Entscheidungsdatum
19.08.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
L516 2105985-3/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Pakistan, vertreten durch Mag.a Katrin HULLA, Caritas Perspektiven-Asyl-Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.07.2018, 1053630809-160878175/BMI-EAST_OST nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 23.07.2020 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Beschwerdeführer ist pakistanischer Staatsangehöriger und stellte am 23.06.2016 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Das BFA wies diesen Antrag mit Bescheid vom 25.07.2018 (I.) gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und (II.) gemäß § 8 Abs 1 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab. Das BFA erteilte unter einem (III.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG, stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Pakistan gemäß § 46 FPG zulässig sei und sprach (IV.) aus, dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.
Der Beschwerdeführer ergänzte sein bisheriges Vorbringen mit Schriftsätzen vom 12.04.2019, 20.08.2019, 20.01.2020 und 20.07.2020.
Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Sache am 23.07.2020 eine mündliche Verhandlung durch. An der Verhandlung nahmen der Beschwerdeführer, seine Vertreterin sowie ein Vertreter der belangten Behörde teil.
1. Sachverhaltsfeststellungen:
[regelmäßige Abkürzungen: VwA1=Verwaltungsverfahrensakt des BFA zum ersten Antrag auf internationalen Schutz; VwA2=Verwaltungsverfahrensakt des BFA zum gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz; AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; NS=Niederschrift; VS=Verhandlungsschrift der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht; S=Seite; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; IZR=Zentrales Fremdenregister; GVS= Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich; SD=Staatendokumentation des BFA; LIB=Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA]
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt in Österreich den im Spruch angeführten Namen und sowie das ebenso dort angeführte Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Pakistan Er stammt aus der Stadt XXXX in der Provinz Punjab. Seine Identität steht fest. (VwA1 AS 325-327; 407-409)
1.2 Zu seinem Aufenthalt und Lebensverhältnissen in Österreich
Im März 2015 reiste der Beschwerdeführer nach Österreich ein, wo er sich seither gestützt auf das vorläufige Aufenthaltsrecht nach dem Asylgesetz ununterbrochen aufhält. Der Beschwerdeführer stellte am 16.03.2015 in Österreich einen ersten Antrag auf internationalen Schutz, welcher im Rechtsmittelweg vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom XXXX , zur Gänze abgewiesen wurde. Am 23.06.2016 stellte er den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer hat von Beginn seines Verfahrens an sämtlichen Ladungen Folge geleistet und an seinen Verfahren mitgewirkt, weshalb ihm die bisherige Verfahrensdauer nicht anzulasten ist. Er hat in Österreich verschiedene Bildungsveranstaltungen der Universität Wien und im Jahr 2019 Volontariate in XXXX , in einer sozialen Einrichtung für betreutes Wohnen sowie in einem österreichischen Unternehmen absolviert. Er verfügt auch über eine Einstellungszusage in zuletzt genannten österreichischen Unternehmen für den Fall, dass er eine Arbeitsgenehmigung erhält. Seit 2018 ist er auch im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten des Dienstleistungsschecks erwerbstätig. (ZMR; IZR; GVS; VwA2 AS 677; 681 ff; OZ 2, 3, 10)
Der Beschwerdeführer hat am 06.10.2017 die ÖSD-Prüfung „ÖSD Zertifikat Deutsch Österreich B1“ bestanden und bereits einen Deutschkurs für das Sprachniveau B2 absolviert. Er kann sich sehr gut in deutscher Sprache verständigen. Er verstand die ihm in der mündlichen Verhandlung ohne Dolmetscherin in deutscher Sprache gestellten Fragen sofort und antwortete auf diese spontan, rasch, flüssig und verständlich in einer freien, zusammenhängenden Erzählung auf Deutsch. Er verstand auch darüber hinaus im gesamten Verlauf der mündlichen Verhandlung die deutschsprachige Konversation, wollte immer wieder auch spontan auf Deutsch antworten und verfiel auch während der Schilderung seiner Ausreisegründe immer wieder in die deutsche Sprache, wenn es ihm wichtig war, dass er genau verstanden wird und er etwas selbstständig erklären wollte. Er wurde jedoch aus Gründen der Vorsicht vom Bundesverwaltungsgericht angehalten, die Übersetzung in seine Sprache abzuwarten und auch in seiner Muttersprache zu antworten. (VwA1 AS 315; 321; OZ 3, 10; VS 23.07.2020, S 4 f, 6, 12)
Er hat mittlerweile auch seinen Lebensmittelpunkt, seine Freunde, seine Bekannte und sein soziales Netz in Österreich, was die vorgelegten sehr persönlich gehaltenen Unterstützungsschreiben von österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern unterschiedlichen Alters und Herkunft belegen. Er engagiert sich auch in einem musikalischen Kulturprojekt, einem XXXX und ist Mitglied der schiitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich und besucht eine schiitische Moschee. Seine Mitarbeit bei der sozialen Einrichtung „ XXXX “ musste er nach eineinhalb Jahren aufgrund seines schlechter gewordenen Gesundheitszustandes beenden; er beabsichtigt jedoch, diese fortzusetzten, wenn es ihm sein Gesundheitszustand wieder erlaubt. (VwA2 AS 31; 313; 605 -671; 679; OZ 10; VS 23.07.2020, S 5)
