TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/7 L510 1413915-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.05.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

07.05.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §57
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55 Abs4

Spruch

L510 1413915-4/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Mag. Manuel DIETRICH, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.02.2020, Zahl XXXX , zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß § 10 Abs. 2, § 57 AsylG, § 9, § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG, § 46, § 52 Abs. 1 Z 1, Abs 9, § 53 Abs. 3 Z 5, § 55 Abs. 4 FPG als unbegründet abgewiesen.

II. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde wird als unzulässig zurückgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, der XXXX in Österreich geboren wurde, stellte am 22.01.2010, 30.09.2010, 14.04.2011 und 02.12.2016 Anträge auf internationalen Schutz, welche rechtskräftig negativ entschieden wurden.

Der zuletzt gestellte Antrag vom 02.12.2016 wurde im Rechtsmittelweg vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom XXXX , L526 1413915-3, gemäß § 3 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und gemäß § 8 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 13 Abs 2 Z 1 AsylG hat der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 31.01.2017 verloren und besteht gemäß § 55 Abs. 2 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise vom 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. Diese Entscheidung wurde mit Zustellung am 28.09.2018 rechtskräftig.

2. Mit Parteiengehör vom 16.12.2019 wurde der Beschwerdeführer über das Ergebnis der Beweisaufnahme verständigt, wonach beabsichtigt sei, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu erlassen. Unter einem wurden ihm die Länderfeststellungen zur Türkei übermittelt und der Beschwerdeführer wurde um Beantwortung von Fragen betreffend seine persönlichen Verhältnisse ersucht (AS 115ff).

3. Der Beschwerdeführer übermittelte mit Schreiben vom 08.01.2020 eine Stellungnahme zum Parteiengehör (AS 169ff).

4. Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid wurde (I.) ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, (II.) gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen, (III.) gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei, (IV.) gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen, (V.) eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 4 FPG nicht gewährt und (VI.) einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (AS 423ff).

5. Mit Schreiben vom 20.03.2020 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht vollumfängliche Beschwerde gegen diesen Bescheid (AS 527ff).

6. Die gegenständliche Beschwerde samt Verwaltungsakt des BFA langte am 02.04.2020 beim Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Linz, ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei, türkischer Abstammung und Angehöriger der sunnitischen Glaubensgemeinschaft. Seine Identität steht fest. Der Beschwerdeführer wurde in Österreich geboren und besuchte hier den Kindergarten sowie die Pflicht- bzw. Sonderschule. Er spricht Türkisch und Deutsch. Der Beschwerdeführer weist eine einfache Bildung und niedrige Intelligenz auf. Seit der Kindheit liegt eine Störung des Sozialverhaltens unter Emotionen vor. Er leidet an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung (Kennzeichen dieser kaum therapierbaren Persönlichkeitsstörung sind Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen, fehlendes Schuldbewusstsein, eine geringe Frustrationstoleranz sowie geringes Einfühlungsvermögen in andere). Der Beschwerdeführer hat bislang keine Therapie absolviert und sich auch sonst nicht mit seinem psychischen Zustand auseinandergesetzt. Eine begonnene Berufsausbildung hat der Beschwerdeführer abgebrochen und war anschließend in Österreich insgesamt ca. elf Monate als Hilfsarbeiter tätig. Er hat unter anderem in einer Stickerei, als Maurer sowie als Gehilfe in einem Imbiss gearbeitet. Für den Beschwerdeführer besteht eine Einstellungszusage als Autoverkäufer. In Österreich leben die Eltern, ein Zwillingsbruder, zwei Schwestern und mehrere Tanten und Onkel des Beschwerdeführers.

1.2. Von 2010 bis 2013 war der Beschwerdeführer mit einer ungarischen Staatsangehörigen verheiratet. Aus dieser Beziehung stammt ein Sohn, welcher 2011 in Österreich geboren wurde und ungarischer Staatsangehöriger ist. Es besteht ein Besuchsrecht zwischen dem Beschwerdeführer und dem Sohn, von welchem auch aktuell Gebrauch gemacht wird. Der Beschwerdeführer hat zwei weitere Kinder die in Deutschland leben (zehn und sechzehn Jahre alt), zu denen der Beschwerdeführer aber keinen Kontakt pflegt.

1.3. In der Türkei sind mehrere Tanten und Onkel des Beschwerdeführers aufhältig. Von September 1996 bis September 1997 hielt sich der Beschwerdeführer in der Türkei auf, so wie auch zu Urlaubszwecken in den Jahren 2000 und 2006. Weiters vier Tage Mitte Mai 2015 und 48 Stunden Anfang August 2015.

1.4. Der Beschwerdeführer verfügte zunächst über im Reisepass seiner Mutter eingetragene Aufenthaltstitel für Österreich, ab 22.03.1990 verfügte der Beschwerdeführer über einen unbefristeten Aufenthaltstitel in Österreich. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XXXX vom 26.02.2009 wurde ein unbefristetes Aufenthaltsverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen und am 11.07.2009 wurde der Beschwerdeführer erstmals in die Türkei abgeschoben. Er hielt sich dort für zwei Wochen auf und reiste danach illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 22.01.2010 erstmalig einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am 08.10.2010 wurde der Beschwerdeführer ein weiteres Mal in die Türkei abgeschoben und reiste am 07.04.2011 neuerlich illegal in das Bundesgebiet ein. Das unbefristet ausgesprochene Aufenthaltsverbot der BH XXXX wurde mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XXXX vom 21.05.2013 wieder aufgehoben. Von 20.11.2014 bis 19.11.2015 verfügte der Beschwerdeführer wieder über eine Aufenthaltsgenehmigung für Österreich. In der Schweiz wurde gegen den Beschwerdeführer ein Einreiseverbot ausgesprochen, welches von 10.10.2016 bis 09.10.2024 gültig ist.

