Entscheidungsdatum
19.05.2020Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L521 2223875-1/27E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2019, Zl. 1174296110-180073266, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 17.12.2019 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 AsylG 2005 wird gemäß § 6 AVG 1991 mangels Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes zurückgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133 Absatz 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Dem Beschwerdeführer wurde am 18.11.2017 die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verweigert, woraufhin er von der deutschen Bundespolizei an Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes übergeben wurde.
2. Am 19.11.2017 wurde der Beschwerdeführer vor der Landespolizeidirektion Salzburg im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in türkisch-kurdischer Sprache niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am XXXX in XXXX in der Provinz XXXX geboren und habe dort gelebt, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und des islamischen Glaubens sowie geschieden. Er sei als Fliesenleger tätig gewesen und für drei Kinder sorgepflichtig. Des Weiteren führte der Beschwerdeführer aus, am 17.11.2017 um etwa 16.00 Uhr bis 17.00 Uhr von Italien nach Österreich eingereist zu sein, um in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. Er sei auch mit einer Zurückschiebung nach Italien einverstanden.
3. Mit Note des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.11.2017 wurde der Beschwerdeführer über die beabsichtigte Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung bzw. Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eine diesbezüglich erfolgte Beweisaufnahme informiert. Zur Wahrung des Parteiengehörs wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich Stellung zu nehmen. Innerhalb der eingeräumten Frist langte keine Stellungnahme ein.
4. Am 19.11.2017 begab sich der Beschwerdeführer in die Bundesrepublik Deutschland, wo er sich bis zu seiner Zurückschiebung nach Österreich am 16.01.2018 aufhielt.
5. In der Folge wurde der Beschwerdeführer am 16.01.2018 vor der Landespolizeidirektion Salzburg im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in kurdischer Sprache erneut niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und des islamischen Glaubens sowie ledig.
Er sei als Maler tätig gewesen und habe zuletzt in XXXX gelebt. Des Weiteren führte der Beschwerdeführer aus, am 18.12.2017 von Italien mit dem Zug nach Österreich eingereist zu sein, um nach Frankreich zu gelangen. Er sei auch mit einer Zurückschiebung nach Italien einverstanden. Er wolle seine Reise nach Frankreich fortsetzen und würde in Österreich keinen Asylantrag stellen.
5. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2018, Zl. 1174296110-171296649, wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z. 1 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt II.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Des Weiteren wurde wider den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 2 FPG 2005 ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot verhängt (Spruchpunkt IV.). Schließlich wurde gemäß § 55 Abs. 4 FPG 2005 keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt V.) und der Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.).
Der Beschwerdeführer erhob in der Folge keine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Der Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2018 erwuchs daher am 16.02.2018 in Rechtskraft.
6. Der Beschwerdeführer stellte in der Folge – nachdem er sich von Salzburg nach Innsbruck begeben hatte – am 22.01.2018 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
7. Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung am 22.01.2018 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Tirol gab der Beschwerdeführer an, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am XXXX in XXXX in der Provinz XXXX geboren und habe dort gelebt, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und des islamischen Glaubens sowie geschieden. Er habe von 1988 bis 1993 die Grundschule besucht und sei zuletzt als Fliesenleger beruflich tätig gewesen. Seine Eltern, drei Schwestern und vier Brüder seien in der Türkei in der Provinz XXXX aufhältig. Vier weitere Brüder würden in der Bundesrepublik Deutschland und ein Bruder in Italien leben.
Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, die Türkei am 05.11.2017 illegal von seinem Wohnort ausgehend mit einem Lastkraftwagen auf dem Landweg nach Italien verlassen zu haben. Von dort sei er mit dem Zug nach Österreich gereist, wobei man ihm die anschließende Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verweigert habe. Die fremdenpolizeilichen Amtshandlungen im Bundesland Salzburg ließ der Beschwerdeführer unerwähnt.
Zu den Gründen der Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, „vom Staat (Polizei) unterdrückt“ worden zu sein. Er habe an „kurdischen Demonstrationen“ teilgenommen, weshalb ihn die Polizei festgenommen habe. Bei einer Rückkehr befürchte er, von der Polizei aufgesucht bzw. erneut inhaftiert zu werden.
8. Der Beschwerdeführer wurde am 12.06.2019 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten Außenstelle Klagenfurt, im Beisein einer Vertrauensperson und eines geeigneten Dolmetschers in türkischer Sprache niederschriftlich von der zur Entscheidung berufenen Organwalterin einvernommen.