Er ist strafrechtlich unbescholten. (Strafregister der Republik Österreich)
1.3 Zu seinem Gesundheitszustand
Beim Beschwerdeführer wurden unter anderem die folgenden Diagnosen gestellt:
* Schwere PTBS und hochgradige Traumatisierung bei bestehender Gefahr einer Retraumatisierung bei einer Überstellung in das Heimatland (VwA2 AS 189)
* Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung F62.0 nach ICD Klassifikation und Istanbul Protokoll (OZ 2)
* PTBS nach Foltererfahrung (OZ 10)
* Dissoziative Krampfanfälle F 44.5 (OZ 2, 10)
* Organisches amnestisches Syndrom im Rahmen eines Schädel-Hirn-Traumas (OZ 2)
* Anisokorie (li>re) im Rahmen eines Schädel-Hirn-Traumas (OZ 2)
* Innere N-III Pareses links (OZ 2)
* Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome F32.2 (OZ 10)
* Zustand nach Fraktur des Talus (Sprungbein)
Der Beschwerdeführer befand sich in Österreich mehrmals in stationären psychiatrischen Einrichtungen in Behandlung; er befindet sich seit Jahren in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung sowie seit 2020 auch in schmerzmedizinischer Behandlung. (VwA2 AS 31 ff; 169 ff; 307; 385-429; 557; 595-603; OZ 2, OZ 10)
1.4 Zum Ausreisegrund
XXXX
XXXX
XXXX
XXXX
1.5 Zur Situation in Pakistan
Politische Lage
Pakistan ist ein Bundesstaat mit den vier Provinzen Punjab, Sindh, Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa. Die FATA (Federally Administered Tribal Areas / Stammesgebiete unter Bundesverwaltung) sind nach einer Verfassungsänderung im Mai 2018 offiziell in die Provinz Khyber Pakhtunkhwa eingegliedert worden. Daneben kontrolliert Pakistan die Gebiete von GilgitBaltistan und Azad Jammu & Kashmir, dem auf der pakistanischen Seite der Demarkationslinie (“Line of Control”) zwischen Indien und Pakistan liegenden Teil Kaschmirs. Beide Gebiete werden offiziell nicht zum pakistanischen Staatsgebiet gerechnet und sind in Teilen autonom. Das Hauptstadtterritorium Islamabad (“Islamabad Capital Territory”) bildet eine eigene Verwaltungseinheit (AA 1.2.2019a).
Die gesetzgebende Gewalt in Pakistan liegt beim Parlament (Nationalversammlung und Senat). Daneben werden in den Provinzen Pakistans Provinzversammlungen gewählt. Die Nationalversammlung umfasst 342 Abgeordnete, von denen 272 vom Volk direkt für fünf Jahre gewählt werden. Es gilt das Mehrheitswahlrecht. 60 Sitze sind für Frauen, 10 weitere für Vertreter religiöser Minderheiten reserviert (AA 1.2.2019a). Die reservierten Sitze werden von den Parteien gemäß ihrem Stimmenanteil nach Provinzen besetzt, wobei die Parteien eigene Kandidatenlisten für diese Sitze erstellen. (Dawn 2.7.2018).
Bei der Wahl zur Nationalversammlung (Unterhaus) am 25. Juli 2018 gewann erstmals die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI: Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) unter Führung Imran Khans die Mehrheit (AA 1.2.2019a). Es war dies der zweite verfassungsmäßig erfolgte Machtwechsel des Landes in Folge (HRW 17.1.2019). Die PTI konnte durch eine Koalition mit fünf kleineren Parteien sowie der Unterstützung von neun unabhängigen Abgeordneten eine Mehrheit in der Nationalversammlung herstellen (ET 3.8.2018). Imran Khan ist seit Mitte August 2018 Premierminister Pakistans (AA 1.2.2019).
Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von Parlament und Provinzversammlungen gewählt. Am 9. September 2018 löste Arif Alvi von der Regierungspartei PTI den seit 2013 amtierenden Präsidenten Mamnoon Hussain (PML-N) Staatspräsident regulär ab (AA 1.2.2019a).
Sicherheitslage allgemein
Die Bedrohung durch Terrorismus und Extremismus bleibt zentrales Problem für die innere Sicherheit des Landes (AA 1.2.2019a; vgl. USDOS 19.9.2018). Landesweit ist die Zahl der terroristischen Angriffe seit 2009, zurückgegangen (PIPS 7.1.2019; vgl. AA 21.8.2018, USDOS 19.9.2018). Konflikte mit dem Nachbarland Indien werden gelegentlich gewaltsam ausgetragen (EASO 10.2018 S 16).
Die Taliban und andere militante Gruppen verüben Anschläge insbesondere in Belutschistan und in Khyber-Pakhtunkhwa (AA 21.8.2018), aber auch in Großstädten wie Karatschi (AA 1.2.2019a). Über 90 % der terroristischen Anschläge sowie Todesopfer entfielen 2018 auf die zwei Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa (PIPS 7.1.2019). Die Anschläge zielen vor allem auf Einrichtungen des Militärs und der Polizei. Opfer sind aber auch politische Gegner der Taliban, Medienvertreter, religiöse Minderheiten, Schiiten, sowie Muslime, die nicht der strikt konservativen Islam-Auslegung der Taliban folgen, wie die Sufis (AA 1.2.2019a).
Die Operationen der Rangers [siehe dazu Abschnitt 5] in Karatschi (ab 2013), Militäroperationen in Nord-Wasiristan und der Khyber Agency [Stammesbezirke der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, Anm.], sowie landesweite Anti-Terror-Operationen als Teil des National Action Plan (NAP) trugen dazu bei, den rückläufigen Trend bei der Zahl der Vorfälle und der Opfer auch 2018 aufrecht zu halten (PIPS 7.1.2019 S 20; vgl. EASO 10.2018 S 18). In den ehemaligen Stammesgebieten (Federally Administered Tribal Areas – FATA) konnte das staatliche Gewaltmonopol überwiegend wiederhergestellt werden (AA 21.8.2018), die Militäraktionen gelten als abgeschlossen (Dawn 29.5.2018). Viele militante Gruppen, insbesondere die pakistanischen Taliban, zogen sich auf die afghanische Seite der Grenze zurück und agitieren von dort gegen den pakistanischen Staat (AA 21.8.2018).
Sicherheitslage - Punjab und Islamabad
Die Bevölkerung der Provinz Punjab beträgt laut Zensus 2017 110 Millionen. In der Provinzhauptstadt Lahore leben 11,1 Millionen Einwohner (PBS 2017d). Islamabad, die Hauptstadt Pakistans, ist verwaltungstechnisch nicht Teil der Provinz Punjab, sondern ein Territorium unter Bundesverwaltung (ICTA o.D.). Die Bevölkerung des Hauptstadtterritoriums beträgt laut Zensus 2017 ca. zwei Millionen Menschen (PBS 2017d).
Die Sicherheitslage in Islamabad ist besser als in anderen Regionen (EASO 10.2018 S 93). Die Sicherheitslage im Punjab gilt als gut (SAV 29.6.2018). Mehrere militante Gruppierungen, die in der Lage sind, Anschläge auszuüben, sind im Punjab aktiv (EASO 10.2018 S 63-64; vgl. SAV 29.6.2018). In großen Städten wie Lahore und Islamabad-Rawalpindi gibt es gelegentlich Anschläge mit einer hohen Zahl von Opfern, durchgeführt von Gruppen wie den Tehreek-i-Taliban Pakistan (TTP), Al Qaeda oder deren Verbündeten (ACLED 7.2.2017); beispielsweise wurden bei einem Bombenanschlag durch die TTP-Splittergruppe Hizbul-Ahrar auf Polizeieinheiten vor einem Sufi-Schrein in Lahore am 8.5.2019 zehn Personen getötet. (Guardian 8.5.2019; vgl. Reuters 8.5.2019). Der Südpunjab gilt als die Region, in der die militanten Netzwerke und Extremisten am stärksten präsent sind (EASO 10.2018 S 63-64).
Für das erste Quartal 2019 (1.1. bis 31.3.) registrierte PIPS für das Hauptstadtterritorium Islamabad keinen und für den Punjab zwei terroristische Angriffe mit zwei Toten (Aggregat aus: PIPS 6.2.2019. PIPS 7.3.2019, PIPS 10.4.2019). Im Jahr 2018 wurde von PIPS im Hauptstadtterritorium kein terroristischer Angriff gemeldet. Im Punjab gab es vier terroristische Anschläge mit 20 Todesopfern. Zwei davon waren Selbstmordsprengangriffe durch die pakistanischen Taliban (PIPS 7.1.2019 S 49). Im Jahr 2017 kamen im Punjab bei 14 Anschlägen 61 Personen ums Leben, davon fanden sechs Vorfälle mit 54 Toten in Lahore statt. Das Hauptstadtterritorium verzeichnete drei Anschläge mit zwei Todesopfern (PIPS 7.1.2018).
Polizei
Die Effizienz der Arbeit der Polizeikräfte variiert von Bezirk zu Bezirk und reicht von gut bis ineffizient (USDOS 13.3.2019). In der Öffentlichkeit genießt die vor allem in den unteren Rängen schlecht ausgebildete, gering bezahlte und oft unzureichend ausgestattete Polizei kein hohes Ansehen. So sind u.a. die Fähigkeiten und der Wille der Polizei im Bereich der Ermittlung und Beweiserhebung gering. Staatsanwaltschaft und Polizei gelingt es häufig nicht, belastende Beweise in gerichtsverwertbarer Form vorzulegen. Zum geringen Ansehen der Polizei tragen die extrem hohe Korruptionsanfälligkeit ebenso bei wie häufige unrechtmäßige Übergriffe und Verhaftungen sowie Misshandlungen von in Polizeigewahrsam genommenen Personen. Illegaler Polizeigewahrsam und Misshandlungen gehen oft Hand in Hand, um den Druck auf die festgehaltene Person bzw. deren Angehörige zu erhöhen, durch Zahlung von Bestechungsgeldern eine zügige Freilassung zu erreichen, oder um ein Geständnis zu erpressen. Die Polizeikräfte sind oft in lokale Machtstrukturen eingebunden und dann nicht in der Lage, unparteiische Untersuchungen durchzuführen. So werden Strafanzeigen häufig gar nicht erst aufgenommen und Ermittlungen verschleppt (AA 21.8.2018).
Die Polizeikräfte versagen oftmals dabei, Angehörigen religiöser Minderheiten – wie beispielsweise Ahmadis, Christen, Schiiten und Hindus – Schutz vor Übergriffen zu bieten. Es gibt jedoch Verbesserungen bei der Professionalität der Polizei. Einzelne lokale Behörden demonstrierten die Fähigkeit und den Willen, unter großer eigener Gefährdung Minderheiten vor Diskriminierung und Mob-Gewalt zu schützen (USDOS 13.3.2019).
Muslimische Denominationen, insbesondere Schiiten
In Pakistan finden sich verschiedene Ausmaße der muslimischen Identität und der religiösen Intensität. Die beiden Hauptzweige des Islams, das Schiitentum und das Sunnitentum, teilen sich in Pakistan auch in mehrere Untergruppen. Die Sunniten unterteilen sich in hauptsächlich drei Gruppen. Von diesen formen die Barelvis [auch Ahle Sunnat wal Jama'at] die überwiegende Mehrheit mit ungefähr 60 % der sunnitischen Bevölkerung. Deobandis werden auf ungefähr 35 % der Sunniten geschätzt und machen damit die zweitgrößte sunnitische Subsekte aus. Eine kleine Anzahl von ungefähr 5 % der Sunniten folgt der Ahl-e Hadith (Salafi) Schule des Islam. Religiöse Intoleranz und Gewalt findet auch zwischen den muslimischen Denominationen und innerhalb der sunnitischen Konfession statt, z. B. zwischen der Barelvi-Sekte, die erheblichen Sufi-Einfluss aufweist und die Mehrheit der Pakistanis ausmacht, und der Deobandi-Sekte, die islamistisch geprägt ist (BFA 10.2014).
Die schiitische Bevölkerung Pakistans wird auf 20 bis 50 Millionen Menschen geschätzt. Die Mehrheit der Schiiten in Pakistan gehört den Zwölfer-Schiiten an, andere Subsekten sind NizariIsmailiten, Daudi Bohras und Sulemani Bohras. Laut Australian Department of Foreign Affairs and Trade sind Schiiten im ganzen Land verteilt und stellen in der semi-autonomen Region Gilgit-Baltistan die Bevölkerungsmehrheit. Viele urbane Zentren in Pakistan beheimaten große SchiaGemeinden. Manche Schiiten leben in Enklaven in den Großstädten, sind aber ansonsten gut integriert. Abgesehen von den Hazara unterscheiden sich Schiiten weder physisch noch linguistisch von den Sunniten. Schiitische Muslime dürfen ihren Glauben frei ausüben. Es gibt keine Berichte über systematische staatliche Diskriminierung gegen Schiiten. Schiiten sind in der Regierung und im öffentlichen Dienst gut vertreten. (UKHO 1.2019).
Religiös/konfessionell motivierte bzw. intra-konfessionelle Gewalt ("sectarian violence") führen weiterhin zu Todesfällen. Opfer sind zumeist gemäßigte Sunniten sowie Schiiten, die von militanten sunnitischen Organisationen wie Lashkar-e-Jhangvi (LeJ) oder den Taliban attackiert werden (AA 21.8.2018; vgl. UKHO 1.2019, NCHR 2.2018). Diese Gruppen bedrohen direkt reiligiöse Minderheiten sowie Anhänger der Mehrheitsreligion, die sich öffentlich für Religionsfreiheit oder die Rechte religiöser Minderheiten einsetzen (USCIRF 4.2019). Hazara sind das Hauptziel sunnitischer Extremistengruppen, die gegen Schiiten vorgehen (USCIRF 4.2018; vgl. Abschnitt 17.2).
Die Zahl konfessionell motivierter Gewalttaten geht seit dem Jahr 2013 kontinuierlich zurück (PIPS 7.1.2019; vgl. AA 21.8.2018). Im Jahr 2018 gab es zwölf Fälle konfessionell motivierter Gewalt (minus 40 % zum Vorjahr) mit 51 Todesopfern (minus 31 % zum Vorjahr). Sieben der zwölf Angriffe galten Mitgliedern der schiitischen Glaubensgemeinschaft und drei Angriffe wurden gegen Sunniten durchgeführt. Zehn der zwölf Angriffe fanden in Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan statt (PIPS 7.1.2019).
Bei einem terroristischen Anschlag durch den Islamischen Staat im November 2018 auf einen Markt in einer schiitisch dominierten Gegend in Orakzai, Khyber Pakhtunkhwa, wurden 35 Menschen getötet (darunter über zwei Dutzend Schiiten, sieben Sunniten und drei Sikh). (PIPS 7.1.2019; vgl. ET 23.11.2018).
Es gibt Berichte über willkürliche Verhaftungen von Schiiten während des religiösen Feiertages Muharram (UKHO 1.2019). Einige Bundes- und Provinzbehörden schränken rund um das schiitische Muharram-Fest die Bewegungsfreiheit von Klerikern, die dafür bekannt sind, konfessionelle Gewalt zu propagieren, ein (USDOS 29.5.2018; vgl. HRCP 3.2019) und hunderttausende Sicherheitskräfte werden im ganzen Land während des Aschura-Fests zum Schutz der schiitischen Zeremonien eingesetzt, die gemäß Beobachtern 2017 friedlicher als in den Vorjahren abliefen. Das sunnitisch-deobandi-dominierte Pakistan Ulema Council rief für Muharram 2017 die sunnitische Gemeinschaft auf, schiitischen Prozessionen Respekt entgegenzubringen und von Konfessionalismus abzusehen (USDOS 29.5.2018).
Das Militär stellt Eskorten für schiitische Pilger zur Verfügung, die durch Sindh und Belutschistan in den Iran reisen. Zwischen den organisierten Eskorten können jedoch längere Zeiträume von bis zu drei Monaten liegen. Somit sind schiitische Pilger gezwungen, ihre Reise zu verschieben, oder das Risiko gezielter Angriffe durch militante Gruppen einzugehen (DFAT 20.2.2019; vgl. UKHO 1.2019).
[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]
Grundversorgung und Wirtschaft
Pakistans Wirtschaft hat wegen einer günstigen geographischen Lage, Ressourcenreichtum, niedrigen Lohnkosten, einer jungen Bevölkerung und einer wachsenden Mittelschicht Wachstumspotenzial. Dieses Potenzial ist jedoch aufgrund jahrzehntelanger Vernachlässigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, periodisch wiederkehrender makroökonomischer sowie politischer Instabilität und schwacher institutioneller Kapazitäten nicht ausgeschöpft. Als größte Wachstumshemmnisse gelten Korruption, ineffiziente Bürokratie, ein unsicheres regulatorisches Umfeld, eine trotz Verbesserungen in den letzten Jahren relativ teure bzw. unzureichende Energieversorgung und eine – trotz erheblicher Verbesserung seit 2014 – teils fragile Sicherheitslage (AA 5.3.2019).
Der wichtigste Wirtschaftssektor in Pakistan ist der Dienstleistungssektor (Beitrag zum BIP 59 %; der Sektor umfasst u. a. auch den überproportional großen öffentlichen Verwaltungsapparat). Auch der Industriesektor ist von Bedeutung (Beitrag zum BIP 21 %). Der bei weitem wichtigste Exportsektor ist die Textilbranche. Einen dem Industriesektor vergleichbaren Beitrag zum BIP (20 %) leistet die Landwirtschaft, in der jedoch 42 % der arbeitenden Bevölkerung tätig ist. Etwa 60 % der ländlichen Bevölkerung hängen direkt oder indirekt vom landwirtschaftlichen Sektor ab. Die Provinz Punjab gehört unter anderem bei Getreideanbau und Viehzucht zu den weltweit größten Produzenten (AA 5.3.2019; vgl. GIZ 2.2019a).
Die pakistanische Wirtschaft wächst bereits seit Jahren mit mehr als vier Prozent. Für 2018 gibt der Internationale Währungsfonds (IWF) sogar ein Plus von 5,6 Prozent an. Das Staatsbudget hat sich stabilisiert und die Börse in Karatschi hat in den vergangenen Jahren einen Aufschwung erlebt. Erreicht wurde dies durch einschneidende Reformen, teilweise unterstützt durch den IWF. In der Vergangenheit konnte Pakistan über die Jahrzehnte hinweg jedoch weder ein solides Wachstum halten noch die Wirtschaft entsprechend diversifizieren. Dies kombiniert mit anderen sozioökonomischen und politischen Faktoren führte dazu, dass immer noch etwa ein Drittel der pakistanischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt (GIZ 2.2019a).
Das Programm Tameer-e-Pakistan soll Personen bei der Arbeitssuche unterstützen (IOM 2018). Das Kamyab Jawan Programme, eine Kooperation des Jugendprogrammes des Premierministers und der Small and Medium Enterprises Development Authority (SMEDA), soll durch Bildungsprogramme für junge Menschen im Alter zwischen 15 und 29 die Anstellungsmöglichkeiten verbessern (Dawn 11.2.2019).
Sozialbeihilfen
Der staatliche Wohlfahrtsverband überprüft an Hand spezifischer Kriterien, ob eine Person für den Eintritt in das Sozialversicherungssystem geeignet ist. Die Sozialversicherung ist mit einer Beschäftigung im privaten oder öffentlichen Sektor verknüpft (IOM 2018). Das Benazir Income Support Program und das Pakistan Bait-ul-Mal vergeben ebenfalls Unterstützungsleistungen (USSSA 3.2017).
Pakistan Bait-ul-Mal ist eine autonome Behörde, die Finanzierungsunterstützung an Notleidende, Witwen, Waisen, Invalide, Kranke und andere Bedürftige vergibt. Eine Fokussierung liegt auf Rehabilitation, Bildungsunterstützung, Unterkunft und Verpflegung für Bedürftige, medizinische Versorgung für mittellose kranke Menschen, der Aufbau kostenloser medizinischer Einrichtungen, Berufsweiterbildung sowie die finanzielle Unterstützung für den Aufbau von selbständigen Unternehmen (PBM o.D).
Das Benazir Income Support Programme zielt auf verarmte Haushalte insbesondere in abgelegenen Regionen ab. Durch Vergabe von zinsfreien Krediten an Frauen zur Unternehmensgründung, freie Berufsausbildung, Versicherungen zur Kompensation des Verdienstausfalles bei Tod oder Krankheit des Haupternährers und Kinderunterstützungsgeld sollen insbesondere Frauen sozial und ökonomisch ermächtigt werden (ILO 2017).
Die Edhi Foundation ist die größte Wohlfahrtstiftung Pakistans. Sie gewährt u.a. Unterkunft für Waisen und Behinderte, eine kostenlose Versorgung in Krankenhäusern und Apotheken, sowie Rehabilitation von Drogenabhängigen, kostenlose Heilbehelfe, Dienstleistungen für Behinderte sowie Hilfsmaßnahmen für die Opfer von Naturkatastrophen (Edih o.D.).
Die pakistanische Entwicklungshilfeorganisation National Rural Support Programme (NRSP) bietet Mikrofinanzierungen und andere soziale Leistungen zur Entwicklung der ländlichen Gebiete an. Sie ist in 70 Distrikten der vier Provinzen – inklusive Azad Jammu und Kaschmir – aktiv. NRSP arbeitet mit mehr als 3,4 Millionen armen Haushalten zusammen, welche ein Netzwerk von ca. 217.000 kommunalen Gemeinschaften bilden (NRSP o.D).
Medizinische Versorgung
In Islamabad und Karatschi ist die medizinische Versorgung in allen Fachdisziplinen meist auf einem hohen Niveau und damit auch teuer (AA 13.3.2019). In modernen Krankenhäusern in den Großstädten konnte – unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit – eine Behandlungsmöglichkeit für die am weitesten verbreiteten Krankheiten festgestellt werden. Auch die meisten Medikamente, wie z. B. Insulin, können in den Apotheken in ausreichender Menge und Qualität erworben werden und sind für weite Teile der Bevölkerung erschwinglich (AA 21.8.2018).
In staatlichen Krankenhäusern, die i.d.R. europäische Standards nicht erreichen, kann man sich bei Bedürftigkeit kostenlos behandeln lassen. Da Bedürftigkeit offiziell nicht definiert ist, reicht die Erklärung aus, dass die Behandlung nicht bezahlt werden kann. Allerdings trifft dies auf schwierige Operationen, z.B. Organtransplantationen, nicht zu. Hier können zum Teil gemeinnützige Stiftungen die Kosten übernehmen (AA 21.8.2018).
Bewegungsfreiheit
Das Gesetz gewährleistet die Bewegungsfreiheit im Land sowie uneingeschränkte internationale Reisen, Emigration und Repatriierung (USDOS 13.3.2019). Die Regierung schränkt den Zugang zu bestimmten Gebieten der ehemaligen FATA und Belutschistan aufgrund von Sicherheitsbedenken ein (USDOS 13.3.2019; vgl. FH 1.2019, HRCP 3.2019). Es gibt einzelne rechtliche Einschränkungen, Wohnort, Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu wechseln (FH 1.2019).
Dokumente
Pakistan verfügt über eines der weltweit umfangreichsten Bürger-Registrierungssysteme. Die zuständige Behörde ist die National Database & Registration Authority (NADRA) (PI 1.2019). NADRA ist für die Ausstellung unterschiedlicher Ausweisdokumente zuständig (NADRA o.D.). Über 96 % der Bürgerinnen und Bürger Pakistans verfügen über biometrische Personalausweise (PI 1.2019). Die National Identity Card (NIC) wird für Staatsbürger über 18 Jahre ausgestellt und ist mit einer einzigartigen 13-stelligen Personennummer versehen (NADRA o.D.). Die 2012 eingeführte Smart National Identity Cart (SNIC) hat auf einem Chip zahlreiche biometrische Merkmale gespeichert und soll bis 2020 die älteren Versionen der NIC vollständig ersetzen (PI 1.2019). Eine SNIC wird benötigt, um beispielsweise Führerschein oder Reisepass zu beantragen, ein Bankkonto zu eröffnen und eine SIM-Karte oder Breitbandinternet zu erhalten (PI 1.2019; vgl. NADRA o.D.).
Weitere durch NADRA ausgestellte Dokumente sind die Pakistan Origin Card (POC) für ausländische Staatsbürger, die früher pakistanische Staatsangehörige waren bzw. deren Eltern oder Großeltern pakistanische Staatsbürger sind oder waren; National Identity Card for Overseas Pakistanis (NICOP) für Pakistani im Ausland, Emigranten oder Personen mit Doppelstaatsbürgerschaft; Child Registration Certificates (CRC) für alle Personen unter 18 Jahren (NADRA o.D.).
Dokumentenfälschungen sind in Pakistan ein weit verbreitetes Phänomen, v.a. von manuell angefertigten Dokumenten (ÖB 10.2018). Angesichts weit verbreiteter Korruption und des unzureichenden Zustands des Zivilstandswesens ist es einfach, fiktive oder verfälschte Standesfälle (Geburt, Tod, Eheschließung) in ein echtes Personenstandsregister eintragen zu lassen und auf der Basis dieser Eintragung formal echte Urkunden ausgestellt zu bekommen. Merkmale auf modernen Personenstandsurkunden und Reisepässen zur Erhöhung der Fälschungssicherheit können bereits bei der Dateneingabe durch korruptionsanfällige Verwaltungsbeamte mühelos unterlaufen werden (AA 21.8.2018; vgl. ÖB 10.2018).
Weit verbreitet sind außerdem gefälschte akademische Diplome, Bankunterlagen, Übereinkünfte, Referenzen und Eigentumsnachweise (IRB 14.1.2015; vgl. ÖB 10.2018). Es ist problemlos möglich, ein (Schein-) Strafverfahren gegen sich selbst in Gang zu bringen, in dem die vorgelegten Unterlagen (z.B. „First Information Report“ oder Haftverschonungsbeschluss) formal echt sind. Auch ist es möglich, religiöse Fatwen gegen sich selbst fälschen oder erstellen zu lassen bzw. Zeitungsartikel, in denen eine Verfolgungssituation geschildert wird, gegen Bezahlung oder dank Beziehungen veröffentlichen zu lassen. Die Ausführungen und Erklärungen zu einer geltend gemachten Verfolgung aus politischen oder religiösen Gründen halten einer Nachforschung vor Ort häufig nicht stand (AA 21.8.2018).
[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]
Lashkar-e Jhangvi (LeJ)
LeJ ist eine militante Deobandi-Gruppe, die 1996 gegründet wurde, als sich eine Reihe von Militanten unter der Führung von Riaz Basra, Akram Lahori und Malik Ishaq von der Sipah-e-Sahaba (SSP) Pakistan abspalteten. LeJ ist keine politische Partei, sondern eine rein paramilitärische Organisation. Einige behaupten, dass seine Gründung 1994 durch die Gründung von Sipah-e-Mohammed Pakistan (SMP) veranlasst wurde, einer schiitischen militanten Gruppe, welche die Führer der SSP ins Visier nahm. Im September 2018 stellte USDOS fest, dass LeJ als militanter Flügel der SSP gegründet wurde, um die schiitische Gemeinschaft anzugreifen, und dass diese unabhängig wurde, als es mehr Kompetenz erlangte. USDOS erklärte, LeJ arbeite eng mit dem TTP zusammen. LeJ wurde offen vom pakistanischen Geheimdienst ISI unterstützt, der die Gruppe als Stellvertreter in Afghanistan und Indien nutzte, um schiitische militante Gruppen in den Jahren 2000 und 2001 zu bekämpfen. LeJ wurde 2001 von der pakistanischen Regierung verboten und 2003 auf die US-Terrorliste gesetzt. Ihre gewalttätigen Untergrundaktivitäten wurden fortgesetzt, insbesondere gegen Schiiten und Mitglieder der Hazara-Gemeinschaft in Quetta.
Obwohl der Großteil der von LeJ eingesetzten Gewalt gegen Shias gerichtet ist, kultivierte die Organisation auch eine radikale Haltung gegen Christen, Ahmadi und Sufi-Muslime. Eine beträchtliche Anzahl der Führung von LeJ wurde entweder getötet, einschließlich Malik Ishaq im Jahr 2015, oder im Jahr 2017gefangen genommen, wie Naeem Bukhari. Am 19. Januar 2017 wurde LeJs Kommandant Asif Chuto bei einem Zusammentreffen mit den Strafverfolgungsbehörden getötet. Im Mai 2018 töteten Sicherheitskräfte den Kommandeur von LeJ’s Balochistan Kapitel Salman Badeni.
Laut PIPS hatte LeJ 2018 seine operative Stärke weiter verloren. Laut PIPS war LeJ für sieben „terroristische Angriffe“ im Jahr 2018 in Pakistan verantwortlich, verglichen mit zehn solcher Angriffe im Jahr 2017. Sechs dieser Angriffe fanden in Balochistan und einer in KP statt. Seine Haupttätigkeitsgebiete sind die Provinz Punjab, das Gebiet der ehemaligen FATA, Karatschi und die Provinz Balochistan.
(Beweisquelle: EASO Pakistan Security Situation, Oktober 2019)
2. Beweiswürdigung:
Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf den Verwaltungsverfahrensakt des BFA, den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes und das Ergebnis der durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt.
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers (oben 1.1)
Die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, die er im Zuge des Verfahrens vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, waren auf Grund seiner Orts- und Sprachkenntnisse nicht zu bezweifeln. Die Identität des Beschwerdeführers aus dem pakistanischen Reisepass, und dem von den pakistanischen Behörden ausgestellten Heimreisezertifikat (VwA1 AS 325-327; VwA2 AS 75, 77).
2.2. Zu den Lebensverhältnissen in Österreich (oben 1.2)
Seine Angaben zu seinem Aufenthalt in Österreich, zu seiner aktuellen Lebenssituation, zu seinem sozialen und beruflichen Engagement, zu seinem nunmehrigen Lebensmittelpunkt, seinen sozialen Kontakten und Freundschaften und den gemeinsamen Aktivitäten erwiesen sich als umfangreich, detailreich und widerspruchsfrei, sie wurden durch die von ihm vorgelegten Bescheinigungen zum Nachweis seiner bereits gesetzten Integrationsschritte (Zeugnis, Schreiben der Arbeitgeber, zahlreiche persönliche Unterstützungsschreiben) auch belegt und stehen auch im Einklang mit den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszügen aus den behördlichen Datenregistern (ZMR, IZR, GVS). Er legte zum Nachweis der erfolgreich absolvierten und zertifizierten Deutschprüfung das entsprechende Zeugnis vor, verstand die ihm in der mündlichen Verhandlung ohne Dolmetscher in deutscher Sprache gestellten Fragen sofort und antwortete auf diese spontan, rasch, flüssig und verständlich in einer freien, zusammenhängenden Erzählung auf Deutsch. Er verstand auch darüber hinaus im gesamten Verlauf der mündlichen Verhandlung die deutschsprachige Konversation, wollte immer wieder auch spontan auf Deutsch antworten, tat dies auch mehrmals, wurde jedoch aus Gründen der Vorsicht vom Bundesverwaltungsgericht angehalten, die Übersetzung in seine Sprache abzuwarten und auch in seiner Muttersprache zu antworten. Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem unverdächtigen Strafregisterauszug.
2.3 Zum Gesundheitszustand (oben 1.3)
Die Feststellungen zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen beruhen auf den im Verfahren vom BFA ermittelten sowie vorgelegten nachvollziehbaren, schlüssigen und folgerichtigen Befunden, Stellungnahmen und Bestätigungen, die von einer allgemein beeideten gerichtlich zertifizierten Sachverständigen, einer anerkannten Einrichtung für Folteropfer, von Fachärzten, Psychologen und Psychotherapeuten stammen. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen waren schließlich auch in der mündlichen Verhandlung festzustellen (VwA2 AS 31 ff; 169 ff; 253; OZ 2, 4, 10; VS 23.07.2020).
2.4 Zum Ausreisegrund (oben 1.4)
Das Vorbringen des Beschwerdeführers zu den von ihm erlebten und geschilderten Ereignissen in Pakistan ist nach der durchgeführten mündlichen Verhandlung am 23.07.2020 glaubhaft.
Der Beschwerdeführe war in der Verhandlung in der Lage ein detailliertes und komplexes geschehen darzustellen und die Entwicklung der Ereignisse über mehrere Jahre hinweg schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei zu erzählen. Der Beschwerdeführer schilderte den als Sachverhalt festgestellten Ausreisegrund unter Verwendung direkter Reden, wie XXXX (VS 23.07.2020, S 10), und XXXX (VS 23.07.2020, S 13); er beließ es bei der Beantwortung der Frage nach seiner zweiten Entführung nicht bei der Erzählung der unmittelbaren Entführung selbst, sondern er schilderte XXXX (VS 23.07.2020, S 11/12). Er berichtete von Handlungskomplikationen, wie XXXX (VS 23.07.2020, S 12), er verbesserte sich spontan selbst während seiner Erzählung über XXXX (VS 23.07.2020, S 13), er versuchte, die XXXX (VS 23.07.2020, S 10). Er wechselte auch während seiner Angaben in der Verhandlung immer wieder spontan in die deutsche Sprache, wenn es ihm wichtig war, dass er genau verstanden wird und er etwas selbstständig erklären wollte. (zB VS 23.07.2020, S 12) Das Vorbringen weist somit eine mehr als ausreichende Anzahl an Glaubhaftigkeitsmerkmalen auf (vgl dazu bspw Hermanutz/Litzcke/Kroll, Adler, Polizeiliche Vernehmung und Glaubhaftigkeit3, S 42 ff), das Vorbringen in der Verhandlung korrelierte auch immer wieder stimmig mit emotionalen, mentalen und körperliche Veränderungen und Gesten des Beschwerdeführers (zB VS 23.07.2020, S 9).
Schließlich war das Vorbringen des Beschwerdeführers selbst für den Vertreter des BFA in der mündlichen Verhandlung schlüssig und nachvollziehbar. (VS 23.07.2020 S 14)
Aus diesen Gründen kommt dem einzigen Punkt, der zunächst gegen die Glaubhaftigkeit gesprochen hätte, nämlich der Umstand, dass der Beschwerdeführer dieses Vorbringen nicht bereits in seinem ersten Asylverfahren und in der Einvernahme vor dem BFA im gegenständlichen Verfahren sondern erst im Zuge des Beschwerdeverfahrens in dieser Art und Weise geschildert hat, keine Bedeutung zu, XXXX
Das Bundesverwaltungsgericht gelangt daher zu der Überzeugung, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen glaubhaft ist und der Beschwerdeführer das von ihm im Beschwerdeverfahren Geschilderte tatsächlich durchleben musste.
2.5 Zu den Länderfeststellungen (oben 1.5)
Die getroffenen Feststellungen zu den Verhältnissen in Pakistan (oben 1.5) beruhen auf dem aktuellsten Länderinformationsblättern des BFA zu Pakistan vom Mai 2019 sowie auf dem zitierten Bericht von EASO vom Oktober 2019. Die herangezogenen Berichte stammen nicht nur von staatlichen, sondern auch von nichtstaatlichen Einrichtungen und internationalen Medien. Angesichts der Ausgewogenheit und Seriosität der genannten Quellen sowie der Plausibilität der weitestgehend übereinstimmenden Aussagen darin, besteht für das Bundesverwaltungsgericht daher kein Grund, an der Richtigkeit der Länderberichte zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
Zum Status eines Asylberechtigten (§ 3 AsylG 2005)
3.1 Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ist die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (VwGH 02.09.2015, Ra 2015/19/0143).
3.2 Zentraler Aspekt der in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).
3.3 Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen. (VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009)
Zum gegenständlichen Fall
3.4 Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt wurde der Beschwerdeführer bereits vor seiner Ausreise aufgrund seiner religiösen Überzeugung und Betätigung für die genannte schiitische Hilfsorganisation von sunnitischen Extremisten verfolgt, entführt und schwerstens gefoltert. An den physischen und psychischen Folgen der Folterungen leidet er noch heute in erheblichem Ausmaß. XXXX
XXXX Es ist dem Beschwerdeführer nach der Judikatur des EuGH nicht zuzumuten, auf diese Ausübung bei einer Rückkehr in seine Heimat auf diese religiöse Betätigung zu verzichten (EuGH 05.09.2012, C-71/11 und C-99/11). Es ist somit davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer in Pakistan aus Gründen seiner Religion neuerlich ungerechtfertigte Eingriffe von erheblicher Intensität in seine zu schützende persönliche Sphäre drohen, die als maßgeblich wahrscheinlich anzusehen sind. So zeigen die Länderfeststellungen, dass XXXX Für die Frage, ob der Staat ausreichenden Schutz bietet, kommt es maßgeblich darauf an, ob der Asylwerber mit einer "präventiven Verhinderung" seiner Ermordung rechnen könnte und nicht bloß mit der nachträglichen, strafrechtlich "effektiven" Ahndung; auf Letzteres darf er nicht verwiesen werden (vgl VwGH 17.10.2006, 2006/20/0120; 08.09.2009, 2008/23/0027). Damit kann der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nach den soeben getroffenen Ausführungen gerade nicht rechnen, zumal der Beschwerdeführer bei der XXXX seit Jahren einen hohen Bekanntheitsgrad hat und damit besonders exponiert ist. Sich versteckt zu halten, ist dem Beschwerdeführer auf Dauer nicht zumutbar. Die soeben dargestellten Faktoren führen in Kombination im vorliegenden Einzelfall daher zu dem Ergebnis, dass für den Beschwerdeführer aufgrund der speziellen Konstellation auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht.
Es ist daher objektiv nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer aus Furcht vor ungerechtfertigten Eingriffen von erheblicher Intensität aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Grund, nämlich aufgrund seiner religiösen Überzeugung nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes seines Herkunftsstaates zu bedienen.
3.5. Im Verfahren haben sich schließlich keine Hinweise auf die in Artikel 1 Abschnitt C und F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- und Ausschlussgründe ergeben.
3.6. Im vorliegenden Fall sind somit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gegeben.
3.7. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.8. Da der verfahrensgegenständliche Antrag auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 gestellt wurde, kommt dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs 4 AsylG damit eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigte zu (§ 75 Abs 24 AsylG 2005).
B)
Revision
3.9. Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da die für den vorliegenden Fall relevante Rechtslage durch die zitierte Rechtsprechung geklärt ist.
3.10. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Asyl auf Zeit asylrechtlich relevante Verfolgung Entführung Flüchtlingseigenschaft Folgeantrag Folter Gesundheitszustand Konversion religiöse Gründe Schutzunfähigkeit des Staates Schutzunwilligkeit des Staates TraumatisierungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:L516.2105985.3.00Im RIS seit
21.01.2021Zuletzt aktualisiert am
21.01.2021