TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/24 W132 2180449-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.11.2020
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Entscheidungsdatum

24.11.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W132 2180449-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Ursula GREBENICEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 27.11.2017, Zl. 1099965201-152033544, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.10.2020, zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben, und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 24.11.2021 erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der zum damaligen Zeitpunkt unbegleitete minderjährige Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzvorschriften in das Bundesgebiet ein und stellte am 18.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung am 21.12.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen Folgendes an: „Der menschliche Umgang war im Iran nicht gegeben. Es war ein schlechtes Leben. Wenn ich auf der Straße war, die Polizei hat mich immer gefragt ob ich einen Ausweis habe. Von der Bevölkerung wurde ich auch immer wieder bedroht. Bedroht wurde ich weil ich ein afghanischer Flüchtling bin.“

Im Falle der Rückkehr befürchte er, im Iran keine Chance auf ein normales Leben zu haben. Er würde nach Afghanistan abgeschoben werden, und käme in Haft (Gefängnis).

Er sei im Iran geboren worden, habe dort sein bisheriges Leben verbracht, und habe dort vier Jahre die Schule besucht und als Bauarbeiter gearbeitet.

Seine Eltern, zwei Brüder und zwei Schwestern würden sich im Iran aufhalten.

Gedolmetscht wurde in der Sprache Farsi.

2. Am 04.01.2016 wurde vom Verein Menschenrechte Österreich mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer beraten worden sei, wobei er angegeben habe im Iran vier Jahre die Schule besucht zu haben. In Afghanistan habe er keine Verwandten, weil sich die Familie, zu der er regelmäßig Kontakt habe, im Iran aufhalte. Sein Bruder sei dort als Bauarbeiter tätig.

3. Am 26.07.2016 wurde nach Durchführung eines medizinischen Altersfeststellungs-verfahrens per Verfahrensanordnung festgestellt, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX geboren wurde.

4. Am 20.10.2017 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge ‚belangte Behörde‘ bzw. BFA genannt) im Beisein einer Vertrauensperson. Der Beschwerdeführer brachte zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen zusammengefasst vor, nicht genau zu wissen, warum seine Eltern Afghanistan verlassen haben. Seine Mutter habe ihm erzählt, dass sein Vater in Afghanistan Soldat gewesen sei, und die Familie das Land wegen der Taliban, und wegen des Krieges verlassen hätten. Den Iran habe er wegen seines illegalen Aufenthaltes verlassen. Er sei zwei Mal von der Polizei verhaftet und von seinem Bruder freigekauft worden. Im Falle einer dritten Verhaftung wäre er entweder von der iranischen Polizei nach Afghanistan abgeschoben, oder in den Syrienkrieg geschickt worden.

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan befürchte der Beschwerdeführer als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara von den Taliban oder dem IS umgebracht zu werden. Auf den Vorhalt, der Beschwerdeführer könne sich insbesondere in Kabul oder Mazar-e-Sharif ansiedeln, hat er ausgeführt, im Iran geboren und aufgewachsen zu sein. Freunde, welche nach Afghanistan zurückgekehrt seien, seien dort gefragt worden, wieso sie nicht Dari sprechen. Die Freunde seien wegen ihrer Sprache Farsi von Afghanen diskriminiert worden. Außerdem seien auch in Kabul und Mazar-e-Sharif Anschläge zu befürchten. Er sei noch nie in Afghanistan gewesen, und habe dort keine Verwandten.

Seine Familie stamme aus der Provinz Balkh. Der Beschwerdeführer wisse nicht, wovon die Familie in Afghanistan gelebt habe. Sein Vater sei im Iran nach einem Arbeitsunfall verstorben, seine Mutter und die älteren Geschwister, nämlich zwei Brüder und zwei Schwestern, würden legal im Iran leben. Er stehe in Kontakt mit seiner Mutter und einer Schwester. Er selbst sei zuletzt illegal im Iran aufhältig gewesen, da seine Aufenthaltskarte von der Polizei einbehalten worden sei, als Strafe, weil er ohne Ausweis aufgegriffen worden sei. Im Iran habe er vier Jahre eine afghanische Schule besucht, und als Schneider und Fliesenleger gearbeitet.

Gedolmetscht wurde in der Sprache Farsi.

5. Im Zuge des verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens hat der Beschwerdeführer integrationsbescheinigende und medizinische Unterlagen sowie die Kopie eines zusammengeklebten Zettels mit handschriftlichen Notizen in Dari, vorgelegt.

6. Mit dem im Spruch angeführten Bescheid der belangten Behörde wurde über den Antrag des Beschwerdeführers wie folgt abgesprochen:

„I.      Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 18.12.2015 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen.

II.      Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wird Ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen.

III.    Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt.

IV.      Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen.

V.       Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.

VI.      Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.“

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers auf Vorfälle im Iran beziehe, weshalb diesen keine Asylrelevanz zukomme. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Zuerkennung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstünde.

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer im Wege der bevollmächtigten Vertretung fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang. Das Fluchtvorbringen wurde dahingehend ergänzt, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seines jugendlichen Alters Zwangsrekrutierung durch die Taliban drohe. Auch befürchte er als Sohn seines Vaters Verfolgung durch die Taliban, weil dieser im Gefängnis als Wächter gearbeitet und sich geweigert habe, die Taliban zu unterstützen.

8. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Übersetzung des vorgelegten zusammengeklebten Zettels mit handschriftlichen Notizen in Dari veranlasst.

9. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18.06.2020 wurden die Verfahrensparteien zur Beschwerdeverhandlung am 23.07.2020 geladen.

10. Mit dem Schriftsatz vom 22.07.2020 wurde der Wechsel der Vertretungsvollmacht angezeigt und seitens der nunmehr bevollmächtigten Vertretung unter Vorlage eines ärztlichen Attestes mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer krankheitsbedingt der Ladung zur Beschwerdeverhandlung nicht entsprechen können.

Das Bundesverwaltungsgericht hat sohin die Beschwerdeverhandlung abberaumt.

11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.10.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde im Beisein seiner bevollmächtigten Vertretung, eines Vertreters der belangten Behörde und eines Dolmetschers für die Sprache Farsi eingehend zu seiner Person, den Lebensumständen in Afghanistan und im Iran, den Fluchtgründen sowie zum Privat- und Familienleben in Österreich befragt.

Zur Untermauerung des Vorbringens wurden integrationsbescheinigende Unterlagen vorgelegt.

Die Richterin brachte die nachstehend angeführten Unterlagen in das Verfahren ein:

-        Länderinformationsblatt Afghanistan der Staatendokumentation Stand 13.11.2019 (letzte Information eingefügt am 21.07.2020)

-        Landinfo - AFG: Rekrutierung durch die Taliban, 29.06.2017

-        Landinfo - AFG: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne, 23.08.2017

-        Landinfo - AFG: Organisation und Struktur der Taliban, 23.08.2017

-        ACCORD - AFG: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen Konvertitinnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft, 01.06.2017

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation - AFG: Nichtausübung des Islam und Apostasie, 23.10.2018

-        Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018

-        EASO-Guidance Note zu Afghanistan von 2018 und 2019

-        Bericht von EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen), Arbeitsübersetzung der Staatendokumentation des BFA Stand 15.02.2018, zu afghanischen Netzwerken, Migration und Urbanisierung, Kontakt mit den Netzwerken nach der Migration und Möglichkeit der Ansiedlung in städtischen Zentren ohne Netzwerk

Den Verfahrensparteien wurde zur Abgabe einer Stellungnahme eine Frist von vier Wochen eingeräumt.

12. Im Anschluss wurden der bevollmächtigten Vertretung des Beschwerdeführers die vom Bundesverwaltungsgericht eingebrachten Unterlagen betreffend Taliban und Religionsfreiheit in Afghanistan übermittelt.

12.1. Die belangte Behörde hat mit dem Schriftsatz vom 05.10.2020 eine Stellungnahme zu den Ergebnissen der Beschwerdeverhandlung eingebracht. Im Wesentlichen zusammengefasst wurde vorgebracht, das entsprechend der Judikatur der Höchstgerichte in Verbindung mit aktuellen Länderberichten, auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der COVID 19 Pandemie, kein maßgebendes Rückkehrhindernis bestünde, da der Beschwerdeführer zwar im Iran aufgewachsen, jedoch jung, gesund, arbeitswillig und –fähig, sowie in einer afghanischen Familie sozialisiert und im Iran in die Schule gegangen sei, und über Berufserfahrung verfüge. Es bestehe daher eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif. Ergänzend wurde ausgeführt, dass den Aktenunterlagen nach nicht nachvollziehbar sei, dass der Beschwerdeführer keine Kenntnisse der Sprache Dari habe. Es lägen auch Anhaltspunkte vor, dass der Beschwerdeführer verschwiegen habe, dass sich in Balkh Familienmitglieder aufhalten könnten. Auch könne der Beschwerdeführer Unterstützung durch seine im Iran lebende Familie erwarten.

12.2. Die bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers hat mit dem Schriftsatz vom 27.10.2020 eine Stellungnahme zu den Ergebnissen der Beschwerdeverhandlung eingebracht. Unter Zitierung von Berichten zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan wurde mit Hinweis auf seine persönlichen Umstände im Wesentlichen zusammengefasst vorgebracht, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei. Zudem sei zu berücksichtigen, dass er wegen der drohenden Abschiebung nach Afghanistan aus wohlbegründeter Furcht aus dem Iran geflohen sei, weil ihm dort als Sohn seines Vaters, Rückkehrer aus dem Iran und dem westlichen Ausland und aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit, sowie wegen seines Abfalls vom Glauben, Verfolgung in asylrelevantem Ausmaß drohe. Der Beschwerdeführer beabsichtige nicht, seine Werte und Glaubensansichten abzulegen, sondern vielmehr trotz Lebensgefahr für diese kämpfen wolle.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara an.

Als Geburtsdatum wird der XXXX angenommen.

Die Muttersprache ist Dari, er beherrscht aber besser die Sprache Farsi.

Er gelangte unter Umgehung der Einreisevorschriften nach Österreich und stellte am 18.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er verfügt über kein Reisedokument und hat auch nie eines besessen.

1.2. Zum Leben in Österreich

Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich bereits gut integriert. Er ist in Österreich nicht verheiratet, führt keine Lebensgemeinschaft, hat in Österreich keine Kinder und auch sonst keine Verwandten. Er hat sich in Österreich einen Freundeskreis aufgebaut und betreibt Sport.

Er kann sich in gut verständlichem Deutsch unterhalten, dokumentiert sind Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich den Pflichtschulabschluss nachgeholt und besucht derzeit die HTL.

Er ist seit Jänner 2020 selbständig erwerbstätig (Essenlieferservice).

Der Beschwerdeführer verrichtet freiwillige Arbeit in einem Seniorenwohnhaus und war auch in einem Projekt der Stadt Salzburg gemeinnützig beschäftigt.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Zur Rückkehrsituation

Der Beschwerdeführer ist im Iran geboren und hat bis zu seiner Ausreise nach Europa 2015 im Iran, Isfahan, bei seiner Familie gelebt. Er war noch nie in Afghanistan. Seine Eltern stammen aus der Provinz Balkh und sind vor mehr als 30 Jahren in den Iran ausgereist.

Der Beschwerdeführer ist im erwerbsfähigen Alter und gesund.

Es ist nicht hervorgekommen, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan ein effektives familiäres bzw. soziales Netz zur Verfügung steht. Es liegen keine überzeugenden Anhaltspunkte vor, dass die Familie oder Freunde ausreichend in der Lage und auch willens sind, den Beschwerdeführer zu unterstützen.

Die Familie hat in einer Mietwohnung gelebt, das Familieneinkommen hat sein Vater als Arbeiter erwirtschaftet.

Der Beschwerdeführer hat im Iran vier Jahre eine afghanische Schule besucht.

Nach dem Tod seines Vaters, der Beschwerdeführer war damals ca. 11 Jahre alt, haben er, seine Mutter, seine Großmutter und seine Schwester in einem Haushalt gelebt. Der Beschwerdeführer hat zum Familieneinkommen beigetragen, indem er ca. zweieinhalb Jahre in einer Schneiderei geputzt und Hilfsarbeiten durchgeführt hat. Danach war er am Bau als Hilfsarbeiter beschäftigt. Er hatte einige Monate lang die Gelegenheit auf der Baustelle von seinem Meister etwas zu lernen. Eine Berufsausbildung hat er weder in der Schneiderei noch am Bau erworben. Seine Schwester arbeitet in der Schneiderei.

Seit der Ausreise des Beschwerdeführers erhält die Mutter manchmal Unterstützung von Hilfsorganisationen.

Sein Bruder A. hat im Iran eine eigene Familie, weshalb er die Mutter bzw. Großmutter kaum unterstützen kann. Er hat auch die Schulden, welche er zur Finanzierung der Ausreise des Beschwerdeführers aufgenommen hatte, noch nicht zurückgezahlt.

Zu seinem anderen Bruder J. hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt, die beiden haben seit der Kindheit kein gutes Verhältnis.

Im Iran leben auch Onkel und Tanten des Beschwerdeführers.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat, droht ihm im Hinblick auf seine persönlichen Umstände, unter Berücksichtigung der Versorgungs- und Wirtschaftslage, in Zusammenschau mit der COVID-19 Pandemie bedingten wirtschaftlichen Situation und den damit für Rückkehrer verbundenen Einschränkungen, ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Es ist ihm nicht zumutbar, sich in den urbanen Gebieten Afghanistans, insbesondere in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, oder an einem anderen Ort Afghanistans niederzulassen.

1.4. Zum Fluchtvorbringen

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung wegen eines Konventionsgrundes in asylrelevantem Ausmaß.