Zur Person und den Lebensumständen befragt gab der Beschwerdeführer an, Staatsangehöriger der Türkei und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe sowie sunnitischen Glaubens zu sein. Er sei in XXXX in der Provinz XXXX geboren und habe dort abgesehen von einem Aufenthalt in Gaziantep in den Jahren 2006 und 2007 gelebt, seit etwa 2017 geschieden und Vater dreier Kinder. Er habe in XXXX gemeinsam mit seiner ehemaligen Gattin im eigenen Haus gewohnt. Seine Ehegattin und die Kinder würden das Haus weiterhin nutzen. Er habe fünf Jahre die Volksschule besucht und anschließend eine Ausbildung zum Fliesenleger bzw. auf dem Bau absolviert. Er habe im Jahr 1996 im Alter von 17 Jahren in diesem Tätigkeitsfeld zu arbeiten begonnen und etwa 3.000,00 bis 4.000,00 türkische Lira Lohn erhalten. In Gaziantep sei er auch in einer Bäckerei tätig gewesen. Es sei ihm in der Türkei finanziell gut gegangen. Er habe auch Ersparnisse angelegt und Kühe besessen, die er dann verkauft habe. Des Weiteren bewirtschafte seine Familie Pistazienfelder. Seine nicht berufstätige ehemalige Gattin würde zur Sicherung des Lebensunterhaltes gelegentlich von seinen Eltern und einem Bruder von ihm unterstützt. In Österreich verfüge er über drei Cousins, wobei er bei einem dieser Personen wohnen würde. Ein Bruder sei in Italien und vier Brüder sowie weitere Cousins in der Bundesrepublik Deutschland aufhältig. Seine drei minderjährigen Kinder, seine ehemalige Gattin und seine Eltern befänden sich noch in XXXX in der Türkei. Zudem würden noch vier Brüder, drei Schwestern und Tanten in der Türkei leben. Er stünde mit seinen Kindern telefonisch über WhatsApp in Kontakt. Seiner Familie gehe es gut.
Zum Fluchtgrund befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er in der Türkei keine Lebenssicherheit gehabt habe. Er habe nicht einmal in der Haft Ruhe gehabt. Auch dort sei Druck ausgeübt worden. Es habe etwa eine Woche benötigt bis man sich nach der Haft erhole. Danach komme erneut die Polizei und nehme einen in Haft. Er würde angeblich den Terroristen helfen. Tatsächlich hätte er lediglich den Flüchtlingen aus Kobanê geholfen. Die Menschen seien über die Grenze gekommen und hätten sie sie in Schutz genommen. Danach habe man ihn beschuldigt, den Terroristen geholfen zu haben. Dies sei 2013 bis 2014 gewesen. Im Jahr 2014 habe er sich mit seinen Freunden zu einem Newroz-Fest nach Diyarbak?r begeben. An der Grenze habe sie die Polizei gestoppt und kontrolliert. Nach Überprüfung der Identitäten hätten die Polzisten gesehen, dass sie angeblich der Partiya Karkerên Kurdistanê angehören würden. Ihn habe man für einen Tag festgenommen, eingesperrt und geschlagen. Am nächsten Tag sei er freigelassen worden. Er habe etwa ein bis zwei Wochen benötigt, um sich wieder zu beruhigen.
Des Weiteren habe die Gendarmerie im Jahr 1992 seinen Onkel mitgenommen. Er und seine Freunde hätten die vorbeifahrenden Fahrzeuge der Gendarmerie des Öfteren mit Steinen beworfen. Einmal habe ein Fahrzeug angehalten. Die anderen Kinder seien weggelaufen, doch er habe dies nicht gekonnt. Ein Unteroffizier sei ausgestiegen und habe die Waffe auf ihn gerichtet. Dieser habe dann mit dem unteren Ende der Waffe mehrmals gegen seinen Kopf geschlagen. Seine Mutter sei zu ihm gekommen, habe ihn hochgehoben und ins Dorf zurückgebracht, wo er von einer Frau behandelt worden sei.
Im Jahr 2000 habe er seinen Wehrdienst in der Provinz I?d?r abgeleistet. Ein anderer Soldat habe mitangehört, dass er mit seiner Mutter ein Telefonat in kurdischer Sprache geführt habe und ihn deshalb aufgefordert Türkisch zu sprechen. Er habe dem Soldaten erklärt, Kurdisch zu benutzen, da seine Mutter kein Türkisch beherrsche. Der Soldat sei daraufhin böse geworden und habe seine Freunde – weitere Soldaten – gerufen. Sie hätten ihn dann brutal geschlagen und beschuldigt, ein Terrorist zu sein. Anschließend habe sich der Hauptmann erkundigt und gefragt, was vorgefallen sei. Die Soldaten hätten gesagt, dass er ein Terrorist wäre und dass sie ihn deshalb geschlagen hätten. Der Hauptmann habe daraufhin lediglich angeordnet, ihn in sein Zimmer zu bringen. Niemand habe sich um ihn gekümmert. Es sei auch kein Arzt gekommen. Einen Monat sei es ihm sehr schlecht gegangen. Im Laufe des zweiten Monats hätte er aufgrund vieler Verletzungen im Mund weder essen, noch trinken können.
Zum fluchtauslösenden Moment befragt legte der Beschwerdeführer dar, dass er am 08.10.2017 in Anwesenheit seiner Mutter und seiner Kinder festgenommen und für zehn Tage angehalten worden sei. Man habe ihm auch Gewalt angetan. Man habe zu ihm gesagt, dass er ein Terrorist wäre. Zudem schilderte der Beschwerdeführer bezüglich seines Militärdienstes im Jahr 2000, dass er an der Grenze als Wache Dienst gehabt habe. Es sei eine Notstandssituation gewesen. Ein anderer Soldat habe sein Gewehr nehmen wollen, was er verweigert habe. Daraufhin sei es zu einer Rauferei gekommen und es habe sich ein Schuss gelöst. Der andere Soldat sei verletzt worden. Er sei drei Monate in Haft gewesen. Nach seiner Freilassung habe er den Militärdienst fortgesetzt. Ein Jahr nach Beendigung des Militärdienstes habe er erneut acht Monate ins Gefängnis müssen. Der Soldat habe ihn beschuldigt, ihn absichtlich angeschossen zu haben. Es seien jedoch dessen Fingerabdrücke auf dem Gewehr gewesen, weshalb sich gezeigt habe, dass dies unabsichtlich passiert sei.
Ferner tätigte der Beschwerdeführer nach entsprechenden Fragen durch die Leiterin der Amtshandlung Angaben zu seiner behaupteten Mitgliedschaft bei der Halklar?n Demokratik Partisi und seinen Aktivitäten für diese Partei.
Schließlich wurden mit dem Beschwerdeführer die aktuellen landeskundlichen Feststellungen zur Türkei erörtert. Des Weiteren wurden ihm die Länderdokumentationsunterlagen zur Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme unter Setzung einer zweiwöchigen Frist ausgehändigt.
Im Rahmen der Einvernahme brachte der Beschwerdeführer einen türkischen Führerschein im Original, eine Bestätigung über die Mitgliedschaft bei der Halklar?n Demokratik Partisi in Kopie und Unterlagen bezüglich seines Gesundheitszustandes in Vorlage.
9. Der Beschwerdeführer äußerte sich mit E-Mail vom 25.06.2019 zu den ihm ausgehändigten länderkundlichen Dokumenten zur allgemeinen Lage in der Türkei und brachte ergänzend zu seiner Stellungnahme erneut die Bestätigung über die Mitgliedschaft bei der Halklar?n Demokratik Partisi sowie einen Beleg bezüglich der Bezahlung eine Parteispende - jeweils in Kopie - in Vorlage.
10. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2019, Zl. 1174296110-180073266, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei ebenso abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III bis V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - soweit für das Beschwerdeverfahren von Relevanz - nach der Wiedergabe der Einvernahmen des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person insbesondere aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer seinem Herkunftsstaat aufgrund einer gegen ihn gerichteten Gefahr einer Verfolgung oder Bedrohung durch die türkische Polizei oder Behörden verlassen habe. Des Weiteren habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer einer individuellen Bedrohung oder Verfolgung durch die türkische Polizei oder Behörden ausgesetzt (gewesen) sei. Schließlich habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt sei. Zur Situation im Falle der Rückkehr wurde festgestellt, dass nicht festgestellt werden habe können, dass ihm bei einer Rückkehr eine Gefährdung durch die Polizei, staatliche Organe, Behörden oder Private drohe. Des Weiteren habe nicht festgestellt werden können, dass ihm aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seines Religionsbekenntnisses eine Bedrohung oder Verfolgung drohe. Es habe schließlich keine wie auch immer geartete, sonstige Gefährdung bei einer Rückkehr in die Türkei festgestellt werden können. Ebenso wenig seien Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls körperliche oder psychische Erkrankungen seiner Rückkehr entgegenstehen würden. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention ausgesetzt wäre oder eine Rückkehr für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde. Schließlich habe nicht festgestellt werden können, dass ihm eine Wiedereingliederung aufgrund seiner Abwesenheit aus seinem Herkunftsstaat nicht zumutbar sei oder ihm aufgrund dieser eine Bedrohung oder Verfolgung drohe. Dem Beschwerdeführer sei eine Rückkehr in seine Heimat XXXX möglich. Er verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei und würde Unterstützung erhalten. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei sei von der erfolgreichen Abdeckung seiner lebensnotwendigen Bedürfnisse auszugehen. Er würde nicht in eine wirtschaftlich oder finanziell ausweglose Situation geraten. Was das Privat- und Familienleben betrifft, so wurde festgestellt, dass sich der Beschwerdeführer seit Januar 2018 in Österreich aufhalte. Seine Angehörigen (Kern- und Großfamilie) würden nach wie vor in der Türkei leben. Er verfüge über Brüder in Deutschland und Cousins in Österreich. Der Beschwerdeführer habe derzeit bei einem Cousin seinen Wohnsitz. Er habe einen Deutschkurs besucht, sei nicht Mitglied eines Vereins und nicht ehrenamtlich tätig. Er verfüge über kein Eigentum, sei nicht selbsterhaltungsfähig und erhalte von seinen in Deutschland lebenden Brüdern regelmäßig finanzielle Unterstützung. Es könne nicht festgestellt werden, dass eine besondere Integrationsverfestigung seiner Person in Österreich bestünde.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte seiner Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt aktuelle Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers zugrunde (vgl. die Seiten 21 bis 71 des angefochtenen Bescheides).
In der rechtlichen Beurteilung wurde begründend dargelegt, warum der seitens des Beschwerdeführers vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG 2005 biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt wurde, weshalb gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt wurde, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig sei und weshalb die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
11. Mit Verfahrensanordnungen vom 30.07.2019 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
12. Gegen den am 01.08.2019 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2019 richtet sich die im Wege der rechtsfreundlichen Vertretung mit Schreiben vom 26.08.2019 fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Eventualiter werden ein Antrag auf Zuerkennung eines humanitären Aufenthaltstitels sowie ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.
In der Sache bringt der Beschwerdeführer - abgesehen von der Wiederholung seiner bereits vorgebrachten Ausreisegründe - im Wesentlichen vor, das belangte Bundesamt habe kein ausreichendes Ermittlungsverfahren geführt und unrichtige Feststellungen etwa zur Identität und zum Ausreisevorbringen getroffen. Ferner sei die Beweiswürdigung der belangten Behörde, die Fluchtgründe wären nicht aktuell und nicht zutreffend, unrichtig. Zum Beweis hiefür wird auf eine ergänzende Einvernahme des Beschwerdeführers und individuelle Ermittlungen zur Situation des Beschwerdeführers durch einen unabhängigen Ländersachverständigen verwiesen. Die belangte Behörde ignoriere das konkrete Vorbringen des Beschwerdeführers und weiche von den Länderfeststellungen ab. Sie verkenne insgesamt die Rechtslage, weswegen der angefochtene Bescheid wegen Willkür im Sinne der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes aus dem Rechtsbestand zu beseitigen sein werde. Die Länderfeststellungen zur Türkei würden bestätigen, dass die Furcht des Beschwerdeführers vor staatlicher Verfolgung wohlbegründet und aktuell sei. Hätte die belangte Behörde ihre Ermittlungspflicht nicht verletzt, hätte sie zur individuellen Situation des Beschwerdeführers eigene Ermittlungen anstellen müssen.
13. Die Beschwerdevorlage langte am 30.09.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurden in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.
14. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.10.2019 wurde der Beschwerdeführer um Unterfertigung einer beigeschlossenen Zustimmungserklärung ersucht, um die von den deutschen Behörden beschlagnahmten Dokumente beischaffen zu können. Diesem Ersuchen wurde seitens des Beschwerdeführers entsprochen und die unterfertigte Zustimmungserklärung mit Schreiben vom 16.10.2019 an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.
15. Im Zuge eines Telefonates ersuchte das Bundesverwaltungsgericht das belangte Bundesamt um Übermittlung des von ihm geführten - fremdenrechtlichen - Verfahrensaktes bezüglich des Beschwerdeführers. Diesem Ersuchen wurde seitens des belangten Bundesamtes entsprochen.
16. Mit E-Mail vom 29.10.2019 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht - nach Vorliegen der Zustimmungserklärung des Beschwerdeführers - des Weiteren die Abteilung „Dublin und Internationale Beziehungen“ der belangten Behörde um Beischaffung des türkischen Reisepasses und des türkischen Personalausweises (von den deutschen Behörden).
17. Mit E-Mail vom 19.11.2019 übermittelte die Abteilung „Dublin und Internationale Beziehungen“ der belangten Behörde das von den deutschen Behörden ausgefüllte Antwortblatt gemäß Artikel 34 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist an das Bundesverwaltungsgericht. Demnach bestehe kein Asylersuchen des Beschwerdeführers in der Bundesrepublik Deutschland und seien bezüglich des Verbleibs der Dokumente des Beschwerdeführers Recherchen aufgenommen worden.
18. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.11.2019 wurden dem Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung aufgrund der dynamischen Lageentwicklung im Herkunftsstaat aktuelle länderkundliche Dokumente zur allgemeinen Lage in der Türkei und insbesondere zur Lage der kurdischen Volksgruppe zur Wahrung des Parteiengehöres übermittelt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich Stellung zu nehmen.
Die eingeräumte Gelegenheit zur Stellungnahme ließ der Beschwerdeführer ungenutzt verstreichen.
19. In der Folge übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung mit Note vom 05.12.2019 zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung in seiner Angelegenheit weitere aktuelle länderkundliche Informationen bezüglich der allgemeinen Situation in der Türkei zur Abgabe einer Stellungnahme bis zur Verhandlung schriftlich oder in der Verhandlung mündlich.
20. Am 10.12.2019 langte die diesbezügliche Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein. In der Sache legte der Beschwerdeführer erneut dar, aus dem Südosten der Türkei - konkret aus XXXX in der Provinz XXXX - zu stammen. Er sei Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, islamischen Glaubens und Mitglied der Halklar?n Demokratik Partisi. Er werde von den türkischen Sicherheitskräften verdächtigt, ein Anhänger der Partiya Karkerên Kurdistanê zu sein. Ansonsten wurde ohne nähere Ausführungen auszugsweise - auf achtzehn Seiten - auf das dem Beschwerdeführer übermittelte Länderinformationsblatt zur Türkei verwiesen.
21. Am 17.12.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung, eines Vertreters der belangten Behörde und eines Dolmetschers für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand der dem Beschwerdeführer im Vorfeld übermittelten Länderdokumentationsunterlagen erörtert. Abschließend wurde der Beschwerdeführer ersucht, das türkische Scheidungsurteil binnen 14 Tagen vorzulegen.
22. Mit Eingabe vom 31.12.2019 übermittelte der Beschwerdeführer die erste Seite des türkischen Scheidungsurteils vom 11.10.2017 und legte dazu erläuternd dar, zu diesem Zeitpunkt inhaftiert gewesen zu sein. Er sei von der Polizei zum Gericht gebracht und anschließend wieder in das Gefängnis zurückgebracht worden.
23. Dieses vorgelegte türkische Dokument wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes amtswegig einer Übersetzung zugeführt.
24. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.01.2020 wurde der Beschwerdeführer bezüglich der Eingabe vom 31.12.2019 um Mitteilung innerhalb von einer Woche ab Zugang dieser Erledigung ersucht, ob ein weiterer Verhandlungstermin zur Erörterung dieses neuen Vorbringens und der Gründe, weshalb es nicht eher im Verfahren erstattet wurde, gewünscht sei oder ob auf einen weiteren Verhandlungstermin verzichtet werde.
25. Mit einem am 16.01.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangten Schreiben ersuchte der Beschwerdeführer um eine Fristerstreckung bezüglich der Abgabe einer Stellungnahme.
27. Der Beschwerdeführer äußerte sich in der Folge mit Stellungnahme vom 17.01.2020 im Rahmen des Parteiengehörs näher bezüglich seiner Eingabe vom 31.12.2019. Der Beschwerdeführer führte aus, dass er aufgrund der zahlreichen Misshandlungen durch die türkischen Sicherheitskräfte auch Kopfverletzungen erlitten habe, weshalb er an Konzentrationsschwierigkeiten leide und Schwierigkeiten bei der Wiedergabe seiner Angaben habe. Daher habe er den Umstand, dass er während der Zeit seiner Festnahme von der Polizei zu Gericht gebracht worden sei, vergessen zu erwähnen.
Bezüglich der Ehescheidung erlaube sich der Beschwerdeführer zudem vorzubringen, dass sowohl er als auch seine Ehegattin die Scheidung gewollt hätten. Es habe insgesamt nur eine Gerichtsverhandlung gegeben, in welcher die Ehe geschieden worden sei. Dieser Gerichtstermin sei in die Zeit seiner Anhaltung gefallen. Der Beschwerdeführer habe diesen Termin der Polizei mitgeteilt, welche ihn zum Gericht und wieder zurück in die Sportarena gebracht habe.
Des Weiteren wird die Einholung eines neurologischen Gutachtens mit Bildgebung und daran anschließend ein neuropsychologisches Gutachten zur Abklärung der Differentialdiagnostik beantragt, um zu beweisen, dass der Beschwerdeführer aufgrund der erlittenen Kopfverletzungen an Konzentrations- und Erinnerungsproblemen leiden würde. Zur Frage nach einem weiteren Verhandlungstermines führt der Beschwerdeführer aus, dass Gerichtsverhandlungen für ihn anstrengend wären und er deshalb „vorerst nicht weiter einvernommen werden“ möchte.
28. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.01.2020 wurde Primar XXXX , allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie, zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung eines medizinischen Gutachtens zum aktuellen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beauftragt.
29. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 23.03.2020 wurde dem Beschwerdeführer seitens des Bundesverwaltungsgerichtes das medizinische Gutachten vom 25.02.2020 zur Kenntnis gebracht. Die dazu eingeräumte Stellungnahmefrist erfuhr aufgrund des COVID-19-VwBG eine maßgebliche Verlängerung.
Der Beschwerdeführer nahm zum Gutachten vom 25.02.2020 (auch in der verlängerten Frist) nicht Stellung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Verfahrensbestimmungen
Gemäß § 27 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I Nr. 57/2018, hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3 VwGVG) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
2. Feststellungen:
2.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angegebenen Namen und ist Staatsangehöriger der Türkei. Er wurde am XXXX in XXXX in der Provinz XXXX geboren und wuchs dort auf. Er ist Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und bekennt sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung. Der Beschwerdeführer beherrscht die Sprachen Kurdisch und Türkisch in Wort und Schrift. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest.
Die Ehe des Beschwerdeführers mit XXXX , wurde in der Türkei an einem nicht feststellbaren Tag im Jahr 2017 gerichtlich geschieden. Der Beschwerdeführer ist Vater dreier Kinder, auf die Obsorge verzichtete er im Rahmen des Scheidungsverfahrens.
Nach dem Besuch der Grundschule absolvierte der Beschwerdeführer eine Ausbildung in der Bauwirtschaft und erlernte unter anderem das Spachteln und das Verlegen von Fliesen. Zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes war der Beschwerdeführer als Maler, Fliesenleger und in der Bauwirtschaft sowie in einer Bäckerei tätig. Des Weiteren werden von seiner Familie Pistazienfelder bewirtschaftet und half er dort in der Vergangenheit ebenfalls mit. Seine finanzielle Situation in der Türkei war gut, zumal er auch Ersparnisse anlegen konnte. Seinen Wehrdienst in der türkischen Armee hat der Beschwerdeführer in den Jahren 2000 und 2001 in der Provinz I?d?r abgeleistet.
Der Beschwerdeführer verfügte bis zur Trennung bzw. späteren Scheidung über einen gemeinsamen Wohnsitz mit seiner ehemaligen Ehegattin in XXXX . Nach dem Scheitern der Ehe lebte der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise im Haus seines Vaters. In den Jahren 2006 und 2007 hielt sich der Beschwerdeführer zwischenzeitlich auch in Gaziantep auf.
Seine ehemalige Gattin bewohnt weiterhin mit den gemeinsamen Kindern das Haus des Beschwerdeführers in XXXX . Auch seine Eltern leben weiterhin in XXXX . Außer diesen Personen wohnen drei Schwestern, vier Brüder und Tanten des Beschwerdeführers in der Türkei. Seine Eltern betreiben die familieneigene Landwirtschaft und ein Teil seiner Geschwister arbeitet im Baugewerbe und ebenfalls in der Landwirtschaft. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Kindern über WhatsApp in Kontakt.
Vier Brüder und mehrere Cousins halten sich in der Bundesrepublik Deutschland und ein Bruder des Beschwerdeführers in Italien auf. Drei Cousins des Beschwerdeführers leben in Österreich, wobei ihm einer der Cousins gegenwärtig Unterkunft gewährt.
Der Beschwerdeführer verließ die Türkei von seinem Wohnort ausgehend am 05.11.2017 schlepperunterstützt auf dem Landweg in Richtung Italien. Nach seiner vorangehenden Einreise in das Bundesgebiet versuchte er am 17.11.2017 erstmals, mit der Eisenbahn in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen, wobei ihm die Einreise von Organen der deutschen Bundespolizei verweigert und der Beschwerdeführer an Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in der Stadt Salzburg übergeben wurde. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme am 19.11.2017 stellte der Beschwerdeführer keinen Antrag auf internationalen Schutz und erklärte sich mit einer Rückkehr nach Italien einverstanden.
Am 19.11.2017 entzog sich der Beschwerdeführer unmittelbar den weiteren fremdenpolizeilichen Amtshandlungen in Salzburg und reiste erfolgreich in die Bundesrepublik Deutschland ein. Allerdings wurde der Beschwerdeführer in der Folge in der Bundesrepublik Deutschland festgenommen und bis zu seiner Zurückschiebung am 16.01.2018 58 Tage inhaftiert. Er stellte in Deutschland keinen Antrag auf internationalen Schutz.
Nach seiner Zurückschiebung nach Österreich erklärte der Beschwerdeführer bei seiner niederschriftlichen Einvernahme am 16.01.2018 in Salzburg ausdrücklich, in Österreich keinen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, da er seine Reise nach Frankreich fortsetzen wolle. Im Anschluss an die Einvernahme wurde der Beschwerdeführer auf freien Fuß gesetzt.
In der Folge begab sich der Beschwerdeführer nach Innsbruck, wo er am 22.01.2018 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
2.2. Der Beschwerdeführer hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt. Er engagierte sich in den Jahren 2012 bis 2016 bei der Halklar?n Demokratik Partisi, wobei sich die Unterstützung für diese Partei im Laufe der Jahre permanent reduzierte und er nach dem Jahr 2014 nur selten und ab dem Jahr 2016 gar nicht mehr an Aktivitäten der Halklar?n Demokratik Partisi teilnahm.
Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 1992 als Jugendlicher aufgrund des Werfens von Steinen auf einen Fahrzeugkonvoi der Gendarmerie von einem Soldaten geschlagen. Während der Ableistung seines Wehrdienstes in den Jahren 2000 und 2001 kam es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit anderen Soldaten wegen eines in Kurdisch geführten Telefongespräches. Des Weiteren wurde wider den Beschwerdeführer in dieser Zeit ein Gerichtsverfahren wegen einer im Zuge einer körperlichen Auseinandersetzung erfolgten Verletzung eines anderen Soldaten. Der Beschwerdeführer musste deshalb eine mehrmonatige Haftstrafe verbüßen. Schließlich konnte verifiziert werden, dass der Beschwerdeführer während seines Aufenthaltes in Gaziantep in den Jahren 2006 und 2007 öfters von Sicherheitskräften angehalten und kontrolliert wurde.
Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2014 nicht von Sicherheitskräften wegen ihm vorgeworfener Unterstützung der Partiya Karkerên Kurdistanê festgenommen und in einem Kellerraum misshandelt und im Kopfbereich geschlagen.
Der Beschwerdeführer wurde auch vor seiner Ausreise im Jahr 2017 nicht von der türkischen Gendarmerie am 08.10.2017 wegen ihm vorgeworfener Unterstützung der Partiya Karkerên Kurdistanê festgenommen, zehn Tage in einer Sportarena angehalten und dabei misshandelt.
Es kann somit nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat als vermeintlicher Unterstützer der Partiya Karkerên Kurdistanê, der Gülen-Bewegung oder aus sonstigen Gründen gerichtlich oder polizeilich gesucht wird oder er aus diesem Grund oder aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit im Fall einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit willkürlicher Gewaltausübung, willkürlichem Freiheitsentzug oder exzessiver Bestrafung durch staatliche Organe ausgesetzt wäre.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.
2.3. Der Beschwerdeführer ist ein arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über Berufserfahrung als Maler, Fliesenleger, Bauarbeiter und durch seine Tätigkeit in einer Bäckerei. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.
Beim Beschwerdeführer wurde seinen Angaben zufolge während der Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei Hepatitis B diagnostiziert. Er wurde am 06.12.2018 in der Ambulanz einer österreichischen Krankenanstalt vorstellig und verlangte die Ausstellung eines Rezeptes für das Medikament Viread 245 mg. Ein solches Rezept wurde ihm ausgestellt, obwohl er keine Befunde über seine Erkrankung an Hepatitis B in Vorlage brachte. Derzeit nimmt der Beschwerdeführer keine Medikamente aufgrund seiner behaupteten Hepatitiserkrankung ein.
Physisch weist der Beschwerdeführer keine körperlichen Einschränkungen oder Erkrankungen auf.
Der Beschwerdeführer befand sich vom 20.07.2018 bis 23.07.2018 in der psychiatrischen Abteilung einer österreichischen Krankenanstalt in stationärer Behandlung. Hiebei wurde eine Anpassungsstörung F43.2 diagnostiziert. Abgesehen von einer regelmäßigen fachärztlichen Kontrolle wurde eine medikamentöse Therapie mit dem Neuroleptikum Zyprexa empfohlen. Derzeit leidet der Beschwerdeführer an chronischen Spannungskopfschmerzen sowie einer Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion F43.2. Neurologische Defizite liegen in Ansehung des Beschwerdeführers nicht vor, es bestehen keine auch keinerlei Hinweise für das Vorliegen eines hirnorganischen Psychosyndroms (Störung infolge einer organischen Hirnveränderung) und es liegt keine die Einvernahmefähigkeit ausschließende neurologisch-psychiatrischen Erkrankung vor. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den Sachverständigen (25.02.2020) einvernahmefähig, er war während der einstündigen medizinischen Untersuchung zeitlich, örtlich, situativ und zur Person durchgehend orientiert und zeigte keine Zeichen von Konzentrationsleistungsstörungen.
Der Beschwerdeführer nimmt keine medikamentöse Therapie ein. Im Falle eines Therapiebeginnes zur Verbesserung der psychischen Beschwerden kommen grundsätzlich alle gängigen Antidepressiva unter Beachtung der Nebenwirkungen in Frage. Eine Kontrolle bei einem Hausarzt ist zu empfehlen, Wartezeiten bis zum Untersuchungstermin sind aus medizinischer Sicht vertretbar. Von einer dauerhaften Behandlungsnotwendigkeit ist in Bezug auf die neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen des Beschwerdeführers nicht auszugehen.
Im Fall einer Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei ist eine kurz- bis mittelfristige Verschlechterung seiner Anpassungsstörung mit leichtgradigen depressiven Reaktion möglich. Eine signifikante Verschlechterung des Gesundheitszustandes, insbesondere ein lebensbedrohlicher Zustand im Fall einer Rückführung in die Türkei ist nicht anzunehmen.
Die österreichischen Behörden würden eine Abschiebung in der Form gestalten, dass zur Vorbeugung gegen allfällige gesundheitliche Beeinträchtigungen darauf geachtet wird, in Hinblick auf ein allfälliges Suizidrisiko durch entsprechende medizinische Unterstützung besondere Sorge zu tragen.
Dem Beschwerdeführer steht in der Türkei der Zugang zu ärztlicher Hilfe und zu einer adäquaten Krankenbehandlung offen. Das Medikament Viread 245 mg ist in der Türkei verfügbar.
Der Beschwerdeführer verfügt für den Fall der Rückkehr abgesehen von seinem türkischen Führerschein über zwei türkische Identitätsdokumente (Nüfus und Reisepass) in Kopie und über eine Wohnmöglichkeit bei Verwandten in der Türkei, insbesondere auch in XXXX in der Provinz XXXX .
2.4. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 16.01.2018 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig bereits Mitte November 2017 erstmals in das Bundesgebiet ein, verließ dieses jedoch am 19.11.2017 umgehend, um zu seinen Familienangehörigen in die Bundesrepublik Deutschland weiterzureisen. Am 16.01.2018 wurde der Beschwerdeführer von der Bundesrepublik Deutschland nach Österreich zurückgeschoben. Er ist seither durchgehend im Bundesgebiet als Asylwerber aufhältig und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der Beschwerdeführer bezog nach seiner Antragstellung bis zum 05.02.2018 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und war zuletzt in einer Unterkunft für Asylwerber in der Gemeinde XXXX untergebracht. Da er sich - ungeachtet der bestehenden Wohnsitzbeschränkung - eigenmächtig aus dem ihm zugewiesenen Quartier entfernte und zu seinem Cousin nach Innsbruck begab, wurden dem Beschwerdeführer die Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber gestrichen.
Der Beschwerdeführer lebt derzeit ungeachtet bei einem Cousin in Innsbruck und bestreitet seinen Lebensunterhalt mit der Hilfe seiner in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Brüder. Zudem erhält er von Freunden des Öfteren Verpflegung. Der Beschwerdeführer ist derzeit nicht legal erwerbstätig. Es wurde ihm auch keine bestimmte Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in verbindlicher Weise durch Abschluss eines (bedingten) Dienstvertrages zugesichert. Der Beschwerdeführer ist für keine Person sorgepflichtig.
Der Beschwerdeführer pflegt normale soziale Kontakte. Aufgrund von Bekannten, die der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehören, besuchte der Beschwerdeführer von Februar 2018 bis etwa Mitte Oktober 2019 regelmäßig Veranstaltungen in deren Gotteshäusern, in Cafés und Parks. Seit Mitte Oktober 2019 unterhält der Beschwerdeführer keinen Kontakt zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas mehr.
Der Beschwerdeführer unterhält seit etwa Mitte Juni oder Mitte Juli 2019 eine Beziehung zu XXXX , die ebenfalls in Innsbruck wohnhaft sein soll. Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Lebensgefährtin nicht im gemeinsamen Haushalt.
Der Beschwerdeführer legte die Beziehung gegenüber dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und dem Bundesverwaltungsgericht bis zur mündlichen Verhandlung nicht offen, machte seine Lebensgefährtin nicht zur Verhandlung als Zeugin stellig und brachte auch kein Unterstützungsschreiben in Vorlage. Im zentralen Melderegister scheint keine Person mit dem vom Beschwerdeführer angegebenen Namen auf.
Der Beschwerdeführer hat keine gemeinnützige Arbeit verrichtet. Er ist weder in einem Verein noch in einer sonstigen Organisation Mitglied.
Der Beschwerdeführer besuchte - abgesehen von zwei Einheiten eines Kurses - keine sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache und legte auch keine Prüfungen ab. Er beherrscht die deutsche Sprache erst in geringem Ausmaß. Anderweitige Integrationsschritte hat der Beschwerdeführer nicht ergriffen.
2.5. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG geduldet. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
2.7. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:
1. Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlamentsund Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).
Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischer Weise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die ZehnProzent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdogan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtas, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).
Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen worden. Das neue Präsidialsystem hat etliche der bisher bestehenden Elemente der Gewaltenteilung aufgehoben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Dies hat zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz geführt. Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen; gegen Gesetze Veto einzulegen, und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z.B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind inzwischen dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019).
Zunehmende politische Polarisierung, insbesondere im Vorfeld der Gemeinderatswahlen vom März 2019, verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft. Laut europäischer Kommission muss die parlamentarische Immunität gestärkt werden, um die Meinungsfreiheit der Abgeordneten zu gewährleisten (EC 29.5.2019).
Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018).
Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands in Gewahrsam genommen und mehr als 78.000 wegen Terrorismusbezug verhaftet, von denen 50.000 noch im Gefängnis sitzen (EC 29.5.2019). Die rund 50.000 wegen Terrorbezug Inhaftierten machen 17% aller Gefängnisinsassen aus (AM 4.12.2018).
2. Sicherheitslage
Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakir, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Sirnak und Hakkari bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Sanliurfa, Diyarbakir, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mus, Tunceli, Sirnak, Hakkari und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkari entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbakir und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkari, Batman und Agri (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).
Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).
2.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Fethullah Gülen, ist ein muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung bezeichnet (bpb 1.9.2014). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen von Anhängern geben, oft in einflussreichen Positionen. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Zahlreiche Gülen-Schulen wurden, teilweise auf Druck hin, auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern geschlossen, anderen Eigentümern oder der türkischen staatlichen Stiftung Maarif, die eigens hierfür gegründet wurde, übertragen (SCF 5.2.2019, vgl. DS 31.7.2018). Mit Februar 2019 waren laut Direktor von Maarif rund 70% aller Gülen-Schulen in 21 Länder, ausgenommen in westlichen Staaten, der Kontrolle der Gülen-Bewegung entzogen. Hiervon wurden inzwischen 191 ehemalige Gülen-Schulen der türkischen Maarif-Stiftung übergeben (SCF 5.2.2019).
Erdogan stand Gülen jahrzehntelang nahe. Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die AKP bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 21.7.2016). Erdogan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Das Bündnis zwischen Erdogan und Gülen begann sich aufzuweichen, als die Gülenisten in Polizei und Justiz zu unabhängig wurden. Das Klima verschärfte sich, als Gülen selbst Erdogan für seinen Umgang mit den Protesten im Gezi-Park im Jahr 2013 kritisierte. Erdogan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren und zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 21.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an