1.5. Als Vierzehnjähriger wurde der Beschwerdeführer das erste Mal in Österreich straffällig. Insgesamt bestehen 12 strafgerichtliche Verurteilungen des Beschwerdeführers:

1)       Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des versuchten schweren Diebstahls durch Einbruch oder mit Waffen, der Vergehen des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen, der Sachbeschädigung, der Hehlerei und der gefährlichen Drohung gemäß § 127, 128 Abs 1/2, 129/1 U2, 15, § 136/1 U2, 125, 164/2, 107/1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

2)        Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des versuchten schweren Diebstahls durch Einbruch oder mit Waffen, der Vergehen des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen, des Erwerbes, Besitzes, Erzeugung, Ein- oder Ausfuhr, Überlassung oder Verschaffung von Suchtgiften, Verleumdung und des Vergehens der dauernden Sachentziehung gemäß § 127, 128 Abs 1/2, 129/1 U2, 15, § 136/1 StGB, § 27/1 SMG, § 297/1, 135/1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt (Jugendstraftat).

3)       Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des versuchten schweren Diebstahls durch Einbruch oder mit Waffen, des Vergehens der gefährlichen Drohung, des Verbrechens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt, fahrlässiger Körperverletzung, der Vergehen des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen, der Körperverletzung, der Fälschung eines Beweismittels, der Hehlerei, der Beleidigung und des Erwerbes, Besitzes, Erzeugung, Ein- oder Ausfuhr, Überlassung oder Verschaffung von Suchtgiften gemäß §15, 127, 128 Abs 1/2, 129/2, § 107/1 U2, § 15, 269/1, § 88/1 U3 (81/1), 88/4 (81/1), 136/1 U2, 83/2, 293/1, 164/2, 115/1 StGB, § 27/1 SMG zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten und einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen zu je ATS 50,00 verurteilt (Jugendstraftat).

4)       Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls gemäß § 127, 15 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je ATS 40,00 verurteilt (Jugendstraftat, Zusatzstrafe).

5)       Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des schweren Diebstahls durch Einbruch oder mit Waffen, der Vergehen der Urkundenunterdrückung und der bewaffneten Verbindung gemäß § 127, 128 Abs 1/4, 129/1, 229/1, 297/1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.

6)       Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer als Bestimmungs- bzw. Beitragstäter wegen des Verbrechens des versuchten schweren Diebstahls durch Einbruch oder mit Waffen gemäß § 127, 128 Abs 1/4, 129/1, 15, 12 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt.

7)       Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des Erwerbes, Besitzes, Erzeugung, Ein- oder Ausfuhr, Überlassung oder Verschaffung von Suchtgiften, des Verbrechens der Einfuhr, Ausfuhr oder Inverkehrsetzung großer Mengen von Suchtgift, des Vergehen des Diebstahles und der Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung gemäß § 27/1 (1.2. Fall), 28/2 (2.3.4. Fall) SMG, § 127, 298/1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

8)       Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehens der Körperverletzung, der gefährlichen Drohung, des Betruges, der Verleumdung und der versuchter Nötigung gemäß § 83/1, 107/1, 146, 297/1, §15, 105 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt (Zusatzstrafe).

9)       Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen Verleumdung gemäß § 297 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt (Zusatzstrafe).

10)      Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der gefährlichen Drohung gemäß § 107 Abs 1 und 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt.

11)      Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der Körperverletzung, Urkundenunterdrückung, Diebstahl und Gefährdung der körperlichen Sicherheit gemäß §§ 83 (1), 229 (1), 127 und 89 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt (Zusatzstrafe).

12)      Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX (rechtskräftig seit XXXX ) wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung gemäß § 87 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.

1.5.1. Das Landesgericht XXXX führte im erstinstanzlichen Urteil vom XXXX zur unter 12) gelisteten Verurteilung auszugsweise wie folgt aus:

„Am XXXX war XXXX gegen 01:30 Uhr auf dem Nachhauseweg. Sein Kollege XXXX ließ ihn bei seinem Wohnort in Lustenau aussteigen und fuhr weiter. Als XXXX gerade das Wohnhaus betreten wollte, traten von der Seite zwei dunkel gekleidete und maskierte Angreifer mit Handschuhen an ihn heran und attackierten ihn. Sie schlugen ihn von vorne und hinten mit Eisenstangen. XXXX setzte sich so gut er konnte zur Wehr, wobei es ihm zeitweise gelang die Angreifer auf Distanz zu halten. Plötzlich nahm er bei einem der Angreifer eine Waffe wahr, wobei nicht feststellbar ist, um was für eine Waffe es sich gehandelt hat. Der Angreifer begann mit der Waffe herum zu hantierten, dabei fiel auch eine Patrone zu Boden. XXXX wollte daraufhin auf diesen Angreifer losgehen. Dieser versetzte ihm jedoch mit der Waffe einen Schlag gegen die Schläfe. Danach hob er seine Maske und XXXX erkannte den Angeklagten, der damals einen Bart trug und nannte bzw fluchte dessen Namen. Gleichzeitig hatte er zuvor auch von hinten einen Schlag erhalten.

Aufgrund des Tumultes und der Hilfeschreie des XXXX war der Nachbar XXXX auf das Geschehen aufmerksam geworden. XXXX der nebenan wohnte, ging auf den Balkon und schrie nach unten was los ist. Als er sah wie zwei Personen auf XXXX einschlugen ging er zurück in die Wohnung, zog sich an und eilte zum Opfer. Die Angreifer waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor Ort. Auch die Ehegattin des XXXX , die kurz vor dem Nachhausekommen ihres Mannes noch mit diesem telefoniert hatte, sah vom Fenster ihrer Wohnung im dritten Stock, wie zwei Personen auf ihren Mann einschlugen. Weder sie noch XXXX konnten einen der Angreifer identifizieren.

