TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/24 W250 2147977-1

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Veröffentlicht am 24.11.2020
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Entscheidungsdatum

24.11.2020

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W250 2147977-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Christian SCHMAUS, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom 01.02.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.11.2020, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 24.11.2021 erteilt.

III. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 06.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am selben Tag fand die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er an, im Iran geboren worden zu sein. Der Bruder des Beschwerdeführers habe Nierenprobleme und habe deshalb operiert werden müssen. Da seine Familie als afghanische Staatsangehörige im Iran nicht (kranken)versichert gewesen sei, habe seine Familie Schulden angehäuft. Der Vater des Beschwerdeführers sei deshalb nach Syrien in den Krieg gegangen, weil man dort mehr als im Iran verdiene. Der Vater habe sich 4-5 Monate vor der Einreise des Beschwerdeführers nach Österreich jedoch nicht mehr gemeldet. Das Krankenhaus habe sodann die Bezahlung der Schulden vom Beschwerdeführer verlangt. Da er nicht nach Syrien in den Krieg gehen wollte, sei er schließlich aus dem Iran ausgereist.

3. Da im Zuge eines Termins beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) am 16.11.2015 Zweifel an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers aufkamen, wurde ein Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung eingeholt, welches betreffend den Beschwerdeführer den XXXX als „fiktiven“ Geburtstag nennt, sodass eine Minderjährigkeit des Beschwerdeführers nicht ausgeschlossen werden konnte. Die Vollendung des 18. Lebensjahres wurde anhand des errechneten „fiktiven“ Geburtsdatums am XXXX erreicht.

Gestützt auf das Sachverständigengutachten vom 08.04.2016 stellte das Bundesamt mit Verfahrensanordnung vom 18.05.2016 das Geburtsdatum des Beschwerdeführers mit XXXX fest.

4. Am 31.01.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt statt, bei der der Beschwerdeführer angab, im Iran geboren und niemals in Afghanistan gewesen zu sein. Der Vater des Beschwerdeführers sei nach Syrien in den Krieg gegangen um die Schulden seiner Familie aufgrund von Krankenhausbehandlungen des Bruders des Beschwerdeführers zu begleichen. Da der Vater des Beschwerdeführers nicht mehr aus Syrien zurückgekehrt sei und es auch keinen Kontakt mehr gegeben habe, sei der Beschwerdeführer aufgefordert worden ebenfalls nach Syrien in den Krieg zu ziehen um die Krankenhausrechnungen seines Bruders zu begleichen. Der Beschwerdeführer habe dies verweigert, weshalb er aus dem Iran ausgereist sei.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde ausgeführt, dass keine asylrelevanten Fluchtgründe geltend gemachten worden seien. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertige. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

6. Der Beschwerdeführer erhob gegen den angefochtenen Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass das Verfahren beim Bundesamt nicht den Anforderungen des amtswegigen Ermittlungsverfahrens entsprochen habe. So seien die getroffenen Länderfeststellungen unvollständig, allgemein gehalten, einseitig und würden sich nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers befassen. Das Bundesamt habe auch das entscheidungsrelevante Parteivorbringen des Beschwerdeführers gänzlich ignoriert. Dem Beschwerdeführer drohe in Afghanistan eine Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der im Iran aufgewachsenen Afghanen. Der Beschwerdeführer verfüge auch weder über familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan noch über eine Fachausbildung, weshalb ihm jedenfalls der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen sei. Darüber hinaus sei aufgrund der guten Integration des Beschwerdeführers eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig.

7. Mit Urkundenvorlage vom 23.05.2017, 04.07.2017, 28.08.2017 und 23.02.2018 wurden Unterlagen betreffend die Integration des Beschwerdeführers vorgelegt.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.06.2018 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi und im Beisein des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem Bundesamt übermittelt.

9. Mit Erkenntnis vom 17.10.2018 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt A.I.), erkannte dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A.II. und III.), behob die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos (Spruchpunkt A.IV.) und erklärte die Revision für unzulässig (Spruchpunkt B.).

