mütterlicherseits lebe.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF an:

„RI: Wieso haben Sie bei der Erstbefragung gesagt, dass Sie wegen einer Feindschaft mit einer anderen Familie geflohen wären, aber bei der Parteieneinvernahme, dass Sie aus Angst vor Zwangsrekrutierung geflohen wären. Was sagen Sie dazu?

BF: Ja, beide Erzählungen stimmen. Die Zwangsrekrutierung hat einen Zusammenhang mit der Feindschaft zu dieser Familie.

RI: Wie und wann ist Ihr Großvater gestorben?

BF: Wann mein Großvater genau getötet wurde, weiß ich nicht. Er wurde vor meiner Geburt getötet.

RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

BF: Ich habe Angst vor dieser verfeindeten Familie. Sie werden mich überall in Afghanistan finden. Diese Familie arbeitet mit den Taliban zusammen. Wenn man einmal ins Visier der Taliban kommt, dann bekommt man keine Ruhe von den Taliban, und sie werden einen überall finden.

RI: Sie haben gesagt, dass Sie fünf Brüder, fünf Schwestern und Ihre Mutter in Afghanistan haben. Wieso können diese dort unbehelligt leben?

BF: In der paschtunischen Gesellschaft ist es so, wenn es eine Feindschaft gibt, hat man nur mit Männern zu tun. Ich bin der älteste Sohn in der Familie. Meine anderen Brüder sind sehr jung. Nach mir ist eine Schwester und nach dieser Schwester ist ein Bruder. Dieser Bruder ist jetzt auch verschollen, er ist nicht mehr in Afghanistan. Ich weiß nicht, wo er ist, ich habe keinen Kontakt zu ihm.

[...]

BFV: Wo befindet sich aktuell Ihr Vater?

BF: Ich weiß nicht, wo mein Vater ist, ich habe keinen Kontakt zu ihm.

VP [Vertrauensperson]: Auch ich habe versucht, ihn aufzufinden, aber es ist mir nicht gelungen.

BFV: Warum ist er nicht bei der restlichen Familie?

BF: Mein Vater war immer schon in verschiedenen Provinzen unterwegs und hat für den Islam missioniert.

BFA: Warum sollte die befeindete Familie Sie zwangsrekrutieren?

BF: Diese Familie wollte mich nicht töten, sondern mit den Taliban schicken und mich dann dort töten lassen. Das war nur ein Vorwand.

BFA: Welche Möglichkeiten hat diese Familie, Sie in Afghanistan zu suchen?

BF: Die Taliban haben überall in Afghanistan die Möglichkeit, uns zu finden.“

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Befragt zu der im Verwaltungsakt einliegenden Anzeige des BFA gegen den BFA wegen Sozialmissbrauches, weil er wegen seines falsch angegebenen Alters einige Monate lang Leistungen aus der Grundversorgung als Minderjähriger erhalten habe, sagte der BF:

„BFV: Können Sie Ihr Alter exakt nennen?

BF: Wann ich genau geboren bin, weiß ich nicht. In Österreich gilt als mein Geburtsjahr XXXX . In Wirklichkeit bin ich 25 oder 26 Jahre alt.

BFV: Wussten Sie, als Sie Ihr Alter anders angegeben haben, dass Sie damit Sozialmissbrauch begehen könnten?

BF: Nein.

RI: Wie lange waren Sie in Grundversorgung?

BF: Ca. dreieinhalb Jahre, glaube ich, bis ca. Ende 2018.

BFA: Der BF hat – nach dem Ergebnis des eingeholten Altersgutachtens – somit für einen Zeitraum von mindestens ca. einem halben Jahr Sozialleistungen als vorgegebener Minderjähriger missbräuchlich erhalten.

BFV: Wären Sie im Zuge des Verfahrens bezüglich Sozialmissbrauch dazu bereit, allenfalls Entschädigung zu leisten?

BF: Ja.“

Abschließend führten die Parteien aus:

„BFA: Der BF hat nach wie vor gute Kontakte nach Afghanistan, hat ausreichend Schulbildung, ist nachweislich arbeitsfähig und hat Familie im Herkunftsgebiet. Es gibt eine Verurteilung vom BG Salzburg vom 05.12.2017 mit Rechtskraft 12.04.2018, Freiheitsstrafe zwei Monate bedingt und drei Jahre Probezeit. Es besteht eine Anzeige wegen Sozialmissbrauch und eine Anzeige wegen gefährlicher Drohung. Es konnte auch festgestellt werden, dass nachweislich kein Lehrverhältnis besteht. Es liegt im Auskunftsverfahren folgende Beschäftigungsverhältnisse vor: 04.01.2019-04.04.2019 Abtenauer Bergbahnen, 05.12.2019-06.12.2019 angestellt bei XXXX , 10.05.2019-31.10.2019 angestellt bei XXXX , 20.12.2019 bis laufend ebenfalls bei XXXX .