Noch in der selben Nacht im Krankenhaus und auch am nächsten Tag gab XXXX sowohl seiner Frau als auch XXXX gegenüber an, dass er einen der Täter erkannt hat und dass es sich bei einem der Täter um den Angeklagten gehandelt hat. Auch den am Tatort eintreffenden Beamten nannte er den Namen des Angeklagten, die unverzüglich die Fahndung nach diesem in die Wege leiteten, wobei der Angeklagte erst am XXXX festgenommen werden konnte. Im Zuge der Sachverhaltsaufnahme konnte auf dem Vorplatz des Wohnobjektes eine nicht abgefeuerte Patrone (Kaliber 9 x 19 mm) sichergestellt werden.

XXXX hatte zum Tatzeitpunkt eine Alkoholkonzentration von 0,00 Promille im Blut. Darüber hinaus belegt der Nachweis von Cannabinoiden den Konsum von Haschisch, Marihuana oder anderer THC-hältiger Produkte und der Nachweis von Benzoylecgonin und Methylecgonin den stattgefundenen Konsum von Kokain oder Crack. Ob XXXX dadurch beeinträchtigt war, kann nicht festgestellt werden.

Durch die Schläge mit der Eisenstange und der Waffe erlitt XXXX einen Rippenserienbruch der Rippen 7 bis 9 an der linken Brustkorbhälfte, einen offenen Bruch der rechten Elle, Quetsch-Riss-Verletzungen am Kopf und mehrere kratzerartige Hautläsionen, verbunden mit einer Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit von mehr als 24 Tagen.

Dem Angeklagten kam es darauf an XXXX durch die Schläge mit einer Eisenstange und mit einer Waffe eine schwere Körperverletzung zuzufügen.

[…]

Die Feststellungen zur inneren Tatseite ergeben sich aus dem äußeren Tatgeschehen, einer lebensnahen Betrachtung des Sachverhalts und den Angaben des XXXX und sind dem Angeklagten zu unterstellen. Ein anderer Schluss lässt sich aus dem Verhalten nicht ziehen.

Die Absicht des Angeklagten XXXX eine schwere Körperverletzung zuzufügen, lässt sich, neben den bereits ausgeführten Überlegungen aus folgendem Aspekt ableiten:

Wer, wie der Angeklagte gemeinsam mit einem Mittäter mit einer Eisenstange bewaffnet, eine Person vor deren Wohnhaus abfängt und dann zielgerichtet auf diese einschlägt, sowie dieser noch mit einer Waffe gegen den Kopf schlägt, dem kann es nur darauf ankommen, dem Opfer eine schwere Körperverletzung zuzufügen. Ein anderer Schluss wäre lebensfremd.

[…]

Bei der Strafbemessung waren keine Milderungsgründe zu berücksichtigen. Erschwerend waren demgegenüber die einschlägige Vorstrafenbelastung, das Vorliegen der Rückfallsvoraussetzungen nach § 39 StGB sowie die Begehung als Mittäter. Ausgehend vom Schuldgehalt und vom objektiven Tatunwert sowie unter Berücksichtigung der genannten Erschwerungsgründe und der allgemeinen Grundsätze der Strafbemessung ist beim Angeklagten bei einem Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von 3 ½ (dreieinhalb) Jahren schuld- und tatangemessen. Eine auch nur teilbedingte Strafnachsicht kam im Hinblick auf die einschlägige Vorstrafenbelastung nicht in Betracht.“

Der gegen das Urteil des Landesgerichtes XXXX vom Beschwerdeführer erhobenen Berufung wurde vom Oberlandesgericht XXXX mit Urteil vom XXXX nicht Folge gegeben, der Berufung der Staatsanwaltschaft jedoch schon und die Freiheitsstrafe wurde auf vier Jahre erhöht. Dazu führte das OLG auszugsweise aus wie folgt:

„Die vom Erstgericht erfassten Strafzumessungsgründe sind durch den besonderen Erschwerungsgrund des § 33 Abs 3 Z 4 StGB zu ergänzen, zumal die Tat unter Einsatz von Eisenstangen und einer weiteren Waffe begangen wurde. Weiters wirkt sich die doppelte Qualifikation der an sich schweren und mit einer Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit von mehr als 24 Tagen verbundenen Körperverletzung erschwerend aus. Der Erschwerungsgrund der einschlägigen Vorstrafenbelastung ist dahingehend zu konkretisieren, dass neben den die Voraussetzungen des Rückfalls nach § 39 Abs 1 StGB begründenden Verurteilungen zwei weitere einschlägige Vorstrafen vorliegen.

Milderungsgründe sind hingegen nicht ersichtlich. Die in der Berufungsverhandlung vorgebrachten Argumente, der Angeklagte habe sich zum Tatzeitpunkt in „schlechter Gesellschaft befunden“ und müsse auch auf das künftige Leben des Angeklagten, der sich nach der Haft um seinen Sohn kümmern wolle, Bedacht genommen werden, stellen keine schuldmildernden Umstände dar. Das längere Wohlverhalten seit der letzten Vorstrafe verwirklicht nicht den Milderungsgrund des § 34 Abs 1 Z 18 StGB, weil dieser ein längeres Zurückliegen der vom nunmehrigen Schuldspruch umfassten Tat und ein Wohlverhalten seit dieser Tat voraussetzt. Zwar stammt die letzte durch das Bezirksgericht XXXX zu XXXX erfolgte (auch einschlägige) Verurteilung vom XXXX 1, doch verbüßte der Angeklagte bis Anfang November 2014 mehrere längere Freiheitsstrafen (Punkt 7, 10 und 11 der Strafregisterauskunft), sodass angesichts der weniger als drei Jahre nach der Haftentlassung nunmehr begangenen Tat nicht von einem längeren Wohlverhalten ausgegangen werden kann.