10. Das Bundesamt erhob gegen dieses Erkenntnis, erkennbar nur gegen die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte, mit Eingabe vom 21.11.2018 außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 6 Z 2 B-VG.

Mit Erkenntnis vom 13.02.2020, Ra 2019/19/0409-6, hob der Verwaltungsgerichtshof das angefochtene Erkenntnis in seinen Spruchpunkten A.II. bis A.IV. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf. Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht näher dargelegt hat, welche Auswirkungen der Umstand, dass der Beschwerdeführer lediglich geringfügig mit den afghanischen Gewohnheiten in Berührung gekommen sei, für die Frage hat, ob der Mitbeteiligte ausreichend mit jenen Gegebenheiten vertraut ist oder über jene Fertigkeiten oder Unterstützung verfügt, die es ihm ermöglichen, in seinem Herkunftsstaat sein grundlegendes Auskommen zu sichern. Insbesondere fehle eine konkrete Auseinandersetzung mit den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 und den Country Guidance: Afghanistan des EASO.

11. Mit Stellungnahme vom 17.07.2020 brachte der Beschwerdeführer vor, dass er außerhalb Afghanistans geboren worden sei, dieses Land weder besucht noch jemals dort gelebt habe und er weder Verwandte noch Freunde oder Bekannte in Afghanistan habe. Auch in Österreich pflege er maßgeblich Kontakt zu einem österreichischen Freundeskreis. Der Beschwerdeführer verfüge zudem über keine Kenntnisse, die ihm ein Erwirtschaften eines Existenzminimums sichern könnten. Er habe noch keine Berufsausbildung abgeschlossen und seine in Österreich erworbenen Kenntnisse seien am überspannten afghanischen Arbeitsmarkt nicht einsetzbar, zumal er keine Erfahrungen am irregulären Arbeitsmarkt habe, lediglich unter Anleitung Tätigkeiten ausführen könne (2. Lehrjahr) und seine Fähigkeiten auf den österreichischen Markt ausgerichtet seien. Der Beschwerdeführer leide nunmehr an Schlafstörungen. Zudem verfüge der Beschwerdeführer über keine Tazkira und sei seine Geburt bei den afghanischen Behörden im Iran nicht registriert worden. Dem Beschwerdeführer sei daher auch aus diesem Grund eine Neuansiedelung in Afghanistan nicht möglich, weil er sich für jeglichen Vertragsabschluss (Arbeitsvertrag, Wohnung, medizinische Versorgung) auszuweisen hätte. Zudem würden nach wie vor in weiten Teilen des Landes Ausgangssperren bestehen, die den Beschwerdeführer als Ortsfremden und ohne Unterstützungsnetzwerk im Vergleich zur lokalen Bevölkerung unverhältnismäßig hart treffen würden. In Zusammenschau der einzelfallbezogenen Situation des Beschwerdeführers mit der allgemein katastrophalen Sicherheits- und Versorgungslage sowie der humanitären Katastrophe aufgrund der COVID-19 Pandemie drohe dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die reale Gefahr, in seinen gemäß Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechtsgütern verletzt zu werden und stehe ihm eine innerstaatliche Neuansiedelungsalternative nicht zur Verfügung.

Zudem würden die durch zahlreiche Unterlagen bekräftigten Ausführungen zeigen, dass der Beschwerdeführer in Österreich über ein im Sinne des Art. 8 EMRK schützenswertes Privat- und Familienleben verfügt, die die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung deutlich überwiegen würden. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung erweise sich daher als auf Dauer unzulässig. Unter einem wurden zahlreiche Integrationsunterlagen vorgelegt.

12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.11.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi und im Beisein des ausgewiesenen Rechtsvertreters des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem Bundesamt übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX alias XXXX und das Geburtsdatum XXXX alias XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, ledig und hat keine Kinder. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. (AS 13, 119; Protokoll vom 04.06.2018 = OZ 10, S. 6; Protokoll vom 11.11.2020 = OZ 26, S. 5). Er betet und fastet aktuell nicht, lebt sein aktuelles Desinteresse am Glauben jedoch nicht offen aus und tritt auch nicht spezifisch gegen den Islam oder gar religionsfeindlich auf (OZ 26, S. 9).

Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, er spricht aufgrund seines lebenslangen Aufenthaltes im Iran jedoch besser Farsi. Er spricht Farsi gut, etwas Dari mit einem hörbaren Akzent und etwas Englisch (AS 13, 117; OZ 10, S. 2, 8, 11).

Die Eltern des Beschwerdeführers stammen aus der Provinz Ghazni und verließen Afghanistan vor ca. 34 Jahren aufgrund der schlechten Sicherheitslage für Hazara und Problemen mit den Taliban (AS 120; OZ 10, S. 8, 15).

Der Beschwerdeführer wurde im Iran in XXXX (im Verfahren auch „ XXXX “ geschrieben) geboren und ist dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder aufgewachsen (AS 17, 119; OZ 10, S. 6). Der Beschwerdeführer hat im Iran vier Jahre eine inoffizielle („afghanische“) Schule besucht und ist in der Folge vier Jahre in eine offizielle („iranische“) Schule gegangen (AS 13, 119 f; OZ 10, S. 7). Er hat ein von seiner Schule organisiertes einjähriges Praktikum in einer Tischlerei absolviert. Darüber hinaus verfügt der Beschwerdeführer jedoch über keine Berufserfahrung oder Berufsausbildung im Iran oder Afghanistan (AS 120; OZ 10, S. 8).

Der Beschwerdeführer war nie in Afghanistan aufhältig (AS 121, 123; OZ 10, S. 23 f) und verfügt über keine Familienangehörigen oder sonstigen sozialen Kontakte in Afghanistan (OZ 10, S. 9; OZ 26, S. 6). Der Beschwerdeführer wurde im Iran sozialisiert und ist lediglich geringfügig durch seine Eltern, die Afghanistan bereits vor ca. 34 Jahren verlassen haben, mit den afghanischen Gewohnheiten in Berührung gekommen (OZ 10, S. 8 ff, 15).

Der Vater des Beschwerdeführers ist nach wie vor verschollen. Die Mutter und der Bruder des Beschwerdeführers sind im Iran aufhältig. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Familienangehörigen in regelmäßigem Kontakt. Der Bruder des Beschwerdeführers leidet an einer Nierenerkrankung, weshalb er regelmäßig einer Dialyse bedarf. Dieser kann daher keiner regelmäßigen Arbeit nachgehen. Die Mutter des Beschwerdeführers leidet nunmehr an Rheuma und kann ihre Tätigkeit als Schneiderin nicht mehr ausüben. Die Mutter und der Bruder des Beschwerdeführers erhalten (finanzielle) Unterstützung von der iranischen Regierung (AS 121; OZ 10, S. 9 f, 14; OZ 26, S. 6). Die finanzielle Lage der Familie des Beschwerdeführers ist schlecht.

Der Beschwerdeführer verfügt noch über zwei Cousins und Cousinen im Iran, deren genauen Aufenthaltsort der Beschwerdeführer nicht kennt und zu denen seine Familie nur sehr selten (zu besonderen Anlässen) Kontakt hat (OZ 10, S. 9).

Der Beschwerdeführer hat Schlafstörungen. Er wurde deshalb von seinem Hausarzt wegen des Verdachts einer Belastungsstörung und einer Ein- und Durchschlafstörung an einen Psychologen überwiesen (Beilage ./A). Davon abgesehen ist er gesund, arbeitsfähig und leidet an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten (OZ 26, S. 5).

1.2. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit November 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 06.11.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer besuchte Deutschkurse bis zum Niveau C1 (AS 137, 272; Beilage ./L) und hat die Deutschprüfung ÖSD auf dem Niveau A2 am 18.11.2016 gut (AS 269) und auf dem Niveau B1 am 02.05.2017 ausreichend (OZ 8) sowie auf dem Niveau B2 am 08.05.2018 bestanden (Beilage ./I). Er verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse.

Der Beschwerdeführer hat an der Höheren Technischen Bundes- Lehr und Versuchsanstalt Mödling im Schuljahr 2016/17 den Lehrgang für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch als außerordentlicher Schüler sowie im Schuljahr 2017/18 als ordentlicher Schüler besucht (AS 139). Zur Vorbereitung auf diesen Lehrgang besuchte der Beschwerdeführer von 13.07.2016 bis 17.10.2016 einen Mathematikkurs für Fortgeschrittene, von 08.07.2016 bis 27.10.2016 einen Englischkurs und von 12.07.2016 bis 20.10.2016 einen Deutschkurs auf dem Niveau A2 (AS 273). Er hat am 29.06.2017 die Pflichtschulabschluss-Prüfung bestanden (OZ 8).

Der Beschwerdeführer absolviert seit 23.04.2019 im Rahmen der überbetrieblichen Lehrausbildung in einer Lehrwerkstätte die Ausbildung zum Tischler (Beilage ./N bis ./Q). Dem Beschwerdeführer wurde für ausgezeichnete schulische Leistungen der Fachklasse für den Lehrberuf Tischlerei besondere Anerkennung ausgesprochen (Beilage ./R). Der Beschwerdeführer hat die 2. Schulstufe der Landesberufsschule im Lehrberuf Tischler mit ausgezeichnetem Erfolg absolviert (Beilage ./A). Der Beschwerdeführer erbringt seit ca. 8 Monaten geringfügig Hilfsarbeiten in einer Firma (Beilage ./C; OZ 26, S. 8).

Der Beschwerdeführer bedurfte der Unterstützung seiner Paten bei der Aufnahme der Lehrstelle (OZ 26, S. 10). Der Beschwerdeführer wird bei der Bestreitung seines Lebens in Österreich tatkräftig von seinen Paten unterstützt.

Der Beschwerdeführer hat am 01.07.2017, am 16.09.2017, am 27.04.2018, am 10.05.2018, am 12.05.2019 und am 16.11.2019 ehrenamtliche Tätigkeiten für den Verein XXXX sowie die Stadtgemeinde XXXX erbracht und einen Erste-Hilfe-Grundkurs erfolgreich abgeschlossen (OZ 8; Beilage ./S und ./T). Der Beschwerdeführer hat am 02.01.2019 am Werte- und Orientierungskurs teilgenommen (Beilage ./J) und die Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau B1 und zu Werte- und Orientierungswissen bestanden (Beilage ./K).

Er hat beim Lehrstellen Speed Dating am 13.11.2017 teilgenommen und 30 Vorstellungsgespräche erfolgreich absolviert (OZ 8).

Der Beschwerdeführer ist Mitglied eines Fußballvereins (AS 141).

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über viele Freunde und Bekannte. Er wird von seinen Freunden und Bekannten sowie seinen ehemaligen Lehrern, seinen Deutschlehrern, ehrenamtlichen Betreuern, Nachbarn und vom Bürgermeister der Stadtgemeinde XXXX sehr geschätzt (AS 127-135; Beilage ./B bis ./G).

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Zu einer möglichen Neuansiedelung des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer ist im Iran geboren und aufgewachsen. Er verfügt daher in Afghanistan über keine Herkunftsprovinz, in die er zurückkehren könnte.

Dem Beschwerdeführer ist eine Neuansiedelung in Afghanistan, etwa in den Städten Mazar-e Sharif, Herat oder Kabul, aufgrund seiner individuellen Umstände in Verbindung mit der aktuell wegen der COVID-19-Pandemie angespannten Beschäftigungs-, Wohn- und Versorgungssituation derzeit nicht zumutbar.

Der Beschwerdeführer verbrachte sein gesamtes Leben bis zur Ausreise 2015 im Iran, er war noch nie in Afghanistan. Er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten am Arbeitsmarkt nicht vertraut. Er verfügt in Afghanistan über keine Angehörigen oder sonstige Kontakte und somit kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung er sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Der Beschwerdeführer kann auch nicht mit finanzieller Unterstützung durch seine Familie im Iran rechnen. Der Beschwerdeführer hat insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Kabul keinerlei Kontakte. Er wäre als Hazara und schiitischer Moslem sowie aufgrund seiner iranischen Sprachfärbung in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Diskriminierungen ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer ist ein junger, weitgehend gesunder und arbeitsfähiger Mann. Er verfügt über grundlegende Schulbildung, seine Berufserfahrung und -ausbildung beschränkt sich auf ein Praktikum in einer Tischlerei im Iran und die nicht abgeschlossene Tischlerlehre in Österreich. Er wäre daher bei einer Neuansiedlung in einer der genannten afghanischen Städte zur Sicherung seines Lebensunterhaltes jedenfalls auf Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Diese stehen aber aufgrund der in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängten Ausgangsbeschränkungen in den Großstädten derzeit nur in sehr eingeschränktem Ausmaß zur Verfügung. Die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt wird durch die große Zahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan, die sich vor allem in den Großstädten ansiedeln, weiter verschärft.

Dasselbe gilt für die Unterkunftssituation, überdies sind Teehäuser und Hotels aufgrund der COVID-19-Maßnahmen derzeit geschlossen. Auch die Nahrungsmittelpreise sind in den letzten Monaten massiv gestiegen. Es wäre dem geringqualifizierten Beschwerdeführer, der noch nie in Afghanistan gelebt hat, mit den afghanischen Gepflogenheiten am Arbeitsmarkt nicht vertraut ist und der dort niemanden kennt, der als Hazara und Schiit Diskriminierungen ausgesetzt wäre und über kein soziales Unterstützungsnetzwerk verfügt, daher in der aktuellen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich, eine Arbeit und eine günstige Unterkunft zu finden. Er wäre, um für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können, in besonderer Weise auf Unterstützung angewiesen, zumal er auch in Österreich bei der Bestreitung seines Lebens tatkräftig von seinen Paten unterstützt wird, die ihm aber, wie bereits ausgeführt, in Afghanistan nicht zur Verfügung steht.

Die beim Beschwerdeführer vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen und allgemeinen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm aktuell möglich wäre, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan bei einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif, Herat oder Kabul dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der Beschwerdeführer vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

-        Friedrich Ebert Stiftung, COVID-19 and Afghanistan’s Social, Political and Economic Capacities for Sustainable Peace aus November 2020 (COVID-19)

-        OCHA Bericht – Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response vom 12.11.2020, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/operational_sitrep_covid-19_12_november_2020_final.pdf, abgerufen am 18.11.2020 (OCHA)

-        ACCORD – Afghanistan: Apostasie, Blasphemie, Konversion, Verstoß gegen islamische Verhaltensregeln, gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa, 15.06.2020

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan – Nichtausübung des Islam und Apostasie vom 25.10.2018

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgfallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) vom 01.06.2017

-        Analyse der Staatendokumentation – Afghanistan – IOM-Reintegrationsprojekt Restart III vom 14.07.2020 (IOM)

1.4.1 Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB, Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020)

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.4.2.1. Aktuelle COVID-19-Situation

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Lockdown, der nicht unbedingt notwendigen Unternehmen auferlegt wurde, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, hatte schwerwiegende und manchmal fatale Folgen für kleine und mittlere Unternehmen. Einkommensverluste, kombiniert mit minimalen Einsparungen und Investitionen, haben zahlreiche kleine Unternehmen aus dem Geschäft gedrängt. Die Föderation der afghanischen Handwerker und Händler schätzte, dass 30 Prozent ihrer Mitglieder sich von der Abriegelung nicht erholen konnten und wegen des unmittelbaren Einkommensverlustes in Konkurs gingen (COVID-19, S. 8).

Die Auswirkungen von COVID-19 sind in Ermangelung eines sozialen Sicherheitsnetzes, das in der Regel vom Staat bereitgestellt wird, noch gravierender. Soziale Schutzmechanismen durch z.B. Einkommensbeihilfen und Sozialrenten sowie wirtschaftliche Unterstützung durch Steuerbefreiungen gibt es in Afghanistan nicht (COVID-19, S. 9).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: Der afghanischen Regierung zufolge leben 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit leben. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Von November bis März befinden sich schätzungsweise 16,9 Millionen Menschen in Krisen- oder Notsituationen in der Ernährungsunsicherheit, davon 5,5 Millionen in der "Notfall"-Ernährungsunsicherheit (IPC 4). Der durchschnittliche Weizenmehlpreis stieg zwischen dem 14. März und dem 11. November um 10 %, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im selben Zeitraum um 21 %, 18 %, 31 % bzw. 20 % stiegen. Dieser Preisanstieg geht einher mit einer sinkenden Kaufkraft von Gelegenheitsarbeitern und Viehzüchtern - die sich um über 9% bzw. 14% verschlechtert haben (OCHA)

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.4.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19-Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.4.3.1. Psychische Erkrankungen

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig. Die WHO geht davon aus, dass in ganz Afghanistan im öffentlichen, wie auch privaten Sektor insgesamt 320 Spitäler existieren, an welche sich Personen mit psychischen Problemen wenden können (LIB, Kapitel 21.1.).

Wie auch in anderen Krankenhäusern Afghanistans ist eine Unterbringung im Kabuler Krankenhaus von Patienten grundsätzlich nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. So werden Patienten bei stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen. Der Verwandte muss sich um den Patienten kümmern und für diesen beispielsweise Medikamente und Nahrungsmittel kaufen. Zudem muss der Angehörige den Patienten gegebenenfalls vor anderen Patienten beschützen, oder im umgekehrten Fall bei aggressivem Verhalten des Verwandten die übrigen Patienten schützen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. Aus diesem Grund werden Personen ohne einen Angehörigen selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen (LIB, Kapitel 21.1.).

Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in manchen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Menschen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und unter anderem bei folgenden Organisationen behandelt werden: bei International Psychosocial Organisation (IPSO) Kabul, Medica Afghanistan und PARSA Afghanistan (LIB, Kapitel 21.1.).

Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan weiterhin hoch stigmatisiert, obwohl Schätzungen zufolge 50 % der Bevölkerung psychische Symptome wie Depression, Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörung zeigen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychisch Erkrankte sind oftmals einer gesellschaftlichen Stigmatisierung ausgesetzt (LIB, Kapitel 21.1.).

1.4.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10 % der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihr ethnisch asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

1.4.5. Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80–89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10-19 % geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten). 90 % von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30 %. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

Es gibt viele Personen die freitags nicht beten oder während des Ramadans nicht fasten. Dies ist eine heiklere Angelegenheit in den ländlichen Gebieten, als in den städtischen Gebieten. Für das Nichtbeten des Freitagsgebetes werden solche Personen nicht bestraft und von den staatlichen Behörden nicht angewiesen, dies zu tun. Für das Nichtfasten während des Ramadans würden staatliche Behörden bzw. die Gesellschaft dem Nichtfastenden-des-Ramadan anraten und anweisen den Ramadan einzuhalten. Die Gesellschaft behandelt dies als kleine Vergehen (Christen, Konvertiten, Abtrünnige in Afghanistan, S. 5f).

Für gebürtige Muslime ist ein Leben in der afghanischen Gesellschaft möglich, ohne, dass sie den Islam praktizieren würden und auch dann, wenn sie Apostaten oder Konvertiten sind. Solche Personen sind dann in Sicherheit, wenn diese Stillschweigen bewahren. Es kann zu einer Gefährdung kommen, wenn öffentlich bekannt wird, dass diese aufgehört haben an den Islam zu glauben (Apostasie, S. 7).

Apostasie und Blasphemie stellen Kapitalverbrechen dar, bei denen Todesstrafe droht. In beiden Fällen haben die Betroffenen vor Gericht drei Tage Zeit um ihre "Tat" zu widerrufen (Apostasie, S. 14).

1.4.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.4.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet, einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen betreffend COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.4.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

1.4.9. Relevante Provinzen und Städte

1.4.9.1. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.475.649 Personen, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 2.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 2.5).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76 %), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10-15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

1.4.9.2. Provinz bzw. Stadt Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 2.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2019 gab es 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.13).

Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedr

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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