Der Beschwerdeführer hat den Iran aus Furcht, nach Afghanistan abgeschoben zu werden, bzw. im Krieg gegen Syrien kämpfen zu müssen, verlassen.

Es droht dem Beschwerdeführer weder staatliche Verfolgung, noch Verfolgung durch die Taliban bzw. regierungsfeindliche Gruppierungen.

Der Beschwerdeführer vermutet, dass seine Eltern Afghanistan verlassen haben, weil sein Vater als Gefängniswärter für die Regierung gearbeitet haben, und deswegen von den Taliban bedroht worden sein soll. Eine aktuelle, konkret gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgung resultiert daraus selbst dann nicht, wenn diese Vermutung den Tatsachen entsprechen sollte. Die Eltern haben Afghanistan vor mehr als 30 Jahren verlassen, konkrete Anhaltspunkte, dass der Vater des Beschwerdeführers für die Taliban ein hochrangiges Ziel dargestellt haben könnte, sind nicht hervorgekommen. Es ist nicht davon auszugehen, dass seitens der Taliban aktuell ein derart ausgeprägtes Interesse daran bestehen könnte, nach dem Beschwerdeführer zu suchen.

Der Beschwerdeführer war weder politisch tätig noch gehörte er einer politischen Partei an. Er hat sich nie in Afghanistan aufgehalten.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine psychische und/oder physische Gewalt aufgrund seines Aufenthaltes im Iran und in Europa wegen einer ihm unterstellten Moral- und Wertehaltung, welche nicht jener in Afghanistan vorherrschenden entspricht. Eine allgemeine systematische Verfolgung aller Rückkehrer durch die Taliban bzw. regierungsfeindliche Gruppen, kann auf Basis der Quellenlage nicht erkannt werden.

Dem Beschwerdeführer droht auch wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell keine physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Nicht jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara ist in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Dem Beschwerdeführer droht keine konkrete und individuelle Gefahr einer zwangsweisen Rekrutierung durch die Taliban bzw. regierungsfeindliche Gruppierungen in Afghanistan. Eine landesweite Bedrohung, als junger Mann von diesen Gruppen zwangsrekrutiert zu werden, kann auf Basis der Quellenlage nicht erkannt werden.

Der Beschwerdeführer lehnt den Islam nicht aus einer verfestigten, inneren Überzeugung heraus derart ab, dass dieser Umstand zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Identität geworden ist, dass ihm im Falle der Rückkehr Verfolgung in asylrelevantem Ausmaß droht. Zwar betet und fastet er nicht, trinkt Alkohol und isst Schweinefleisch. Er tritt jedoch weder islamkritisch, noch den Islam beleidigend, auf und lebt sein Desinteresse am Islam nicht offen aus. Er hat Kontakt mit Freunden, welche die Moschee besuchen.

Der Beschwerdeführer hat im Iran gelebt, teilweise ohne den Islam oder sonst eine Religion auszuüben.

Er hat begonnen, sich für das Christentum zu interessieren, geht aber keiner neuen religiösen Überzeugung nach.

Auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan lässt sich konkret für den Beschwerdeführer kein Status eines Asylberechtigten ableiten.

Es haben sich im Verfahren keine hinreichend sicheren Anhaltspunkte für eine wohlbegründete Furcht des Beschwerdeführers, dass ihm in Afghanistan individuell und aktuell Verfolgung droht, ergeben.

Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.

Festgestellt wird jedoch, dass dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung der aktuellen sozioökonomischen Lage in Afghanistan, in Verbindung mit seinen persönlichen Umständen, im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 und 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 droht.

Es besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative für den Beschwerdeführer. Auch im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat, würde er mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine existenzbedrohende Notlage geraten.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat

1.5.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand vom 21.07.2020:

COVID-19:

21.07.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

In der Provinz Daikundi gibt es ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Es gibt jedoch keine Auswertungsmöglichkeiten für COVID-19-Tests – es werden Proben entnommen und zur Laboruntersuchung nach Kabul gebracht. Es dauert Tage, bis ihre Ergebnisse von Kabul nach Daikundi gebracht werden. Es gibt Berichte, dass 90 Prozent der Menschen in Daikundi unter der Armutsgrenze leben und dass etwa 60 Prozent der Menschen in der Provinz stark von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Samangan gibt es ebenso ein Krankenhaus für COVID-19-Patienten mit 50 Betten. Wie auch in der Provinz Daikundi müssen Proben nach Kabul zur Testung geschickt werden. Eine unzureichende Wasserversorgung ist eine der größten Herausforderungen für die Bevölkerung. Nur 20 Prozent der Haushalte haben Zugang zu sauberem Trinkwasser (RA KBL 16.7.2020).

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).

29.06.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

18.05.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

?        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

?        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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