TE Bvwg Beschluss 2020/11/23 W132 2235525-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.11.2020
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Entscheidungsdatum

23.11.2020

Norm

BBG §42
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W132 2235525-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ursula GREBENICEK als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS sowie die fachkundige Laienrichterin Dr. Regina BAUMGARTL als Beisitzerinnen, über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien vom 04.09.2020, OB: 70198441600026, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass gemäß § 42 und § 45 Bundesbehindertengesetz (BBG), beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:
1.         Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung: Sozialministeriumservice; in der Folge belangte Behörde genannt) hat der Beschwerdeführerin am 03.07.2014 einen unbefristeten Behindertenpass ausgestellt, einen Grad der Behinderung in Höhe von 70 vH eingetragen, und die Zusatzeintragung „Schwer hörbehindert“ vorgenommen.

Nachstehen angeführte Gesundheitsschädigungen wurden dieser Beurteilung zu Grunde gelegt:

?        An Taubheit grenzende Hörstörung beidseits

?        Tinnitus beidseits

?        Depressio und Persönlichkeitsstörung mit Somatisierung

?        Presbyopie mit Sehverminderung auf 0,7 beidseits

?        Degenerative Wirbelsäulenveränderungen

?        Arterieller Bluthochdruck
2.         Die Beschwerdeführerin hat am 07.02.2020 bei der belangten Behörde unter Vorlage medizinischer Beweismittel einen Antrag auf Ausstellung eines Ausweises gem. § 29b StVO gestellt, welcher auch als Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass gilt, sofern der Antragsteller nicht im Besitz eines solchen ist.

Die nachstehend angeführten Beweismittel wurden vorgelegt:

?         XXXX

?         XXXX

?         XXXX

?         XXXX

?         XXXX

?        Augenärztlicher Befund vom 21.04.2020
2.1.         Zur Überprüfung des Antrages hat die belangten Behörde Sachverständigengutachten von Dr. XXXX , Ärztin für Allgemeinmedizin, Dr. XXXX , Facharzt für HNO-Erkrankungen, und Dr. XXXX , Facharzt für Augenheilkunde, basierend auf den persönlichen Untersuchungen der Beschwerdeführerin am 29.07.2020 und 12.08.2020 mit dem Ergebnis eingeholt, dass die Voraussetzungen für die beantragte Zusatzeintragung nicht vorlägen.

Zusammenfassend wird im Wesentlichen wie folgt ausgeführt:

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

?        Gehörlosigkeit beidseits

?        Tinnitus

?        Konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung beidseits

?        Zustand nach Operation des grauen Stars beidseits mit Abfall der zentralen Sehschärfe beidseits auf 0,7

?        Depressio und Persönlichkeitsstörung mit Somatisierung

?        Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule

?        Hypertonie

Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?

Eine Gehörlosigkeit behindert weder das Erreichen eines öffentlichen Verkehrsmittels noch das sichere Ein- und Aussteigen oder den sicheren Transport. Das Ausmaß der objektivierbaren Sehminderung erreicht nicht die Ausprägung der hochgradigen Sehbehinderung. Art und Ausmaß der psychischen Krankheit sind nicht geeignet eine erhebliche Erschwernis der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zu begründen. Es liegen keine erheblichen Funktionsstörungen der oberen und unteren Extremitäten sowie der Wirbelsäule vor. Das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke ist selbständig möglich. Bei ausreichend guten Kraftverhältnissen der oberen und unteren Extremitäten ist das Ein-und Aussteigen ohne fremde Hilfe zumutbar. Ein sicherer Transport in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist unter üblichen Transportbedingungen möglich.

Liegt eine schwere Erkrankung des Immunsystems vor?

Nein.
2.2.         Im Rahmen des gemäß § 45 Abs. 3 AVG am 17.08.2020 erteilten Parteiengehörs wurde von der Beschwerdeführerin am 28.08.2020 ohne Vorlage weiterer Beweismittel, unter Auflistung der vorliegenden Gesundheitsschädigungen und Darlegung der Krankengeschichte im Wesentlichen vorgebracht, dass sie an Panikattacken leide, welche die Depressionen verschlimmern würden. Sie benötige immer Gesellschaft, da sie sonst in Panik gerate, Geräusche höre, und Dinge sehe. Sie sehe sehr schlecht, und höre kaum noch, wodurch sie nicht in der Lage sei, eine normale Konversation zu führen. Durch das schlechte Hören und Sehen stürze sie auch oft. Sie könne nicht alleine einkaufen gehen, da sie Angst habe wieder eine Panikattacke zu erleiden, was dann zu Zitteranfällen und kurzzeitiger Demenz führe. Auch habe sie Myome im Uterus, was zu starken Schmerzen führe. Sie sei nicht in der Lage alleine in der Öffentlichkeit zu sein bzw. öffentliche Verkehrsmittel zu benützen, ohne in Depressionen und Panikattacken zu verfallen. Sie ersuche um neuerliche Begutachtung auch hinsichtlich ihres psychischen Gesundheitszustandes.
2.3.         Zur Überprüfung der Einwendungen wurde von der belangten Behörde von der bereits befassten allgemeinmedizinischen Sachverständigen, Dr. XXXX , eine medizinische Stellungnahme basierend auf der Aktenlage, datiert mit 03.09.2020, mit nachstehend angeführtem Ergebnis eingeholt:

„Die Antragstellerin urgiert die Unzumutbarkeit der öffentlichen Verkehrsmittel. Neue Befunde wurden keine nachgereicht. Das nachgereichte Schreiben beinhaltet keine neuen Erkenntnisse hinsichtlich noch nicht berücksichtigter, behinderungswirksamer Gesundheitsschäden. Insbesondere behindert eine Gehörlosigkeit weder das Erreichen eines öffentlichen Verkehrsmittels noch das sichere Ein- und Aussteigen oder den sicheren Transport. Auch das Ausmaß der objektivierbaren Sehminderung erreicht nicht die Ausprägung der hochgradigen Sehbehinderung. Weiters sind Art und Ausmaß der psychischen Krankheit nicht geeignet, eine erhebliche Erschwernis der Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel zu begründen. Es liegen keine erheblichen Funktionsstörungen der oberen und unteren Extremitäten, sowie der Wirbelsäule vor. Das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke ist selbständig möglich. Bei ausreichend guten Kraftverhältnissen der oberen und unteren Extremitäten ist das Ein- und Aussteigen ohne fremde Hilfe zumutbar. Ein sicherer Transport in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist unter üblichen Bedingungen möglich. Somit ist die Unzumutbarkeit der öffentlichen Verkehrsmittel nicht begründbar.“
2.4.         Das Ergebnis der Überprüfung der Einwendungen wurde der Beschwerdeführerin von der belangten Behörde nicht zur Kenntnis gebracht.
2.5.         Mit dem angefochtenen Bescheid vom 04.09.2020 hat die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass gemäß § 42 und § 45 BBG abgewiesen.
3.         Gegen diesen Bescheid wurde von der Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde erhoben. Ohne Vorlage weiterer Beweismittel wurden die im Rahmen des Parteiengehörs erhobenen Einwendungen wiederholt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.).

Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Gemäß § 29 Abs. 1 zweiter Satz VwGVG sind die Erkenntnisse zu begründen. Für Beschlüsse ergibt sich aus § 31 Abs. 3 VwGVG eine sinngemäße Anwendung.

Zu A)

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

1.       wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2.       die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes.

Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung vom prinzipiellen Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte aus (vgl. u.a. 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016).

Nach der Bestimmung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG kommt bereits nach ihrem Wortlaut die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht (vgl. auch Art. 130 Abs. 4 Z 1 B-VG). Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Ist die Voraussetzung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG erfüllt, hat das Verwaltungsgericht (sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist) "in der Sache selbst" zu entscheiden.

Das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, verlangt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zur ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als grob mangelhaft:

Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten. (§ 1 Abs. 2 BBG)

Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

1.       ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2.       sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3.       sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

4.       für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder

5.       sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderten-einstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(§ 40 Abs. 1 BBG)

Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist u.a. jedenfalls einzutragen:

3.       die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und

-        erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder

-        erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder

-        erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder

-        eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder

-        eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1 Abs. 4 Z 1 lit. b oder d

vorliegen.

(§ 1 Abs. 4 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen auszugsweise)

Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in § 1 Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktions-beeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

(§ 1 Abs. 5 Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen)

Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH vom 23.05.2012, Zl. 2008/11/0128, und die dort angeführte Vorjudikatur sowie vom 22. Oktober 2002, Zl. 2001/11/0242, vom 27.01.2015, Zl. 2012/11/0186).

Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Dieses Beweisthema ist somit nicht identisch mit der im Rahmen eines Verfahrens nach § 14 Abs. 2 oder 5 BEinstG vorzunehmenden Einschätzung des Grades der Behinderung, bei der die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit im Vordergrund stehen (siehe dazu das hg. Erkenntnis vom 20. März 2001, Zl. 2000/11/0321). Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH vom 23.05.2012, Zl. 2008/11/0128, und die dort angeführte Vorjudikatur sowie vom 22. Oktober 2002, Zl. 2001/11/0242, vom 27.01.2015, Zl. 2012/11/0186).

Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ ist die Feststellung der Art, des Ausmaßes und der Auswirkungen der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel.

Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.

Der belangten Behörde war bereits bei Antragstellung bekannt, dass bei der Beschwerdeführerin psychische Gesundheitsschädigungen sowie Funktionseinschränkungen der Augen und des Hörvermögens, sowie des Bewegungsapparates vorliegen. Zwar hat die belangte Behörde ein allgemeinmedizinisches Sachverständigengutachten und Fachgutachten zur Beurteilung der Einschränkungen der Sinnesorgane eingeholt, jedoch ist die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens unterblieben.