BFV: Der BF hält sich seit mehr als fünf Jahren in Österreich auf. Er ist selbsterhaltungsfähig. Er hat sich ein soziales Netz in Österreich aufgebaut und die deutsche Sprache erlernt. Die Höhe der Freiheitsstrafe erfolgte im unteren Bereich des Strafausmaßes. In den anderen laufenden Verfahren ist er bereit, Entschädigung zu leisten. Die Anträge werden aufrecht erhalten.“

BFV und BFA wurden ersucht, Informationen betreffend die Punkte Lehre, Verfahren Sozialmissbrauch und Verfahren Anzeige Drohung dem BVwG zu übermitteln.

Die Parteien haben keine Stellungnahmen dazu mehr eingebracht.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend u.a. die Niederschriften der Erstbefragung am 12.12.2014 und der Einvernahme vor dem BFA am 19.07.2016, das medizinische Sachverständigengutachten zur Altersschätzung des BF vom 04.04.2015, die vom BF vorgelegten Belege zu seiner Integration in Österreich, den angefochtenen Bescheid sowie die gegenständliche Beschwerde

?        Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 255 bis 330)

?        Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 27.01.2020 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zu seiner Integration (Arbeitsvertrag vom 09.05.2019, zwei Bestätigungen eines Restaurantbetriebs, Empfehlungsschreiben und weitere Bestätigungen aus dem Restaurantgewerbe sowie einen Bescheid des AMS und ein Teilprüfungszeugnis A2 (mündliche Prüfung)

?        Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 27.01.2020 zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o        Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Nangarhar (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019)

o        Auszug aus: „EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan, Rekrutierungsstrategien der Taliban“ (Juli 2012, Seite 42-44,) sowie einen Auszug aus Landinfo report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban, vom 29.06.2017 (Arbeitsübersetzung) sowie

o        Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Länderkundigen Dr. Sarajuddin Rasuly (in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009) zum Vorbringen des BF, er werde von den Taliban verfolgt

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , stammt aus Koghiani, Provinz Nangarhar, Afghanistan, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht darüber hinaus auch etwas Dari. Der BF besuchte elf Klassen lang die Schule. Er ist verheiratet und hat keine Kinder.

3.1.2. Der BF verließ zu Jahresbeginn 2015 seine Heimat aus angegebenen Gründen mit Hilfe seines Onkels mütterlicherseits per Flugzeug und reiste von Mazar-e Sharif in den Iran und von dort schlepperunterstützt über die Türkei, Bulgarien und Serbien bis nach Österreich, wo er am 11.12.2014 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.3. Der BF ist seit Dezember 2014 in Österreich aufhältig. Er ist als relativ junger Mann nach Österreich gekommen und hat ernsthaft und erfolgreich Integrationsbemühungen gesetzt. Er lebte zunächst bei seinem Onkel in Salzburg und wohnt nunmehr privat bei seinem Arbeitgeber. Er verfügt über gute soziale Kontakte zu Österreichern im Sport (Volleyball) und in der Arbeit.

Der BF ist arbeitsfähig- und willig. Die dem BF mit Bescheid des AMS vom 11.04.2017 ausgestellte Beschäftigungsbewilligung als Lehrling/Auszubildender für Restaurantfachmann von 11.04.2017 bis 10.07.2020 konnte er offenbar mangels Vorliegen der Voraussetzungen dafür nicht in Anspruch nehmen.

Der BF stand ab Jänner 2019 mit Genehmigung des AMS in mehreren Beschäftigungsverhältnissen bei diversen Betrieben im Land Salzburg.

Er hat die Integrationsprüfung mit Deutschzertifikat A2 (Teilprüfung mündlich) abgelegt.

Der BF hat nach seinen Angaben regelmäßigen telefonischen Kontakt mit seiner Ehefrau.

3.1.4. Der BF ist irregulär in das Bundesgebiet eingereist. Das Vorliegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen ist nicht bekannt.

Der BF wurde in Österreich im Zusammenhang mit der Verwendung eines gefälschten afghanischen Reisepasses, den er nach seinen Angaben in Mazar-e Sharif gekauft hatte, mit Urteil vom 05.12.2017 zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, die seit 12.04.2018 der Auskunftsbeschränkung unterliegt.

Seither ist der BF in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat nicht inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst Probleme. Er war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.

3.2.2. Der BF hat sein Vorbringen, dass er wegen eines Familienstreites als Angehöriger seines Vaters oder seines Großvaters von der gegnerischen Familie bzw. von den ihnen zugehörenden Taliban verfolgt würde bzw. dass er in Gefahr wäre, von den Taliban zwangsrekrutiert zu werden, nicht glaubhaft gemacht.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung – etwa aus den oben in Punkt 3.2.2. angeführten Gründen – aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.

3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seinen Heimatort in der Herkunftsprovinz Nangarhar ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Es steht ihm als Angehörigen der Volksgruppe der Paschtunen jedoch die Möglichkeit der Rückkehr in die Provinzhauptstadt Jalalabad, die überwiegend von Paschtunen bewohnt ist und in der die Sicherheitslage bei weitem nicht so volatil wie im sonstigen Provinzgebiet ist, offen.

3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

3.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan („Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…] 2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an – eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als „Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

3. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

[...]

Für den Berichtszeitraum 10.05. – 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 – 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05 – 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

[...]

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. – 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

[...]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.07.2019). Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) – Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten