TE Bvwg Erkenntnis 2020/5/11 L502 2218799-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.05.2020
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Entscheidungsdatum

11.05.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

L502 2218799-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.04.2019, FZ. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG kommt XXXX als Asylberechtigter eine befristete Aufenthaltsberechtigung für drei Jahre zu.

III. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) reiste am 18.06.2017 mittels gültigem Visum C für den Schengen-Raum nach Österreich ein, wo er am 21.06.2017 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Am selben Tag erfolgte dort seine Erstbefragung. In der Folge wurde das Verfahren zugelassen.

3. Am 10.10.2018 wurde er beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu seinem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen.

Dabei ihm auch die Möglichkeit eingeräumt eine Stellungnahme zu den Länderinformationen der Behörde zur Lage in der Türkei abzugeben.

Er legte mehrere Beweismittel vor, die in Kopie zum Akt genommen wurden.

4. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 08.04.2019 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI).

5. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 08.04.2019 wurde ihm von Amts wegen gemäß § 52 BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

6. Gegen den mit 12.04.2019 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz seiner zugleich bevollmächtigten Vertretung vom 07.05.2019 innerhalb offener Frist Beschwerde gegen die Spruchpunkte I bis V erhoben. Spruchpunkt VI blieb unangefochten.

7. Mit 14.05.2019 langte die Beschwerdevorlage des BFA beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde das gg. Beschwerdeverfahren der nunmehr zuständigen Abteilung des Gerichts zur Entscheidung zugewiesen.

8. Das BVwG richtete am 02.04.2020 eine Anfrage an die Staatendokumentation des BFA, deren Ergebnis am 16.04.2020 einlangte.

9. Das BVwG bezog weitere länderkundliche Informationen als Beweismittel ins Verfahren ein und erstellte Auszüge aus den Datenbanken der Grundversorgungsinformation, des Melde- sowie des Strafregisters.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität des BF steht fest. Er ist türkischer Staatsangehöriger, Angehöriger der türkischen Volksgruppe, sunnitischer Moslem, ledig und kinderlos.

Er wurde in XXXX geboren und lebte dort bis 2006. Danach lebte er von 2006 bis 2008 in XXXX , ehe er im Jahr 2008 nach XXXX zurückkehrte, wo er erneut bis 2012 lebte. Von August 2012 bis September 2014 lebte er in XXXX . Von Dezember 2014 bis Juni 2015 leistete er seinen Militärdienst. Danach lebte er bis Februar 2017 erneut in XXXX , ehe er zu seiner Großmutter nach XXXX zog, wo er bis zur Ausreise lebte. In der Türkei leben aktuell neben seiner Großmutter noch seine Eltern und eine Schwester.

Er besuchte in der Türkei für insgesamt 12 Jahre die Schule. Danach absolvierte er ein vierjähriges Studium an der inzwischen staatlich geschlossenen XXXX in XXXX . Von 01.08.2012 bis 09.09.2014 war er als Angestellter der XXXX in XXXX erwerbstätig.

Er hat die Türkei am 18.06.2017 legal unter Verwendung seines türkischen Reisepasses verlassen und reiste am selben Tag mit gültigem Visum C für den Schengen-Raum auf dem Luftweg nach Österreich ein, wo er am 21.06.2017 den gg. Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither aufhält.

Er spricht Türkisch als Muttersprache und verfügt über Deutschkenntnisse für den Alltagsgebrauch. Er besucht an der XXXX einen Vorstudienlehrgang. Er bezieht aktuell keine Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und bestreitet seinen Lebensunterhalt mit Unterstützung von Bekannten. Er ist gesund und erwerbsfähig.

Er ist in Österreich bis dato strafgerichtlich unbescholten.

1.2.1. Fethullah Gülen, ist ein muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung bezeichnet (bpb 1.9.2014). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen von Anhängern geben, oft in einflussreichen Positionen. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Zahlreiche Gülen-Schulen wurden, teilweise auf Druck hin, auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern geschlossen, anderen Eigentümern oder der türkischen staatlichen Stiftung Maarif, die eigens hierfür gegründet wurde, übertragen (SCF 5.2.2019, vgl. DS 31.7.2018). Mit Februar 2019 waren laut Direktor von Maarif rund 70% aller Gülen-Schulen in 21 Länder, ausgenommen in westlichen Staaten, der Kontrolle der Gülen-Bewegung entzogen. Hiervon wurden inzwischen 191 ehemalige Gülen-Schulen der türkischen Maarif-Stiftung übergeben (SCF 5.2.2019).

Erdo?an stand Gülen jahrzehntelang nahe. Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den sekulären, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die AKP bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 21.7.2016). Erdo?an nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Das Bündnis zwischen Erdo?an und Gülen begann sich aufzuweichen, als die Gülenisten in Polizei und Justiz zu unabhängig wurden. Das Klima verschärfte sich, als Gülen selbst Erdo?an für seinen Umgang mit den Protesten im Gezi-Park im Jahr 2013 kritisierte. Erdo?an beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren und zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 21.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdo?an, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Im Juni 2017 definierte das Oberste Appellationsgericht die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018).

Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als „Fetullahç? Terör Örgütü – (FETÖ)“, „Fetullahistische Terror Organisation“, tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Parallel Devlet Yap?lanmas? (PDY)", die „Parallele Staatsstruktur“ bedeutet (UK Home Office 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).

Insgesamt wurden rund 512.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet und gegen diese Untersuchungen durchgeführt. Hiervon befinden sich noch ca. 31.000 Personen in Haft, gegen die noch Einvernahmen oder Prozesse ausständig sind. Über 19.000 weitere Personen wurden wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung und damit verbundenen Straftaten verurteilt (DS 5.3.2019). Gegen weitere 22.000 Verdächtige wurden Haftbefehle erlassen (SCF 4.6.2019). Insgesamt sind 270 von 289 Gerichtsprozesse in Zusammenhang mit dem Putschversuch 2016 abgeschlossen. 3.838 Angeklagte wurden verurteilt. Hiervon erhielten 2.327 eine lebenslange Haft, darunter 1.224 zu erschwerten Bedingungen. 1.511 Personen erhielten Haftstrafen zwischen 14 Monaten und 20 Jahren [Stand November 2019] (Anadolu 11.11.2019).

Laut Staatspräsident Erdo?an sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der „FETÖ“ befreit (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung dauert an (AA 14.6.2019). So wurden beispielsweise am 5.11.2019 in Ankara wieder 106 vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung verhaftet (DS 5.11.2019). Anfang November 2019 wurden acht von 43 Angeklagten, meist Mitglieder der Luftwaffenschule, als vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wegen Unterstützung des Putschversuchs im Juli 2016 zu schweren lebenslangen Haftstrafen verurteilt (DS 4.11.2019).

Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind hierbei recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich ein aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn diese z. B. lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind. In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher „Gülenist“ einzuleiten: Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock; Geldeinlage bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman ; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordneten Wohltätigkeitsorganisationen; Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive abhängige Beschäftigung (AA 14.6.2019). Allerdings entschied der Oberste Berufungsgerichtshof im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch seine Einschreibung eines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019).

Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 urteilte dasselbe Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, unter dem Vorwurf, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018). Im September 2019 wurden bei Operationen in sechs Städten über 40 Verdächtige als ehemalige ByLock-Nutzer verhaftet (DS 11.9.2019). Anfang Oktober 2019 ordnete die Staatsanwaltschaft der Provinz Izmir die Festnahme von 51 Verdächtigen an, von denen 33 beschuldigt wurden, ByLock verwendet zu haben (Anadolu 8.10.2019). Laut Innenministerium wurden bislang mehr als 95.000 Nutzer identifiziert und zudem 4.676 neue ByLock Nutzer entdeckt (DS 11.9.2019).

Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019, vgl. UN-HRC 18.9.2019). Die Arbeitsgruppe bedauerte zudem, dass ihre Ansichten in vormaligen Stellungnahmen zu Fällen, die nach dem gleichen Muster abgelaufen waren, seitens der türkischen Behörden keine Berücksichtigung gefunden hatten (UN-HRC 18.9.2019).

Das Oberste Berufungsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018, vgl. TP 16.2.2019). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018). Im September 2019 ordneten Staatsanwälte die Festnahme von 35 Personen an, die beschuldigt werden, die Messenger-App Bylock verwendet und Geld in der Asya Kat?l?m Bank deponiert zu haben. 14 Personen wurden in Ankara und sieben weiteren Städten festgenommen (DS 18.9.2019).

Über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wurden laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (M?T) im Ausland entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht (SCF 16.7.2018). Demnach seien Menschen aus Malaysia, Pakistan, Kasachstan, dem Kosovo, Moldawien, Aserbaidschan, Ukraine, Gabun und Myanmar von der türkischen Regierung entführt worden. Ein weiterer Versuch in der Mongolei sei von der mongolischen Polizei im Juli 2018 verhindert worden (Welt 15.9.2019).

1.2.2. Auch 2020 setzte sich die systematische strafrechtliche Verfolgung von vermeintlichen Mitgliedern bzw. Anhängern der Gülen-Bewegung, denen eine Involvierung beim gewaltsamen Putschversuch oder die Mitgliedschaft respektive Unterstützung einer terroristischen Organisation vorgeworfen wird, fort.

Laut der regierungsnahen Tageszeitung Daily Sabah von Anfang März 2020 laufen in der ganzen Türkei Prozesse gegen Mitglieder der Gülen-Bewegung, die sich vermeintlich am Putsch beteiligten. Etwa 1.596 Angeklagte sollten im März in 34 Prozessen in 11 Städten wieder auf der Prozesstagesordnung stehen. In einigen Prozessen geht es um den Putschversuch, bei dem 251 Menschen getötet wurden, während der Rest wegen anderer Verbrechen, an denen die Gülen-Bewegung beteiligt gewesen sein soll, vor Gericht stehen. Im März 2020 sollten die am Putschversuch Beteiligten in sieben Prozessen ihre nächsten Anhörungen haben, während in 27 weiteren Prozessen neue Anhörungen stattfinden. Etwa 1.182 Angeklagte stehen im Zusammenhang mit dem Staatsstreich vor Gericht, während 414 weitere Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt sind (Daily Sabah, 2.3.2020).

Zuvor meldete Daily Sabah Anfang Jänner 2020, dass die Gerichtsprozesse zum Putschversuch außer in 18 Fällen größtenteils abgeschlossen seien. Von 289 Fällen, die wegen des Putschversuchs vor Gericht kamen, wurden 271 in den drei Jahren seit dem 15. Juli 2016 abgeschlossen. Insgesamt wurden 3.879 Angeklagte verurteilt, darunter 2.335, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Unter ihnen waren 1.225, die zu schwerer lebenslanger Haft oder zu lebenslanger Einzelhaft verurteilt wurden. Darüber hinaus verurteilten die Gerichte 1.544 Angeklagte zu Haftstrafen zwischen einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren (Daily Sabah, 2.1.2020).

Das regierungskritische Nachrichtenportal Turkish Minute berichtete im Februar 2020 von einer Mitteilung des Innenministeriums an den türkischsprachigen Dienst der BBC. Laut dieser waren mit Stand Mitte Februar 26.862 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert, fast 5.000 von ihnen waren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, während sich die übrigen in Untersuchungshaft befänden. Inzwischen führen die Staatsanwälte 69.701 Untersuchungen durch, bei denen 135.708 Verdächtige der Mitgliedschaft in der Bewegung beschuldigt werden. Darüber hinaus sind 42.717 Verfahren anhängig, in denen 60.167 Angeklagte, die der Verbindungen zur Gülen-Bewegung beschuldigt werden, angeklagt sind. Die Massenverhaftungen im Rahmen der laufenden Ermittlungen gehen fast täglich weiter, wobei dem Bericht zufolge in der vergangenen Woche Hunderte von Menschen festgenommen wurden. Als Teil einer weltweiten Razzia gegen Gülen-Anhänger hat die Türkei laut Innenministerium die Auslieferung von 750 Personen aus 101 Ländern beantragt. Allerdings haben verschiedene Länder bereits Anträge für 74 Personen abgelehnt. Das Ministerium hat außerdem bei Interpol die Ausstellung von sog. „roten Mitteilungen“ für 555 Verdächtige beantragt (Turkish Minute, 21.2.2020).

Das regierungskritische Internetportal Turkish Minute berichtete Anfang März 2020 von Haftbefehlen gegen 115 Verdächtige in den Städten Izmir, Adana und Bolu. Betroffen waren Lehrer, Geschäftsleute und Anwälte sowie ehemalige Polizisten. In den Wochen zuvor wurden zahlreiche Verhaftungen vorgenommen, darunter 53 in Izmir (Turkish Minute, 4.3.2020)

Die regierungsnahe Zeitung Daily Sabah berichtete Mitte Jänner 2020, dass die Behörden Haftbefehle gegen 237 Personen erlassen haben, die in Verbindung mit der Gülen-Bewegung stehen. Mindestens 203 Verdächtige wurden bei landesweiten Operationen in 49 Provinzen festgenommen, während nach anderen noch gefahndet würde (Daily Sabah, 14.1.2020).

Die Staatsanwaltschaft habe bei den Ermittlungen die Festnahme von rund 160 Personen angeordnet, meldete die Nachrichtenagentur Anadolu. Rund 700 Haftbefehle seien im ganzen Land ergangen. Nach weiteren Verdächtigen werde noch gefahndet. Die Regierung hatte ihr massives Vorgehen gegen mutmaßliche Anhänger des im US-Exil lebenden Predigers Fetullah Gülen in den vergangenen Monaten weiter verschärft. Die Polizei unternimmt immer wieder Razzien gegen mutmaßliche Anhänger Gülens, der jede Verstrickung in den Putschversuch bestreitet. Seit dem Putschversuch wurden bereits rund 80.000 Menschen angeklagt. Etwa 150.000 Beschäftigte unter anderem in der Verwaltung und im Militär wurden entlassen oder vom Dienst suspendiert. Die Europäische Union und Menschenrechtsgruppen haben das massive Vorgehen bereits mehrfach kritisiert. Erdogan rechtfertigt es als notwendige Antwort auf die Bedrohung der Sicherheit (tagesschau.de, Neue Festnahmewelle in der Türkei, 18.02.2020).

1.2.3. Um die Ausbreitung des Corona-Virus hinter Gittern zu bremsen, beschloss das Parlament in Ankara eine Amnestie, die fast 100.000 Häftlingen die Freiheit bringen und damit die Gesamtzahl der Gefängnisinsassen im Land um ein Drittel reduzieren soll. Doch während Betrüger und teilweise Gewaltverbrecher freikommen, bleiben regierungskritische Journalisten, Intellektuelle und Oppositionspolitiker als angebliche „Terroristen“ weiter in Haft. Von der Amnestie ausgenommen sind zudem Tausende, die als mutmaßliche Anhänger des Predigers Fetullah Gülen in Haft sind. Auch Untersuchungshäftlinge, die ohne Gerichtsurteil im Gefängnis sind, bleiben hinter Gittern (Tagesspiegel, Die Türkei lässt 100.000 Häftlinge frei, 14.4.2020).

Wegen der Verbreitung „provokanter und missbräuchlicher“ Informationen über die Coronavirus-Pandemie sind in der Türkei bislang 410 Menschen festgenommen worden. In den vergangenen Wochen seien rund 1750 verdächtige Social-Media-Konten identifiziert worden, sagte Innenminister Süleyman Soylu am Mittwoch dem Nachrichtensender 24 TV. Davon gehörten 65 Prozent zu „Terrorgruppen“, darunter auch verbotene kurdische Kämpfer und Anhänger des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen (welt.de, 410 Festnahmen wegen „provokanter Informationen“ zu Corona, 25.3.2020).

1.3. Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019, vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019).

Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019).

Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 13.3.2019). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und 599 Anwälte festgenommen. Bisher wurden 321 Anwälte wegen ihrer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (CCBE 1.9.2019).

Nach Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2018 soll eine in Polizeigewahrsam (angehaltene) befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer U-Haft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung der Polizeigewahrsam ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, z.B. bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal, zu je vier Tagen, möglich, insgesamt daher maximal zwölf Tage Polizeigewahrsam. Während des Ausnahmezustandes waren es bis zu 14 Tagen, mit einmaliger Verlängerung nach sieben Tagen. Die maximale U-Haftdauer beträgt gem. Art. 102 (1) der türkischen Strafprozessordnung (SPO) bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, ein Jahr. Aufgrund von besonderen Umständen kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) SPO beträgt die U-Haftdauer höchstens zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (A??r Ceza mahkemeleri) fallen (Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen). Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden (insgesamt maximal drei Jahre). Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz 3713 betreffen, beträgt die maximale U-Haftdauer höchstens sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Diese Gesetzesänderung erfolgte mit dem Dekret 694 vom 15.08.2017, das am 1.2.2018 zu Gesetz Nr. 7078 wurde (Art. 136) (ÖB 10.2019).

Wesentliche Regelungen der Dekrete des Ausnahmezustandes wurden in die reguläre Gesetzgebung überführt. So wurden z.B. Teile der Notstandsvollmachten auf die Provinzgouverneure übertragen, die vom Staatspräsidenten ernannt werden (AA 14.6.2019). Das nach Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 angenommene Gesetz Nr. 7145 sieht keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen. Entlassene Akademiker haben selbst nach Wiedereinsetzung nicht mehr die Möglichkeit, an ihre ursprüngliche Universität zurückzukehren (ÖB 10.2019).

Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR. Bis Mai 2019 wurden 126.000 Anträge eingebracht. Davon bearbeitete die Kommission bislang 70.406. Lediglich 5.250 Personen wurden wiedereingesetzt. Die Kommission wies 65.156 Beschwerden ab, 55.714 Beschwerden sind weiter anhängig (ÖB 10.2019).

Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen. Den Beschwerdeführern fehlt es an Möglichkeiten, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. Umgekehrt verwendet die Kommission schwache Beweise zur Aufrechterhaltung der Entlassungsentscheidungen. Herangezogen werden oftmals rechtmäßige Handlungen der Betroffenen als Beweis für rechtswidrige Aktivitäten (Interaktionen mit Banken, Wohltätigkeitsorganisationen, Medien etc.). Es besteht eine Beweislastumkehr. Die Betroffenen müssen widerlegen, dass sie Verbindungen zu verbotenen Gruppen hatten. Irrelevant ist, dass die getätigten Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Vornahme legal waren. Die Wartezeiten bis zur Entscheidung der Berufungsverfahren reichten bislang von vier bis zehn Monaten, während viele entlassene Beschäftigte im öffentlichen Sektor noch keine Antwort der Kommission erhielten, obwohl sie ihre Anträge vor über einem Jahr eingereicht haben. Die Kommission ist an keine Fristen für Entscheidungen gebunden (AI 25.10.2018, vgl. ÖB 10.2019).

Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019, vgl. PACE 24.1.2019). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Türkei verzeichnet weiterhin eine schwere Rückwärtsentwicklung hinsichtlich des Funktionierens des Justizwesens. Die Bedenken bezüglich der Unabhängigkeit der türkischen Justiz, die unter anderem auf die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch von 2016 zurückzuführen ist, bleiben bestehen (EC 29.5.2019, vgl. USDOS 13.3.2019). Obgleich Richter gelegentlich immer noch gegen die Regierung entscheiden, haben sowohl die Ernennung von tausenden neuen, regierungstreuen Richtern als auch die potenziellen beruflichen Konsequenzen für ein Urteil gegen die Interessen der Exekutive in einem größeren Rechtsfall sowie die Auswirkungen der laufenden Säuberung die Unabhängigkeit der Justiz insgesamt stark geschwächt (FH 4.2.2019).

Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019).

Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zweijährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019).

1.4. Der BF unterliegt bei einer Rückkehr in die Türkei aufgrund seiner einstigen Erwerbstätigkeit bei der XXXX und seinem Studienabschluss an der inzwischen geschlossenen XXXX mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Organe wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft bei bzw. Unterstützung der von diesen als terroristische Organisation eingestuften sogen. Gülen-Bewegung und kann in diesem Fall nicht mit einem rechtsstaatlichen Grundprinzipien entsprechenden und fairen Verfahren gegen ihn rechnen.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den gg. Verfahrensakt unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes sowie der von ihm vorgelegten Beweismittel, in eine vom BVwG veranlasste Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, in die aktuelle Version des schon erstinstanzlich vom BFA als Beweisquelle herangezogenen Länderinformationsblattes der Staatendokumentation sowie in als weitere länderkundliche Informationen ins Verfahren eingebrachte aktuelle Medienberichte und durch die Einholung von Auskünften des Zentralen Melderegisters, des Strafregisters und des Grundversorgungsdatensystems.

2.2. Identität und Staatsangehörigkeit des BF waren anhand seines nationalen Reisepasses feststellbar, dem sich auch der Zeitpunkt seiner Einreise in das Bundesgebiet sowie die Verwendung eines Visums für den Schengen-Raum dafür entnehmen ließen.

Die Feststellungen zu seiner Zugehörigkeit zur türkischen Ethnie und zur sunnitisch-moslemischen Religionsgemeinschaft, zu seinen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen im Herkunftsstaat vor der Ausreise, zu seinen türkischen Sprachkenntnissen, zu seinem Gesundheitszustand, zu seinem Aufenthalt im Bundesgebiet und zu seiner strafgerichtlichen Unbescholtenheit hierorts ergaben sich aus einer Zusammenschau seiner eigenen Angaben vor dem BFA mit den vom BVwG eingeholten Informationen der genannten Datenbanken.

Die Feststellungen zu seinem Universitätsabschluss in der Türkei und seiner früheren Erwerbstätigkeit in der Türkei für die XXXX stützen sich insbesondere auf die von ihm vorgelegten und als unbedenklich erachteten Beweismittel (AS 113 und AS 119 - 123). Die genannte Erwerbstätigkeit war im Übrigen auch von der belangten Behörde ihrer Entscheidung zugrunde gelegt worden.

Dass er bereits über Deutschkenntnisse für den Alltagsgebrauch verfügt, war zu seinen Gunsten angesichts seines bisherigen ca. dreijährigen Aufenthalts im Bundesgebiet anzunehmen, woraus der allgemeinen Lebenserfahrung folgend sowie im Hinblick auf seinen hohen Bildungsgrad mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auf einen entsprechenden Spracherwerb zu schließen war.

2.3. Die Feststellungen oben unter 1.2.1., 1.3., 1.4. und 1.5. stützen sich auf die vom BVwG eingesehene aktuelle Version des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA zur Türkei, das seinerseits auf der Grundlage der dort genannten Quellen erstellt wurde. Jene unter 1.2.2. stützen sich auf die vom BVwG ergänzend eingeholte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 14.04.2020 und jene unter 1.2.3. auf die vom BVwG ins Verfahren eingebrachten Medienberichte.

Die beiden erstgenannten Beweisquellen stellen sich im Lichte dessen, dass sie einerseits der belangten Behörde selbst zuzurechnen sind und andererseits sich ihre Aussagen im Wesentlichen mit denen des BF decken, als unstrittig dar. Die letztgenannte Beweisquelle stellt eine allgemein zugängliche und angesichts dessen auch bei der belangten Behörde als bekannt vorauszusetzende dar, die darüber hinaus in ihren Aussagen die in den beiden erstgenannten enthaltenen Aussagen inhaltlich bestätigt bzw. fortschreibt.

2.4. Zur Feststellung der maßgeblichen Gefahr individueller staatlicher Verfolgung des BF pro futuro aus oben genannten Gründen gelangte das erkennende Gericht aufgrund folgender Erwägungen:

2.4.1. Anlässlich seiner Erstbefragung am 21.06.2017 brachte er, zu seinen Antragsgründen befragt, im Wesentlichen vor, dass die Schule, die er in XXXX besucht habe, eine sogen. Gülen-Schule gewesen sei. Er habe darüber hinaus von 2012 bis 01.09.2014 als Angestellter der XXXX gearbeitet und diese Anstellung dann wegen seines Schulbesuchs verloren. Danach sei er nach XXXX gezogen, wo ihn aufgrund seines Lebenslaufes keine Bank beschäftigen habe wollen. Nach seiner Rückkehr nach XXXX hätten insofern Repressalien begonnen, als fünf Tage vor seiner Abreise 78 ehemalige Mitarbeiter der XXXX und auch Kunden verhaftet worden seien. Daraufhin sei er geflohen.

In seiner Einvernahme vor dem BFA am 10.10.2018 brachte er im Wesentlichen vor, dass er zum Zeitpunkt des versuchten Militärputsches am 15.07.2016 in XXXX aufhältig gewesen sei. Nach dem Putsch sei ein „sozialer Holocaust“ an Gülen-Anhängern verübt worden. Tausende Menschen seien festgenommen und gefoltert worden. Da er selbst auch zur Gülen-Bewegung gehöre, habe er angesichts dieser Umstände das Land verlassen müssen. Das türkische Justizsystem sei nicht fair, man werde sogar festgenommen, wenn man bloß ein Konto bei der XXXX eröffnet habe. Er selbst habe dort aber sogar gearbeitet und zuvor auch „Gülen- Schulen“ besucht. Er habe auch ein Abonnement der Zeitung XXXX gehabt, was inzwischen strafbar sei. Über weitere Befragung gab er an, dass am 22.03.2018 Polizeikräfte bei seiner Großmutter, wo er bis zur Ausreise gelebt hat, erschienen seien und nach ihm gesucht hätten. Er gehe daher davon aus, dass er gesucht werde, weil Gülen-Anhänger als Mitglieder einer Terrororganisation erachtet würden.

Die belangte Behörde erachtete eine individuelle Verfolgung des BF für nicht glaubhaft. Sie stützte diese Annahme in erster Linie auf geringfügig anderslautende Angaben des BF zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme, wobei es sich dabei jedoch um einzelne Punkte handelte, die er zu Beginn der Einvernahme von sich aus richtigstellte. In weiterer Folge hielt das BFA fest, dass es eine Verfolgung des BF pro futuro für nicht glaubhaft erachte, weil er bislang weder bedroht noch verfolgt worden sei und keine Beweise dafür, dass er als Terrorist gesucht werde, vorlegen habe können. Auch den Umstand, dass er problemlos legal ausreisen konnte und trotz seines Ausreiseentschlusses ein weiteres Jahr in der Türkei verblieb, ehe er die Ausreise antrat, wertete das BFA als Indiz gegen die Glaubhaftigkeit seiner Fluchtgründe. Zudem würden seine Verwandten, die ebenfalls Gülen-Anhänger seien, unbehelligt in der Türkei leben können. Auch habe er seinen Militärdienst problemlos in der Türkei absolvieren können.

In der Beschwerde wurde neuerlich darauf hingewiesen, dass der BF eine „Gülen-Schule“ besucht und anschließend in einer Bank gearbeitet habe, die dieser Bewegung angehöre. Nach dem Putschversuch seien Anhänger dieser Bewegung von der Regierung massiv verfolgt und inhaftiert worden. Er habe als Anhänger der Gülen-Bewegung die Türkei verlassen müssen und könne deshalb auch nicht zurückkehren. Bei einer Rückkehr befürchte er als Gülen-Anhänger Repressalien ausgesetzt zu sein.

2.4.2. Vorweg ist der Argumentation der belangten Behörde insoweit entgegen zu treten, als der BF schon zu Beginn seiner Einvernahme von sich aus auf näher genannte Unstimmigkeiten des Erstbefragungsprotokolls aufmerksam gemacht und diese richtiggestellt und auch während der Einvernahme schlüssige Erklärungen für von der belangten Behörde thematisierte Ungereimtheiten angeboten hat.

Für das erkennende Gericht war im Lichte seiner nachvollziehbaren Darstellung in seiner Einvernahme vor dem BFA sowie seiner Beweismittelvorlage als glaubhaft anzusehen, dass er einerseits eine sogen. „Gülen-Schule“, nämlich die infolge des Putschversuchs staatlicherseits geschlossene XXXX , absolviert und er andererseits für die eng mit der sogen. Gülen-Bewegung verknüpfte XXXX gearbeitet hat, weshalb zu eben diesen Feststellungen zu gelangen war. Im Übrigen legte das BFA dieses Vorbringen erkennbar auch seiner Entscheidung zugrunde, auch wenn sich dort keine ausdrücklichen Feststellungen dazu fanden.

Aus diesem Sachverhalt war in der Zusammenschau mit den herangezogenen Länderinformationen in schlüssiger Weise abzuleiten, dass er von staatlichen Organen als Anhänger bzw. Mitglied der Gülen-Bewegung qualifiziert wird.

In Übereinstimmung mit diesen Länderinformationen wies er zutreffend darauf hin, dass nach wie vor landesweit systematische Strafverfolgungsmaßnahmen in großem Umfang gegen von der türkischen Regierung als potenzielle Gülen-Anhänger angesehene Personen durchgeführt werden.

In einer Zusammenschau dieses Geschehens mit seinem persönlichen Profil als mutmaßlicher Zugehöriger zur Gülen-Bewegung war in der Folge von einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit zukünftiger staatlicher Verfolgungshandlungen auch gegen ihn auszugehen.

Im Lichte dessen war es im Übrigen auch als plausibel anzusehen, dass es zwischenzeitig nach seiner Ausreise zu einer polizeilichen Fahndungsmaßnahme zur Ausforschung seines Aufenthaltsortes an seinem ehemaligen Wohnsitz in XXXX gekommen ist, wobei an dieser Stelle anzumerken ist, dass diesem Sachverhaltsaspekt als solchem aber keine entscheidende Bedeutung für die Prognoseentscheidung des Gerichts hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit zukünftiger staatlicher Verfolgungshandlungen zukam.

Entgegen der Einschätzung des BFA sprach auch der Umstand, dass der BF eine legale Ausreise wählte und im Vorfeld eben dieser noch mehrere Monate im Herkunftsstaat verblieb, nicht gegen die maßgebliche Wahrscheinlichkeit zukünftiger staatlicher Verfolgungshandlungen in der Türkei, zumal sich Verfolgungshandlungen gegen Gülen-Anhänger nach dem Putschversuch gegen zigtausende Personen richteten und sich eine drohende Festnahme des BF, der im Gegensatz zu offenbar vorrangig verfolgte Personen weder dem Militär noch dem Staatsdienst angehörte, erst allmählich abzeichnete. Es stellte sich insoweit auch als nachvollziehbar dar, dass er die Ausreise erst antrat, als diese Festnahmen immer weitere Kreise zogen, wobei den herangezogenen aktuellen Länderinformationen auch zu entnehmen war, dass diese Strafverfolgungsmaßnahmen aktuell nach wie vor anhalten.

2.3.3. Die aktuelle Lage im Herkunftsstaat des BF stellt sich mit Blick auf den gg. Sachverhalt für das Gericht als hinreichend geklärt und in einer Gesamtschau als unstrittig dar.

Der jüngsten Version des Länderinformationsblattes zur Lage in der Türkei vom 29.11.2019 war zu entnehmen, dass die Kriterien der türkischen Staatsorgane für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft bei der sog. Gülen-Bewegung, die notorischer Weise von der Türkei als Terrororganisation angesehen wird, sehr vage sind. In Anbetracht des insoweit glaubhaften Vorbringens des BF war darauf abzustellen, dass Behörden und Gerichte verdächtige Personen nicht nur dann als Terroristen einordnen, wenn diese tatsächlich ein aktives Mitglied der Gülen-Bewegung waren oder sind, sondern auch dann, wenn sie bloß eine von der Bewegung betriebene Schule besuchten oder eine Geldeinlage bei der XXXX nach dem 25.12.2013 vornahmen.

Der BF hat wiederum nicht nur die der Gülen-Bewegung zugerechnete XXXX absolviert, sondern persönlich für die XXXX gearbeitet, und ist in einer Gesamtschau dieser Aspekte daher eine ihm drohende staatliche Verfolgung als mutmaßliches Mitglied der Gülen-Bewegung als maßgeblich wahrscheinlich anzusehen.

Dass er als solches im Falle seiner Festnahme mit ebenso maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit keinem fairen Strafverfahren rechnen kann und ihm wegen dieses gegen ihn erhobenen Vorwurfs eine langjährige Haftstrafe wegen einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung droht, war in Anbetracht der eingesehenen länderkundlichen Informationen als objektiviert anzusehen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Mit Art. 129 B-VG idF BGBl. I 51/2012 wurde ein als Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zu bezeichnendes Verwaltungsgericht des Bundes eingerichtet.

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

Gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG erkennt das BVwG über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 in Rechtssachen in den Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von Bundesbehörden besorgt werden.

Gemäß Art. 132 Abs. 1 Z. 1 B-VG kann gegen einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit Beschwerde erheben, wer durch den Bescheid in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet.

Gemäß Art. 135 Abs. 1 B-VG iVm § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG) idF BGBl I 10/2013 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl I 122/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, 1. wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Mit Datum 1.1.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 53/2019.

Mit dem BFA-Einrichtungsgesetz (BFA-G) idF BGBl. I Nr. 68/2013, in Kraft getreten mit 1.1.2014, wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) als Rechtsnachfolger des vormaligen Bundesasylamtes eingerichtet. Gemäß § 3 Abs. 1 BFA-VG obliegt dem BFA u.a. die Vollziehung des BFA-VG und des AsylG 2005 idgF.

Gemäß § 7 Abs. 1 Z. 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheides des Bundesamtes.

Zu A)

1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG hat die Behörde einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK droht.

Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Nach Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).

Im Hinblick auf die Neufassung des § 3 AsylG 2005 im Vergleich zu § 7 AsylG 1997 wird festgehalten, dass die bisherige höchstgerichtliche Judikatur zu den Kriterien für die Asylgewährung in Anbetracht der identen Festlegung, dass als Maßstab die Feststellung einer Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK gilt, nunmehr grundsätzlich auch auf § 3 Abs. 1 AsylG 2005 anzuwenden ist.

Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit de

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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