Zwar besteht kein Anspruch auf die Zuziehung von Sachverständigen eines bestimmten medizinischen Teilgebietes, jedoch sind im vorliegenden Fall die von der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten zur Beurteilung des bei der Beschwerdeführerin vorliegenden psychiatrischen Beschwerdebildes nicht geeignet. Aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen und den Angaben der Beschwerdeführerin im Antrag, liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass zusätzlich jedenfalls auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachrichtung Psychiatrie unbedingt erforderlich ist, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin insbesondere im Hinblick auf eine mögliche wechselseitige Leidensbeeinflussung der festgestellten Gesundheitsschädigungen zu gewährleisten.

In den eingeholten Gutachten wird zwar die Art der objektivierten dauernden Gesundheitsschädigungen aufgelistet, zur Frage der beschwerdegegenständlichen Zusatzeintragung erfolgt jedoch keine ausreichende individualisierte Beurteilung. Insbesondere finden sich in den eingeholten Gutachten keine Angaben über die Wechselwirkung der Leiden der Sinnesorgane mit dem psychischen Leiden und deren Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in Gesamtbetrachtung. Auch finden sich in den Gutachten keine Angaben zu den von der Beschwerdeführerin angeführten Myomen des Uterus und den daraus resultierenden Schmerzen.

Dies wäre aber - auch vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 23.05.2012, 2008/11/0128; 20.10.2011, 2009/11/0032; 27.01.2015, 2012/11/0186) - im gegenständlichen Fall, auch im Hinblick auf die bei der Beschwerdeführerin vorliegenden festgestellten psychisch/psychiatrischen Funktionseinschränkungen im Zusammenwirken mi den Funktionseinschränkungen der Augen und des Gehörs, unbedingt erforderlich gewesen um beurteilen zu können, inwieweit die Beschwerdeführerin dadurch an der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel gehindert wird.

Insbesondere auch, da die belangte Behörde trotz der im Rahmen des Parteiengehörs erhobenen Einwendungen – welche Großteils das psychiatrische Fachgebiet und die Wechselwirkung der vorliegenden Leiden beschreiben – nur eine allgemeinmedizinische, auf der Aktenlage basierende Stellungnahme eingeholt hat, welche sich in der (wortwörtlichen) Wiederholung der in den eingeholten Sachverständigengutachten getroffenen Beurteilungen erschöpft, ohne auf die Einwendungen einzugehen oder zu einer möglichen wechselseitigen Leidensbeeinflussung Stellung zu nehmen. Überdies wurde das Ergebnis der Überprüfung des Ermittlungsverfahrens der Beschwerdeführerin nicht zur Kenntnis gebracht und ihr so die Möglichkeit genommen, Stellung dazu zu nehmen.

Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag daher die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen. Ein Gutachten bzw. eine medizinische Stellungnahme, welche Ausführungen darüber vermissen lässt, aus welchen Gründen der ärztliche Sachverständige zu einer Beurteilung gelangt ist, stellt keine taugliche Grundlage für die von der belangten Behörde zu treffende Entscheidung dar (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).

Insbesondere auch im Hinblick auf eine mögliche wechselseitige Leidensbeeinflussung der festgestellten Gesundheitsschädigungen ist nicht nachvollziehbar warum die belangte Behörde darauf verzichtet hat, das Ermittlungsverfahren dahingehend zu erweitern ein ärztliches Sachverständigengutachten der Fachrichtung Psychiatrie einzuholen. Es liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens dieser Fachrichtung unbedingt erforderlich ist, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin zu gewährleisten.

Die seitens des Bundesverwaltungsgerichtes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage daher nicht möglich.

Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat. (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015)

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde sohin unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens, der vorgelegten Beweismittel, und unter Zugrundelegung der obigen Ausführungen, zusätzlich zu den bereits eingeholten Sachverständigengutachten ein ärztliches Sachverständigengutachten der Fachrichtung Psychiatrie, basierend auf der persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin - auch zur Fragestellung der Wechselwirkung des psychischen Leidens mit den Leiden der Sinnesorgane – einzuholen, und die Ergebnisse bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Anschließend hat sich die belangte Behörde mit der Rechtsfrage auseinanderzusetzen, ob der Beschwerdeführerin die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann – im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG – nicht im Sinne des Gesetzes liegen.

Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen gravierend mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch der mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren, verbundene erhöhte Aufwand.

Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG zweckmäßig. Dies insbesondere im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführerin zuletzt keine Möglichkeit gegeben wurde, zum Ergebnis der auf Grund der erhobenen Einwendungen erfolgten Überprüfung des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen. Die Beschwerdeführerin hatte sohin keine Gelegenheit, der sachverständigen Beurteilung konkret und substantiiert entgegenzutreten und auszuführen ob, gegebenenfalls welche, gutachterlichen Ausführungen dem tatsächlichen Leidensausmaß widersprechen.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rascher und kostengünstiger festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u.a. Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016, Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015, Ra 2015/08/0171 vom 27.01.2016, Ra 2015/10/0106 vom 24.02.2016) ausgeführt, warum die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen geboten war.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten Zusatzeintragung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W132.2235525.1.00

Im RIS seit

22.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

22.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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