TE OGH 2020/11/27 1Ob210/20v

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Veröffentlicht am 27.11.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verlassenschaft nach H***** G*****, verstorben am *****, vertreten durch Dr. Roman Moser, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei G*****gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Univ.-Prof. Dr. Friedrich Harrer und Dr. Iris Harrer-Hörzinger, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen 143.052,26 EUR sA, über die außerordentliche Revision und den darin enthaltenen Rekurs der beklagten Partei gegen das Teilzwischenurteil und den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 14. Oktober 2020, GZ 11 R 4/20t-61, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 7. August 2020, GZ 6 C 126/18k-54, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, zu Recht erkannt und beschlossen:

Spruch

I. Der in der Revision enthaltene Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts wird zurückgewiesen.

II. Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Teilzwischenurteil wird dahin abgeändert, dass im davon erfassten Umfang das klageabweisende Urteil des Erstgerichts als Teilurteil wiederhergestellt wird.

Die Entscheidung über die Kosten erster und zweiter Instanz bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

III. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshof bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]       Der während des erstinstanzlichen Verfahrens verstorbene Kläger wurde Mitte September 2017 in der von der Beklagten betriebenen Krankenanstalt stationär aufgenommen. Er war ab Ende September 2017 auf der Normalstation (Sonderklasse) der Universitätsklinik für Neurologie untergebracht.

[2]       Am Abend des 28. 9. 2017 machte er verwirrte Aussagen, hatte jedoch keine Suizidgedanken. Nach einem psychiatrischen Konzil wurde ihm das Medikament Seroquel verordnet, das er einnahm und worauf er ruhig im Zimmer lag. Zuvor war er weder aggressiv, noch wollte er aus dem Zimmer flüchten.

[3]       Am 29. 9. 2017 wurde beim Kläger ein fluktuierendes delirantes Zustandsbild diagnostiziert und eine Standardbehandlung mit Neuroleptika angeordnet. Um 5:00 Uhr in der Früh dieses Tages entfernte er seinen Dauerkatheter und versuchte „einmalig“, die Station zu verlassen; er wurde aber vom Pfleger überzeugt zu bleiben und ins Zimmer zurückgebracht. Er war nicht aggressiv und hatte keine Suizidgedanken.

[4]       Am 3. 10. 2017 wurde in der Pflegedokumentation um 18:15 Uhr festgehalten: „Patient wieder unruhig und sieht Kinder, die erschossen werden. Med. vom Vorabend vorgezogen.“

[5]       In der Nacht vom 3. auf den 4. 10. 2017 ordnete der behandelnde Arzt eine Sitzwache an, weil der Kläger unruhig war, an der Infusion hing und überall herumgezogen hatte. Es sollte verhindert werden, dass er sich etwas herausreißt. Sitzwachen dauern von ca 18:00 Uhr/19:00 Uhr am Abend bis 6:00 Uhr oder 7:00 Uhr am nächsten Morgen. Um 5:25 Uhr des 4. 10. 2017 wurde in der Pflegeinformation festgehalten: „Pat. mit Nachtmedikamentation ab 20:00 Uhr bis 00:00 Uhr ruhig gewesen und mit Unterbrechungen geschlafen. Dann mit Zusatzmed. [...] behandelt wg. Unruhe (kommt immer wieder aus dem Zimmer raus). Die restliche Nacht mit kürzeren Schlaf- und Wachphasen, marschiert im Zimmer hin und her und sucht nach irgendwas, desorientiert.“

[6]       Um 12:20 Uhr findet sich am 4. 10. 2017 der Eintrag: „Pat. kommt heute Morgen mehrmals unbekleidet aus dem Zimmer, DK [Anm.: Dauerkatheter] dekonisiert, lässt sich gut anleiten, wieder ins Zimmer zu gehen. Putzt sich auf Aufforderung die Zähne und rasiert sich selbständig. Hilfestellung kommt beim Waschen und Ankleiden. Am Vormittag wenig Harn im Sackerl, Pat. auf URO wegen Schmerzen beim Katheter und Blasenschmerzen. Neuen DK erhalten. Inhalt bei Rückkehr ca 1.000 ml im Sackerl. Bei DK-Kontrolle liegt Pat. im Bett.“

[7]       Während der diensthabende Arzt gegen 13:00 Uhr ein Gespräch mit den Angehörigen führte, wurde der Kläger in die Urologie gebracht, wo ein neuer Katheter gesetzt wurde. Die Krankenschwester sah den Kläger, als er in sein Zimmer zurückgebracht wurde. Er berichtete ihr, dass das Setzen des neuen Katheters nicht angenehm gewesen sei. Er war nicht verwirrt. Gegen 14:45 Uhr stieg er in seinem Krankenzimmer auf der Sonderklassestation der neurologischen Abteilung auf ein rund 1,2 m hohes Fensterbrett, vor dem ein Tisch und ein Sessel standen, öffnete das ungesicherte Fenster und stürzte auf das Vordach, wodurch er sich schwere Verletzungen zuzog.

[8]       Nicht festgestellt werden kann, dass der Kläger Selbstmord begehen wollte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass er aufgrund eines deliranten Zustands, in dem er nicht realitätsbezogen und nicht situationsbezogen war, das Fenster mit der Tür verwechselte, als er das Zimmer verlassen wollte.

[9]       Nach dem Sturz wurde der Kläger in das Nebenzimmer verlegt. Dort sind die Fenster gegen ein Öffnen gesichert. Ansonsten handelte es sich um ein baugleiches Zimmer. Mittlerweile sind die Fenster in sämtlichen Krankenzimmern der „Normalstation“ der Universitätsklinik für Neurologie der Beklagten nur mehr kippbar.

[10]     Die vor dem Vorfall bei der Beklagten durchgeführten Untersuchungen waren umfangreich und lassen keine Mängel erkennen. Auch die Behandlung erfolgte lege artis. Der Kläger litt an hirnorganischen Veränderungen im Rahmen internistischer Vorerkrankungen mit einer milden kognitiven Störung in Übergang zu einer Demenz. Es lag ein fluktuierendes delirantes Zustandsbild, jedoch keine Schizophrenie, keine Alkoholerkrankung und keine schwere Depression vor. Er war pakt- und absprachefähig. Er stand unter regelmäßiger psychiatrischer Kontrolle und war in Behandlung bei Psychiatern; für die Ärzte und das Pflegepersonal der Beklagten war nicht erkennbar, dass er beim Versuch, den Raum zu verlassen, auf das Fensterbrett steigen könnte.

[11]     In Österreich wird die Mehrzahl von stationär aufgenommenen Patienten mit psychiatrischen Symptomen, insbesondere hirnorganischen Ursachen, wozu auch das Delir zählt, nicht auf psychiatrischen Stationen, sondern auf internistischen, gerontologischen und neurologischen Abteilungen behandelt.

[12]     Die klagende Verlassenschaft begehrte zuletzt von der Beklagten die Zahlung von 143.052,26 EUR samt Zinsen an Schadenersatz (Schmerzengeld 120.000 EUR; Heimkosten 16.563,37 EUR; Zuzahlung Rehabilitationsklinik 1.254,33 EUR; Medikamentenkosten 138,19 EUR; Heilbehandlungen und -behelfe 816,08 EUR; Parkgebühren 1.060,20 EUR und Fahrtkosten 2.213,82 EUR für Besuche von Angehörigen; Übersiedlungskosten ins Heim 389,50 EUR; Pflegekosten 316,77 EUR und Spesen 300 EUR). Während der Behandlung in der Krankenanstalt sei der mittlerweile Verstorbene zum Teil äußerst unruhig gewesen, sodass Sitzwachen abgehalten worden seien. Er habe als orientierungslos und verwirrt gegolten, paranoide Ideen geäußert und sei mehrmals „stationsflüchtig“ gewesen. Die Beklagte habe gegen ihre Betreuungspflichten verstoßen und angemessene Sicherungs- und Überwachungsmaßnahmen unterlassen. Der Patient sei trotz seines Gesundheitszustands ohne Überwachung in einem Zimmer mit ungesichertem Fenster untergebracht gewesen. Die Beklagte müsse als Krankenhausträger im Rahmen ihrer vertraglichen Verkehrssicherungspflichten die Fenster gegen Öffnen sichern, wenn auf der Station – wie im vorliegenden Fall – Patienten behandelt werden, bei denen aufgrund von Fluchttendenzen und Desorientiertheit typischerweise die Gefahr selbstschädigender Handlungen bestehe.

[13]     Die Beklagte wendete ein, sie habe keine Betreuungspflichten, insbesondere keine Verkehrssicherungspflichten, verletzt. Am 29. 9. 2017 sei zwar ein fluktuierendes, delirantes Zustandsbild diagnostiziert worden; es habe jedoch keine Selbst- oder Fremdgefährdung bestanden. In der Folge habe sich der Zustand gebessert. Das Sturzereignis sei aus medizinischer Sicht unvorhersehbar und schicksalhaft gewesen. Auf einer offenen Station bestehe keine allgemeine Verpflichtung, Fenster versperrt zu halten. Dies würde vom Patienten als Maßnahme des Freiheitsentzugs verstanden werden.

[14]     Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Beklagte sei unter Zugrundelegung der Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls ihrer Verkehrssicherungspflicht nachgekommen. Der Sachverhalt der Entscheidung zu 7 Ob 245/05p sei mit dem vorliegenden nicht vergleichbar. Im dort zu beurteilenden Fall habe ein jüngerer Patient nach einem Schiunfall eine schwere Schädel-Hirn-Verletzung erlitten und sich in einer Intensivstation befunden, während es sich beim Kläger um einen (73 Jahre alten) Patienten mit einer davon zu unterscheidenden protahierten deliranten Symptomatik gehandelt habe. Das Sturzereignis sei schicksalhaft gewesen.

[15]     Das Berufungsgericht sprach mit Teilzwischenurteil aus, das Zahlungsbegehren über 120.000 EUR sA (Schmerzengeld) bestehe dem Grunde nach zu Recht. Mit Beschluss hob es hinsichtlich des weiteren Leistungsbegehrens (23.052,26 EUR sA) das Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache insoweit an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurück. Es erklärte die ordentliche Revision gegen sein Urteil für nicht zulässig. Die Entscheidung des Berufungsgerichts enthält keinen Ausspruch, der Rekurs an den Obersten Gerichtshof gegen den Aufhebungsbeschluss sei zulässig.

[16]     Rechtlich führte das Berufungsgericht, der Entscheidung zu 7 Ob 245/05p folgend, aus, dass auf der neurologischen Station der Beklagten, auf der der Kläger behandelt worden sei, regelmäßig Patienten etwa mit einem Delir, zeitlicher und örtlicher Desorientierung und Verwirrtheitszuständen behandelt würden. Damit ergebe sich zwangsläufig die Problematik von Fluchttendenzen und selbstschädigenden Handlungen. Demnach habe für die Beklagte die Verpflichtung bestanden, unabhängig vom zu beurteilenden Einzelfall Maßnahmen zu ergreifen, die es Patienten unmöglich gemacht hätten, das Krankenzimmerfenster zu öffnen und dadurch zu Schaden zu kommen. Der Beklagten sei eine entsprechende Sicherung zumutbar gewesen. Nunmehr seien alle „Krankenzimmer“ auf der Normalstation nur mehr kippbar. Eine unzumutbare Kostenbelastung sei damit ganz offensichtlich nicht verbunden gewesen. Die Beklagte habe die gegenüber ihrem Patienten bestehende Verkehrssicherungspflicht verletzt, deren Einhaltung die sturzbedingten Verletzungen verhindert hätte. Das Urteil des Erstgerichts sei daher in ein stattgebendes Teilzwischenurteil über das Schmerzengeldbegehren abzuändern; mangels ausreichender Feststellungen zu den übrigen Leistungsbegehren sei dem Erstgericht insoweit die Ergänzung des Verfahrens aufzutragen.

Rechtliche Beurteilung

[17]     Die von der Beklagten dagegen erhobene außerordentliche Revision, die von der klagenden Verlassenschaft bereits ohne Freistellung der Revisionsbeantwortung beantwortet wurde, ist zulässig, weil das Berufungsgericht die die Beklagte treffenden Sorgfaltspflichten überspannt hat. Sie ist im Umfang der zulässigen Bekämpfung der zweitinstanzlichen Entscheidung auch berechtigt.

[18]     I. Soweit sich die Beklagte gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts wendet, mit dem das erstinstanzliche Urteil hinsichtlich eines (weiteren) Zahlungsbegehrens von 23.052,26 EUR samt Zinsen aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen wurde, ist ihr Rechtsmittel absolut unzulässig:

[19]     Gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO ist gegen berufungsgerichtliche Beschlüsse, soweit dadurch das erstgerichtliche Urteil aufgehoben und dem Gericht erster Instanz eine neuerliche, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällende Entscheidung aufgetragen wird, der Rekurs an den Obersten Gerichtshof nur dann zulässig, wenn das Berufungsgericht dies ausgesprochen hat. Die Zulässigkeit des Rekurses ist daher an einen ausdrücklichen Zulassungsausspruch des Gerichts zweiter Instanz gebunden. Fehlt – wie hier – ein solcher Ausspruch, ist jede Anfechtung (sei es durch „außerordentlichen“ Rekurs oder im Rahmen einer „außerordentlichen Revision“ als Rechtsmittel nur gegen ein Berufungsurteil: §§ 505, 506 ZPO) ausgeschlossen (RIS-Justiz RS0043880; RS0043898). Die von der Revisionswerberin für ihre abweichende Rechtsansicht ins Treffen geführten Rechtssätze und Entscheidungen beziehen sich auf anders gelagerte Prozesskonstellationen. Das insoweit als Rekurs zu behandelnde Rechtsmittel ist daher als jedenfalls unzulässig zurückzuweisen.

[20]     II.1. Wird ein Patient in ein Krankenhaus stationär aufgenommen und behandelt, schließt er einen Krankenhausaufnahmevertrag mit dem Rechtsträger des Krankenhauses ab. Der Krankenhausaufnahmevertrag ist ein umfassender Vertrag und verpflichtet den Krankenhausträger nicht nur zur sachgemäßen Behandlung durch das ärztliche und pflegende Personal der Krankenanstalt, sondern auch zur Pflege, Verpflegung und Beherbergung des Patienten und zur Wahrung seiner körperlichen Sicherheit (4 Ob 208/17t mwN = SZ 2018/24 = RS0021902 [T8]). Derjenige, der eine Krankenanstalt betreibt (der Rechtsträger), ist verpflichtet, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit der Patient nicht durch andere Patienten, durch Besucher, durch technische Einrichtungen zur Heilbehandlung und Pflege und durch sonstige betriebliche Anlagen in seiner körperlichen Unversehrtheit zu Schaden kommt (RS0021902). Aus allgemeinen Verkehrssicherungspflichten ist der verantwortliche Rechtsträger eines Krankenhauses unter anderem verpflichtet, insbesondere auch die Krankenzimmer in einem verkehrssicheren und gefahrlosen Zustand zu erhalten (RS0021902 [T5]).

[21]     II.2. Auch eine derartige Sorgfaltspflicht darf allerdings nicht überspannt werden, soll sie doch keine in Wahrheit vom Verschulden unabhängige Haftung des Sicherungspflichtigen zur Folge haben (RS0023950). Entscheidend ist vor allem, welche Maßnahmen zur Vermeidung einer – erkennbaren – Gefahr möglich und zumutbar sind.

[22]     II.3. Nach dem Sachverhalt der Entscheidung zu 7 Ob 245/05p, mit der eine Revision wegen des „Einzelfallcharakters“ zurückgewiesen wurde, wurde der dortige Kläger nach einem Schiunfall mit einem Schädel-Hirn-Trauma in die neurochirurgische Intensivstation einer Krankenanstalt eingeliefert. Während der Nacht begleitete ihn ein Diplomkrankenpfleger zur Toilette und wartete vor der halbgeöffneten Türe des Badezimmers. Der Patient sprang in der Folge aus dem – gegen Öffnung nicht gesicherten – Toilettenfenster und zog sich schwere Wirbelsäulen- und Beinverletzungen zu. Dazu war es gekommen, weil sich der Patient – als typische Folge seiner erlittenen Schädelverletzungen – im Zustand eines hirntraumatischen Durchgangssyndroms befunden hatte. Das Erscheinungsbild solcher Patienten ist unter anderem durch Unruhe und Bettflüchtigkeit sowie selbstschädigende Handlungen gekennzeichnet. Werden auf einer Krankenhausstation regelmäßig Patienten nach schweren Schädelverletzungen behandelt, zu deren typischen Folgen hirnorganische Durchgangssymptome zählen und ergebe sich daher zwangsläufig die Problematik von Fluchttendenzen bzw selbstschädigenden Handlungen, dann bestehe nach der mit den Judikaturgrundsätzen im Einklang stehenden Entscheidung des Berufungsgerichts die Verpflichtung, auch ohne Bezug auf den konkreten Einzelfall Maßnahmen zu ergreifen, die es Patienten unmöglich machen, das Toilettenfenster zu öffnen und dadurch zu Schaden zu kommen. Insbesondere wäre es leicht zu bewerkstelligen gewesen, das Toilettenfenster – zB durch Entfernen des Fenstergriffs – entsprechend abzusichern.

[23]     Der Sachverhalt dieser Entscheidung ist – worauf das Erstgericht zutreffend hinwies – mit dem vorliegend zu beurteilenden insoweit nicht vergleichbar, als beim Kläger ein fluktuierendes delirantes Zustandsbild und kein – mit Fluchttendenzen bzw gar selbstschädigenden Handlungen verbundener – Zustand eines hirntraumatischen Durchgangssyndroms bestand.

[24]     II.4. Der Kläger war auf der „Normalstation“ der Universitätsklinik für Neurologie der Beklagten untergebracht. Er zeigte ein fluktuierendes delirantes Zustandsbild und stand unter regelmäßiger psychiatrischer Kontrolle; seine Behandlung erfolgte lege artis. Er befand sich im Zustand beginnender Demenz, war paktfähig und absprachefähig. Einige Tage vor dem Sturz aus dem Fenster versuchte er ein Mal die Station zu verlassen, wurde aber vom Pfleger überzeugt zu bleiben und wieder in sein Zimmer gebracht. Er war nicht aggressiv und hatte auch keine Suizidgedanken. In der Nacht vor dem Vorfall marschierte er im Zimmer hin und her, suchte nach irgendetwas und war desorientiert. Am Morgen kam er mehrmals unbekleidet aus seinem Zimmer, ließ sich aber gut anleiten, wieder ins Zimmer zu gehen. Auch nachdem er am 4. 10. 2017 von der Urologie in sein Zimmer zurückkehrte, war er nicht verwirrt. Für das ärztliche Personal und das Pflegepersonal war nicht vorhersehbar, dass er aus dem Fenster steigen würde, um den Raum zu verlassen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass er aufgrund seines deliranten Zustands das Fenster mit der Tür verwechselte, als er das Zimmer verlassen wollte.

[25]     Bei diesem Sachverhalt ist der Beklagten keine Verletzung ihrer vertraglichen Schutzpflicht oder einer Verkehrssicherungspflicht anzulasten. Der Kläger, der sich in einem im Tagesverlauf schwankenden („fluktuierenden“) deliranten Zustand befand und zuvor sein Zimmer immer nur über den regulären Ausgang verlassen hatte, stürzte ohne erkennbare vorherige Anzeichen aus dem Fenster, weil er dieses mit der Tür verwechselte. Er zeigte (entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts) auch keine Fluchttendenzen bzw selbstschädigende Handlungen. Er war paktfähig und absprachefähig und kehrte am 29. 9. 2017, als er ein Mal die Station verlassen wollte, wieder in sein Zimmer zurück. Es bestand für die Beklagte keine allgemeine Pflicht, durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Zimmers alle erdenklichen Gefahrenquellen abzustellen. Eine derartige Pflicht ist beschränkt auf das Erforderliche und das für das Personal und die Patienten Zumutbare. War aufgrund des Krankheitsbildes des Klägers für die Mitarbeiter der Beklagten nicht absehbar, dass dieser das Fenster als Tür betrachten könnte, bestand auch keine Verpflichtung, ihn zu seinem Schutz in einem Raum mit nur kippbaren Fenstern unterzubringen oder die Fenster entsprechend zu sichern. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts steht weder in Bezug auf den Kläger noch auf sein Krankheitsbild fest, dass die Problematik von Fluchttendenzen und selbstschädigenden Handlungen bestand und erkennbar war. Eine Verpflichtung der Beklagten, auf ihrer neurologischen „Normalstation“ durchgehend Fenster nur mit Kippeffekt zu installieren, was etwa ein sachgemäßes Lüften verhindern würde, besteht nicht. Auch im konkreten Fall musste sie neben den von ihr gesetzten Maßnahmen keine weitergehenden treffen, die es dem Patienten unmöglich gemacht hätten, das Krankenzimmerfenster ganz zu öffnen. Dass die Beklagte nach dem Vorfall sämtliche Krankenzimmer auf der „Normalstation“ der Universitätsklinik für Neurologie so ausstattete, dass die Fenster nur mehr kippbar sind, beweist nur ihre Sorgfalt für zukünftige Fälle, zeigt aber nicht auf, dass diese Maßnahme bei einer ex-ante-Betrachtung bereits zum Schutz des Klägers erforderlich gewesen wäre. Mangels besonderer Anhaltspunkte für das Risiko einer solchen Verwendung des Fensters wäre dessen Sicherung eine Überspannung der der Beklagten zumutbaren Sorgfaltspflicht. Die Auffassung der Revisionsgegnerin, die geforderte Sicherheitsmaßnahme wäre auch „ohne Bezug auf einen konkreten Einzelfall“ bzw „losgelöst von einem individuellen Patienten“ zu ergreifen gewesen, weil auf neurologischen Stationen regelmäßig Patienten mit Tendenzen zur Flucht oder zu selbstschädigenden Handlungen behandelt würden, übersieht, dass sich die Verpflichtung zu bestimmten Sicherungsmaßnahmen immer nur aus den beim jeweiligen Patienten zu befürchtenden Risiken ergeben kann, es hingegen nicht darauf ankommt, ob eine zum Schutz anderer Patienten allenfalls gebotene Maßnahme auch ihm – im Sinn einer Reflexwirkung – zugute gekommen wäre. Die Beklagte verstieß somit nicht gegen ihre vertraglichen Schutzpflichten gegenüber dem Kläger, sodass das dem Schmerzengeldbegehren dem Grunde nach stattgebende Teilzwischenurteil des Berufungsgerichts in ein klageabweisendes Teilurteil abzuändern ist.

[26]     II.5. Der Revision der Beklagten ist daher Folge zu geben und im Umfang des den Gegenstand des Revisionsverfahrens bildenden Zahlungsbegehrens über 120.000 EUR sA das Urteil des Erstgerichts als Teilurteil wiederherzustellen.

[27]     III. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 und 4 ZPO.

Textnummer

E130342

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00210.20V.1127.000

Im RIS seit

21.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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