Der Strafrahmen des § 87 Abs 1 StGB reicht von einem bis zu zehn Jahren, infolge des Vorliegens der Voraussetzungen der Strafschärfung bei Rückfall nach § 39 StGB fakultativ bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe.

Angesichts der nur auf der erschwerenden Seite ergänzten Strafzumessungsgründe, denen keine mildernden Umstände gegenüberstehen, und des hohen Schuld- und Unrechtsgehaltes des maskierten und zu nächtlicher Stunde mit einem Mittäter agierenden Angeklagten sowie unter Berücksichtigung der allgemeinen Grundsätze der Strafbemessung nach § 32 StGB ist die vom Erstgericht verhängte Sanktion zu milde. Die Freiheitsstrafe war daher in Stattgebung der Berufung der Staatsanwaltschaft schuld- und tatangemessen auf vier Jahre zu erhöhen, wohingegen der Berufung des Angeklagten keine Berechtigung zukommt. Eine teilweise bedingte Strafnachsicht im Sinne des § 43a StGB kommt schon angesichts der Höhe der Strafe nicht in Betracht.“

1.5.2. Wegen diverser strafbarer Handlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz befand sich der Beschwerdeführer auch in Deutschland in Strafhaft (Jugendstrafe ein Jahr und acht Monate sowie Einheitsjugendstrafe drei Jahre).

1.5.3. In der Schweiz befand sich der Beschwerdeführer von 31.08.2015 bis 01.12.2016 in Strafhaft wegen Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz, Fälschen von Ausweisen und mehrfacher rechtswidriger Einreise.

1.5.4. Folgende Verwaltungsstrafen wurden in Österreich gegen den Beschwerdeführer ausgesprochen:

1)       Wegen einem Delikt nach dem FSG wurde der Beschwerdeführer am XXXX zu einer Geldstrafe in der Höhe von EUR 363,00 verurteilt.

2)       Wegen einem Delikt nach dem FSG wurde der Beschwerdeführer am XXXX zu einer Geldstrafe in der Höhe von EUR 600,00 verurteilt.

3)       Wegen einem Delikt nach dem FSG wurde der Beschwerdeführer am XXXX zu einer Geldstrafe in der Höhe von EUR 900,00 verurteilt.

4)       Wegen einem Delikt nach dem Sittenpolizeigesetz wurde der Beschwerdeführer am XXXX zu einer Geldstrafe in der Höhe von EUR 70,00 verurteilt.

5)       Wegen Delikten nach dem FSG und dem KFG wurde der Beschwerdeführer am XXXX zu einer Geldstrafe in der Höhe von EUR 1.350,00 verurteilt.

6)       Wegen einem Delikt wurde der Beschwerdeführer mit seit XXXX rechtskräftigem Bescheid zu einer Geldstrafe in der Höhe von EUR 600,00 verurteilt.

1.6. Hinsichtlich des Beschwerdeführers besteht seit 09.11.2007 ein Waffenverbot.

1.7. Von XXXX bis XXXX befand sich der Beschwerdeführer mit Unterbrechungen in Untersuchungshaft, seit XXXX befindet sich der Beschwerdeführer in Strafhaft. Das errechnete Strafende beläuft sich auf den 29.01.2022.

1.8. Länderfeststellungen

Sicherheitslage

Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Ar? (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein ?hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen A?r?, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbak?r, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, ?anl?urfa, Siirt, ??rnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).

Allgemeine Menschenrechtslage

Nach zwei Jahren der rapiden Verschlechterung der Menschenrechtslage endete der Ausnahmezustand am 18.7.2018. Dies ging jedoch nicht mit konkreten Schritten zur Verbesserung der Menschenrechte im Land einher. Stattdessen bleiben viele der während des Ausnahmezustands eingeführten Maßnahmen bis heute in Kraft. Diese haben nach wie vor tiefgreifende und verheerende Auswirkungen auf die türkischen Bürger (EC 29.5.2019, vgl. HRW 17.1.2019). Die Behörden haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen auf der Grundlage unterschiedlicher rechtlicher Bestimmungen im Visier, um gegen abweichende Meinungen vorzugehen und ein Klima der Angst aufrecht zu erhalten. So wurde gegen Menschenrechtsanwälte und Gewerkschaftsvertreter in aufeinanderfolgenden Verhaftungswellen vorgegangen (AI 1.2.2019).

Zwar umfasst der Rechtsrahmen allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, dieser muss aber noch mit der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR bzgl. Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte in Einklang gebracht werden. In den Bereichen Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit sowie Verfahrens- und Eigentumsrechten gab es weiterhin schwere Rückschritte (EC 29.5.2019, vgl. EP 13.3.2019). Einschränkungen der Tätigkeit von Journalisten, Akademikern, Menschenrechtsverteidigern und kritischen Stimmen auf breiter Ebene wirken sich negativ auf die Ausübung dieser Freiheiten aus und führen zu Selbstzensur. Die Durchsetzung der Rechte wird durch die Zersplitterung und eingeschränkte Unabhängigkeit der öffentlichen Einrichtungen, die für den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zuständig sind, und das Fehlen einer unabhängigen Justiz behindert (EC 29.5.2019).

Gemäß der Verfassung besitzt jede Person mit seiner Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können gemäß Art. 13 der Verfassung nur durch Gesetz und mit der Maßgabe eingeschränkt werden, dass ihr Wesenskern unberührt bleibt. Die Beschränkungen dürfen nicht gegen Wortlaut und Geist der Verfassung, die Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung und der laizistischen Republik sowie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Diesen Grundsätzen steht der Kampf gegen den Terrorismus als zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte gegenüber (ÖB 10.2019).

Die Türkei hat eine weit gefasste Definition von Terrorismus, die auch Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und die innere und äußere Sicherheit des Staates umfasst, die die Regierung regelmäßig einsetzt, um die legitime Ausübung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu kriminalisieren (USDOS 1.11.2019, vgl. ÖB 10.2019). Dieser Terrorismusbegriff ist mit dem Grundrechtsschutz unvereinbar (ÖB 10.2019). Das Europaparlament sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen (EP 13.3.2019).

Terrorismus-Anklagen sind weiterhin weit verbreitet. Bis Juni 2018 war nach Angaben des Justizministeriums fast ein Fünftel (48.924) aller Insassen (246.426) wegen Terrorismusdelikten angeklagt oder verurteilt worden. Zu den Verfolgten und Verurteilten gehören Journalisten, Beamte, Lehrer und Politiker sowie Polizisten und Militärangehörige. Von den 48.924 waren 34.241 wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung, 10.286 wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und 1.270 wegen angeblicher Verbindungen zum sog. Islamischen Staat in Haft (HRW 17.1.2019).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) spielt im Land eine besonders wichtige Rolle. Mit der Einführung der Individualbeschwerde seit September 2012 beruft sich das Verfassungsgericht noch häufiger auf die EMRK. Im Zuge des massenhaften strafrechtlichen Vorgehens gegen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung kam es zu einer deutlichen Zunahme der Individualbeschwerden beim EGMR, die jedoch in der Regel am Erfordernis der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung scheitern (AA 14.6.2019). Im Jahr 2018 stellte der (EGMR Verstöße gegen die EMRK in 142 Fällen (von 146) fest, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren (41), die Meinungsfreiheit (40), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (29), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (11), unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (11) und das Verbot von Folter (10) bezogen (EC 29.5.2019, vgl. ECHR 1.2019a). Im Berichtszeitraum 2018 wurden vom EGMR 6.717 neue Anträge registriert (ECHR 1.2019b, vgl. EC 29.5.2019). Auf dem Höhepunkt 2017 waren es 25.978 (ECHR 1.2019b). Im Rahmen des verstärkten Überwachungsverfahrens gibt es derzeit 410 Verfahren gegen die Türkei (EC 29.5.2019). Mit Stand 31.10.2019 waren 8.700 Verfahren aus der Türkei, das waren 14,5% aller Fälle, am EGMR anhängig (ECHR 12.11.2019).

Grundversorgung/Wirtschaft

Die türkische Wirtschaft hat in den letzten zwölf Monaten erhebliche außenwirtschaftliche Veränderungen erlebt, darunter rückläufige Leistungsbilanz-Ungleichgewichte und eine geringere Auslandsverschuldung der Banken. Dies hat die außenwirtschaftlichen Schwächen verringert, die sich im Vorfeld des Währungsschocks vom August 2018 gehäuft hatten. Investitionen sind zurückgegangen, die Preise hoch geblieben und die Arbeitslosigkeit gestiegen. Diese Anpassungen haben den Fremdfinanzierungsbedarf des Landes reduziert und zu einer stabileren Lira beigetragen, ungeachtet der Währungsschwankungen im Verlaufe des Jahres 2019. Die Anpassungen wurden durch ein aktiveres Agieren der Politik und günstigere globale monetäre Bedingungen unterstützt. Dennoch sind die Devisenreserven in den letzten zwei Jahren abgebaut worden und haben die Türkei einem außenwirtschaftlichen Druck ausgesetzt. Die Realwirtschaft ist nach wie vor stark von beharrlichen makro-finanziellen Schwächen betroffen. Die Investitionen gingen deutlich zurück (bis zum zweiten Quartal 2019), während die Industrieproduktion auf eine schwache Trendwende hinweist. Die allmähliche Erholung von der Rezession im Jahr 2018 wurde durch einen Anstieg des privaten Konsums und einer Nettoauslandsnachfrage betrieben. Der Rückgang der Inflation hat begonnen, nachdem die Wechselkursentwicklung und der Vertrauensverlust in die Lira die Verbraucherpreise stark anstiegen ließen. Die Inflation betrug in den ersten drei Quartalen 2019 durchschnittlich 17% (WB 2.11.2019).

Stagnierendes Produktionsniveau, steigende Produktionskosten und hohe Verbraucherpreise haben zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten und sinkenden Reallöhnen geführt. Die türkische Wirtschaft hat von Mai 2018 bis Mai 2019 rund 840.000 Arbeitsplätze verloren, was 2,9% der Gesamtbeschäftigung entspricht. Die Arbeitslosenquote stieg zwischen Mai 2018 und Mai 2019 von 10,6% auf 14%, wobei die Jugendarbeitslosigkeit einen Anstieg von 19,6% auf 25,6% verzeichnete. Die durchschnittlichen Reallöhne sanken zwischen 2017 und 2018 um 2,6%. Am stärksten betroffen sind ärmere Haushalte, da viele einkommensschwache Arbeitskräfte im Baugewerbe und in der Landwirtschaft beschäftigt sind - den Sektoren, in denen der größte Beschäftigungsrückgang zu verzeichnen war (WB 2.11.2019).

Weitere Tendenzen: chronisch hohes Leistungsbilanzdefizit; starke Abhängigkeit von Energieimporten (mehr als 50% des Defizits); fehlende Leistungsfähigkeit in höherwertigen Wirtschaftssektoren, in Teilen beschränkte globale Wettbewerbsfähigkeit, niedrige lokale Wertschöpfung in der Produktion; Abhängigkeit von ausländischen Kapitalflüssen (auch durch die geringe Sparquote: 13% BIP) hoher Anteil an Schwarzarbeit und geringer Anteil von Frauen in der Erwerbsarbeit. Stark entwickelt ist die Westtürkei mit dem Marmara-Raum und der Ägäis. Dabei erwirtschaftet die Region Istanbul mit ca. 20% der Bevölkerung 40% der gesamten Wertschöpfung. Unterentwickelt ist der Südosten und Osten des Landes, gekennzeichnet oft durch bittere Armut und wirtschaftliche Rückständigkeit (GIZ 9.2019a).

Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).

Sozialbeihilfe, Sozialversicherung

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yard?mla?ma ve Dayani?ma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber verschiedene Programme für mittellose Familien, wie z.B. Sachspenden (Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien, etc.); Kindergeld (eine einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 für das erste, 400 für das zweite und 600 Lira für das dritte Kind beträgt); finanzielle Unterstützung für Schwangere in einmaliger Höhe von 149 Lira unter bestimmten Bedingungen, wie geleistete Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst; Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache (dreimonatlich zwischen 1.527 und 2.589 Lira je nach Grad der Behinderung). All diese Hilfeleistungen des Staates sind an bestimmte Bedingungen gekoppelt, die von den Einzelnen nicht immer erfüllt werden können. Es gibt zwei unterschiedliche Arten von „Witwenunterstützung“. Jede Witwe (ohne Einkommen) hat im Jahr 2019 den Anspruch auf 550 Lira (alle zwei Monate). Diese Leistung wird vom Familienministerium bereitgestellt. Dann gibt es zum zweiten die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (max. 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch max. 4.263 Lira) (ÖB 10.2019).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankheitsversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Betrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; SSA 9.2018).

Medizinische Versorgung

Die vorhandenen Systeme sind nicht ausreichend, um eine medizinische Versorgung auf angemessenem Niveau für alle Bürger zu gewährleisten. Derzeit wird um eine Reform der Krankenversicherung gerungen, das heißt die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung auf einer beitragsfinanzierten Grundlage. Dies erscheint angesichts der großen Anzahl der in der Schattenwirtschaft tätigen Arbeiter zumindest herausfordernd. Das staatliche Gesundheitswesen besteht aus Krankenhäusern (Träger: SSK, Gesundheitsministerium, Universitäten), Polikliniken, Gesundheitsstationen (Variante 1: mit Pflegekraft, Variante 2: mit Arzt), niedergelassenen Ärzten und weiteren ambulanten Einrichtungen. Für die Versicherten ist die Behandlung kostenlos. Allerdings sind materielle und personelle Ausstattung oft mangelhaft, sodass mehr als eine ausreichende Basisversorgung nicht möglich ist. Selbst in Krankenhäusern sind die Patienten auf die Pflege durch Verwandte angewiesen. Medikamentenengpässe sind nicht selten. Auf 1.100 Einwohner kommt ein Arzt. Das liegt weit unter dem OECD-Durchschnitt (350 Einwohner pro Arzt). Nicht-Sozialversicherte haben keinen Anspruch auf Leistungen. Für sie und Kinder unter 18 Jahren gibt es die Grüne Karte (ye?il kart), mit der ärztliche Hilfe von den Ärmsten beansprucht werden kann. Daneben gibt es ein privates ärztliches Versorgungssystem, das gehobenen internationalen Standards genügt. Auch die Krisenmedizin ist auf einem guten Stand (GIZ 9.2019b).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten (ÖB 10.2019). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit wächst die Zahl der Krankenhäuser (2017: 1.518), davon ca. 60% in staatlicher Hand mit einer Kapazität von knapp 226.000 Betten. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ gratis (AA 14.6.2019).

Die Gesundheitsreform ist als Erfolg zu werten, da mittlerweile 90% der Bevölkerung eine Krankenversicherung haben, und die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, und die Kindersterblichkeit um 2/3 gesunken ist. Die Welt-Bank warnt jedoch vor explodierenden Kosten. Zahlreiche Ärzte kritisieren die sinkende Qualität der Behandlungen aufgrund der reduzierten Konsultationsdauer und der geringeren Ressourcen pro Patient (ÖB 10.2019).

Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. Im Fall von Krebsbehandlungen kann nach aktuellen Medienberichten aufgrund des gesunkenen Wertes der türkischen Währung keine ausreichende Versorgung mit bestimmten Medikamenten aus dem Ausland gewährleistet werden; es handelt sich aber nicht um ein flächendeckendes Problem (AA 14.6.2019).

Das neu eingeführte, seit 2011 flächendeckend etablierte Hausarztsystem ist von der Eigenanteil-Regelung ausgenommen. Nach und nach hat das Hausarztsystem die bisherigen Gesundheitsstationen (Sa?l?k Oca??) abgelöst und zu einer dezentralen medizinischen Grundversorgung geführt. Die Inanspruchnahme des Hausarztes ist freiwillig (AA 14.6.2019).

NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken (ÖB 10.2019).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Guvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Beiträge sind einkommensabhängig und fangen bei 76,75 Lira an (IOM 2019).

Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner/-in automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SKG-Behörde registrieren (IOM 2019).

Der freiwillige Mindestbetrag für die Grundversorgung – sofern keine Versicherung durch den Arbeitgeber bereits besteht – beträgt zwischen 6-12% des monatlichen Einkommens. Personen ohne ein reguläres Einkommen müssen ca. 13 EUR/Monat in die Krankenkasse einzahlen. Bei Nachweis über ein sehr geringes Einkommen (weniger als 150,- EUR/Monat) werden die Grundversorgungsbeiträge vom Staat übernommen (ÖB 10.2019).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Insgesamt standen 2017 elf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen von einigen Regionalkrankenhäusern. Insgesamt 36 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige (AMATEM) befinden sich in 33 Provinzen. Zusätzlich werden in 50 ambulanten und 44 stationären Gesundheitszentren Behandlungsmöglichkeiten angeboten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite, allerdings versorgt das Gesundheitsministerium derzeit alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphinen, auch können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten künftig in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologie-Krankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologie-Stationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. 166 Untersuchungszentren (sog. KETEM) bieten u. a. eine Früherkennung von Krebs an. Im Rahmen der häuslichen Krankenbetreuung sind in allen Provinzen mit 765 Gesundheitsbussen mobile Teams im Einsatz (bestehend meist aus Arzt, Krankenpfleger, Fahrer, ggf. Physiotherapeut etc.), die Kranke zu Hause betreuen. Diese Betreuung wird vom Gesundheitsministerium gebührenfrei angeboten. Etwa 15% der Bevölkerung profitieren von diesen Angeboten. Eine AIDS-Behandlung kann in allen Provinzen mit staatlichen (93 Krankenhäusern) wie auch Universitätskrankenhäusern (68 Krankenhäuser) durchgeführt werden. In Istanbul stehen drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 14.6.2019).

Behandlung nach Rückkehr

Türkische Staatsangehörige, die im Ausland für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, drohen polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen. Es kann davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere PKK- und Gülen-Anhänger, im Ausland ausspähen (AA 14.6.2019). Personen die für die PKK oder eine Vorfeldorganisation der PKK tätig waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Ähnliches gilt für andere Terrororganisationen (z.B. DHKP-C, türkische Hisbollah, Al-Qaida). Seit dem versuchten Militärputsch im Juni 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 10.2019). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische PYD bzw. die YPG als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (MFA o.D.).

Die türkische Regierung hat im Nachgang zu dem Putschversuch 2016 zahlreiche ausländische Regierungen um Mithilfe bei der Ermittlung von Mitgliedern des sog. „Gülen-Netzwerkes“ gebeten. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung zumindest als Propaganda für eine terroristische Organisation führen (AA 14.6.2019).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter, dieser entscheidet dann. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den geltenden Amnestiebestimmungen profitieren kann, oder ob Verjährung eingetreten ist. Sollte das Verfahren aufgrund der vorgenannten Bestimmungen ausgesetzt oder eingestellt sein, wird der Festgenommene freigelassen. Andernfalls fordert der Staatsanwalt beim Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, einen Haftbefehl an. Der Verhaftete wird verhört und mit einem richterlichen Haftbefehl dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, überstellt. Es ist in den letzten Jahren jedoch kein Fall bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurückgekehrter Asylwerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (AA 14.6.2019).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig. Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraph 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2019).

Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (UKHO 2.2018).

Es gibt Vereine, welche von türkischen Rückkehrern gegründet wurden. Hier werden spezielle Programme angeboten, welche die Rückkehrer in Fragen wie Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen und zugleich eine Netzwerkplattform zur Verfügung stellen. Im Folgenden eine kleine Auswahl:

• Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çi?dem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

• Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/

• TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail. almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 10.2019).

[Beweisquelle: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, Version vom 29.11.2019]

1.9. Es konnte unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und Beweismittel nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt ist oder dass sonstige Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Abschiebung in die Türkei entgegenstehen würden.

2. Beweiswürdigung

2.1. Die getroffenen Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, seiner Herkunft, seiner Schulbildung und Berufsausbildung und -ausübung, seinem psychischen Gesundheitszustand, seiner Familienangehörigen in Österreich (Punkt II.1.1.), seiner geschiedenen Ehe, dem aus der Ehe entstammenden Sohn und dem Besuchsrecht, den Kindern in Deutschland (Punkt II.1.2.), den Familienangehörigen in der Türkei und den Aufenthalten des Beschwerdeführers in der Türkei (Punkt II.1.3.), den Aufenthaltstiteln durch den Reisepass seiner Mutter, dem unbefristet ausgesprochenen Aufenthaltsverbot, der erstmaligen Abschiebung, der illegalen Einreise, der ersten Antragstellung auf internationalen Schutz, der zweiten Abschiebung, der erneut illegalen Einreise, der Aufhebung des unbefristet ausgesprochenen Aufenthaltsverbotes, der 2014-2015 innegehabten Aufenthaltsgenehmigung sowie zu dem von der Schweiz ausgesprochenen Einreiseverbotes (Punkt II.1.4.) beruhen auf den Feststellungen und der Beweiswürdigung des hg. Erkenntnisses vom XXXX , L526 1413915-3. Die Beweiswürdigung jenes Erkenntnisses verweist konsequent auf die Aktenseiten des Verwaltungsverfahrensaktes der belangten Behörde, weshalb ohne jeden Zweifel von der Richtigkeit der getroffenen Feststellungen auszugehen ist.

Zum psychischen Gesundheitszustand wird ergänzend ausgeführt, dass diese Feststellungen auf dem psychiatrischen Gutachten des XXXX vom 30.01.2008 beruhen. Bereits im hg. Erkenntnis vom XXXX wurde abgeleitet, dass der Beschwerdeführer nach wie vor an der 2008 diagnostizierten psychischen Störungen leidet, da es keine Hinweise darauf gegeben habe, dass er (nachhaltige) psychotherapeutische Maßnahmen in Anspruch genommen hätte. Auch zum gegenständlichen Entscheidungszeitpunkt sind keine Anhaltspunkte dafür vorliegend, dass der Beschwerdeführer sich seinem psychischen Gesundheitszustand stellen würde oder sich sonst einer Therapie unterzogen hätte. Es wurde daher festgestellt, dass der Beschwerdeführer (nach wie vor) unter der 2008 diagnostizierten, kaum therapierbaren Persönlichkeitsstörung leidet.

Dass der Beschwerdeführer auch während der Verbüßung der Haft von seinem Sohn und seiner Exfrau immer wieder besucht wird, ergibt sich auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben in der Beschwerde (Beschwerde, S 12).

2.2. Die festgestellten 12 strafgerichtlichen Verurteilungen (Punkt II.1.5.) beruhen auf einem hg. erstellten, aktuellen Auszug aus dem Strafregister der Republik Österreich (OZ 2).

2.2.1. Die zitierten Auszüge aus den Urteilen des Landesgerichtes XXXX vom XXXX und des Oberlandesgerichtes XXXX vom XXXX (Punkt II.1.5.1.) ergeben sich direkt aus diesen Urteilen (OZ 5).

2.2.2. Die in Deutschland (Punkt II.1.5.2.) ausgesprochenen Verurteilungen und die dort verbüßten Strafhaften und die in der Schweiz ausgesprochene Verurteilung und die dort verbüßte Strafhaft (Punkt II.1.5.3.) ergeben sich aus dem Verwaltungsverfahrensakt des BFA, auf welchen bereits das hg. Erkenntnis L526 1413915-3 verwiesen hat.

2.2.3. Die festgestellten Verwaltungsstrafen des Beschwerdeführers in Österreich (Punkt II.1.5.4.) konnten auf Basis des hg. eingeholten Auszuges aus dem Verwaltungsstrafregister (OZ 6) sowie dem im Verwaltungsverfahrensakt des BFA einliegenden Auszug aus der Vollzugsinformation festgestellt werden (AS 47-51).

2.3. Das aufrecht bestehende Waffenverbot (Punkt II.1.6.) ergibt sich aus dem Akt des BFA (Bescheid, S 4) und wurde vom Beschwerdeführer nicht bestritten.

2.4. Die festgestellten Zeiten der Untersuchungs- und der Strafhaft sowie das errechnete Strafende (Punkt II.1.7.) ergeben sich aus dem Auszug aus der Vollzugsinformation (AS 51).

2.5. Die von der belangten Behörde im gegenständlich angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat (Punkt II.1.8.) ergeben sich aus den von ihr in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Die belangte Behörde hat dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt, die im Wesentlichen aus den Jahren 2018 und 2019 stammen und als aktuell zu bezeichnen sind. Diese Quellen liegen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vor und decken sich im Wesentlichen mit dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes, das sich aus der ständigen Beachtung der aktuellen Quellenlage zur Lage im Herkunftsstaat ergibt. Angesichts der erst kürzlich ergangenen Entscheidung der belangten Behörde weisen die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit auf. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht ferner kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Der Beschwerdeführer ist in der gegenständlichen Beschwerde den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat auch nicht entgegengetreten.

2.6. Die getroffenen Feststellungen, wonach unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und Beweismittel nicht festgestellt werden konnte, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt ist oder dass sonstige Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Abschiebung in die Türkei entgegenstehen würden (Punkt II.1.9.), wurden getroffen, da bereits das Bundesverwaltungsgericht im Erkenntnis zur GZ L526 1413915-3 nachvollziehbar festgehalten hat, dass die Rückkehrbefürchtungen des Beschwerdeführers in die Türkei nicht glaubhaft waren bzw. auch der vom Beschwerdeführer gestellte Antrag auf internationalen Schutz nicht den Zweck gehabt habe, den Beschwerdeführer vor einer Bedrohung zu schützen (da der Beschwerdeführer jenen Antrag zurückziehen hatte wollen), sondern der Beschwerdeführer mit der Antragstellung „nur“ seine Abschiebung verhindern habe wollen (BVwG Erkenntnis L526 1413915-3, S 72). In Zusammenschau mit den getroffenen Feststellungen ergab sich auch keine Bedrohung des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr in die Türkei (weitere Ausführungen dazu in der rechtlichen Beurteilung).

3. Rechtliche Beurteilung

Zu A)

Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§ 57 AsylG) – Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides

3.1. Gemäß § 58 Abs. 1 Z 5 AsylG hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG von Amts wegen zu prüfen, wenn ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 57 AsylG hat das Bundesamt gem. § 58 Abs. 3 AsylG im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen. Gegen den BF besteht ein rechtskräftiges Einreiseverbot die Mitgliedstaaten betreffend. Mit Erkenntnis des BVwG vom XXXX , GZ L526 1413915-3/15E, wurde die Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom 18.07.2017 betreffend die Abweisung des Asylantrages und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung als unbegründet abgewiesen. Es wurde jedoch eine Frist zur freiwilligen Rückkehr von 14 Tagen gewährt. Die Entscheidung erwuchs mit 28.09.2018 in Rechtskraft. Mit Erkenntnis des BVwG vom 22.08.2019, GZ: L509 1413915-2/10E, wurde die Beschwerde betreffend die Zurückweisung des Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als unbegründet abgewiesen. Die Entscheidung erwuchs mit 23.08.2019 in Rechtskraft. Es besteht eine aufrechte Rückkehrentscheidung, der BF hält sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Er ist auch nicht begünstigter Drittstaatsangehöriger, da seine Ehe mit der ungarischen Staatsangehörigen, XXXX , unbestrittener Weise nicht mindestens drei Jahre bestanden hat. Der BF fällt auch nicht unter das Assoziationsabkommen mit der Türkei, da er zur Stellung eines Asylantrages illegal eingereist ist.

Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen 1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten