TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/6 W107 2218704-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.11.2020
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Entscheidungsdatum

06.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W107 2218704-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Sibyll BÖCK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Helmut Blum, Mozartstraße 11/6, 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 28.03.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.10.2020 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchpunkte I., II., IV., V., und VI. und VII. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

II. In Erledigung der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids wird dem Antrag vom 05.07.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG stattgegeben und die befristete Aufenthaltsberechtigung des XXXX als subsidiär Schutzberechtigter um zwei Jahre verlängert.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach illegaler und schlepperunterstützter Einreise in das österreichische Bundegebiet als Minderjähriger am 22.05.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 22.05.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des minderjährigen Beschwerdeführers unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt. Hierbei gab er im Wesentlichen an, vier Jahre Grundschule im Heimatdorf in Afghanistan absolviert, aber trotzdem Probleme mit dem Lesen zu haben; aktuell die Kernfamilie (Mutter, zwei Brüder und zwei Schwestern) im Iran, XXXX , aufhältig und der Vater vor eineinhalb Jahren verstorben sei; als Tierzüchter in Afghanistan und als Hilfsarbeiter im Iran gearbeitet zu haben und wegen Grundstücksstreitigkeiten mit dem Onkel nach dem Tod des Vaters und der schlechten Lebensumstände in Afghanistan sowie im Iran geflüchtet zu sein.

3. Am 02.08.2017 fand die niederschriftliche Erstbefragung des minderjährigen Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (In Folge: BFA) unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt. Hier gab er zusammengefasst an, mit Hilfe eines Schleppers aufgrund der Entscheidung seiner Mutter und seines Onkels Afghanistan alleine Richtung Iran und nach mehr als einem Jahr mit Hilfe eines Schleppers Iran Richtung Europa verlassen zu haben. Er habe in Afghanistan seinen Vater in der Landwirtschaft unterstützt und als Hirte gearbeitet, im Iran sei er Hilfsarbeiter auf Baustellen gewesen; er habe bis zu seiner Ausreise gearbeitet. Die Familie sei in Afghanistan reich gewesen, sei hätten ein eigenes Haus und Grundstücke gehabt; nach dem Tod des Vaters habe der Onkel väterlicherseits, XXXX , die Familie versorgt. Der Beschwerdeführer habe aber nur Kontakt zu seinem Onkel mütterlicherseits, dieser lebe im Iran und habe einen „hohen Posten“. In Afghanistan habe er aktuell niemanden.

4. Mit Bescheid des BFA vom 29.08.2017 wurde der Antrag des minderjährigen Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen. Zugleich wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 29.08.2018 erteilt.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt minderjährig sei, wenig Schulbildung und kaum Berufserfahrung aufweise und zudem über keine nachweislichen Verwandten im Herkunftsland verfüge, die ihn unterstützen könnten. Da unter Berücksichtigung der individuellen Umstände nicht davon ausgegangen werden könne, dass der minderjährige Beschwerdeführer alleine für seinen Unterhalt sorgen könne, werde seine Existenzgrundlage auch vor dem Hintergrund der prekären Sicherheitslage in seinem Herkunftsstaat als gefährdet erachtet.

Gegen diesen Bescheid wurde kein Rechtsmittel erhoben.

5. Mit Schreiben vom 22.06.2018 stellte der (nunmehr volljährige) Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung. Der Antrag langte am 05.07.2018 beim BFA ein.

6. Am 03.10.2018 wurde der Beschwerdeführer unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich vor dem BFA einvernommen und zu seiner Situation in Österreich und einer möglichen Rückkehr nach Afghanistan befragt. Der Beschwerdeführer gab – auf das Wesentliche zusammengefasst – an, dass es ihm gut gehe und er weder Medikamente nehme noch in regelmäßiger medizinischer Behandlung stehe. In Afghanistan habe er vier oder fünf Jahre eine Religionsschule besucht, in Österreich nun eine Polytechnische Schule; er habe Deutschkurse absolviert sowie einen Kurs für den Berufseinstieg gemacht. Seit Februar dieses Jahres mache er eine Lehrausbildung als Maurer und verdiene 1.800,- bis 1.900,- Euro. Er bestreite davon seinen Lebensunterhalt und habe eine eigene Wohnung in der Nähe seiner Firma. Seine Eltern seien bereits verstorben, seine Geschwister – zwei Schwestern und zwei Brüder – würden bei seinem Onkel mütterlicherseits in Afghanistan, XXXX , leben; dieser sorge für deren Lebensunterhalt. Zuletzt sei dieser Verkäufer in einem Geschäft für Kleidung gewesen. Den letzten Kontakt zu ihnen habe er vor vier oder fünf Monaten gehabt. Ein Onkel lebe mit seiner Familie im Iran. Der Beschwerdeführer selbst sei ledig und kinderlos, habe kein Verwandten in Österreich aber viele Bekannte. Er habe sowohl österreichische als auch afghanische Freunde und spiele Fußball wie auch Volleyball in einem Verein und habe aus Afghanistan flüchten müssen, weil ihn sein Onkel nicht auch noch aufnehmen könne, die Lage dort unsicher sein, er nicht überleben könne und sich in Afghanistan nicht auskenne.

Der Beschwerdeführer legte im Rahmen seiner Einvernahme vor dem BFA eine Teilnahmebestätigung an einer Bildungsmaßnahme, seinen Lehrvertrag für den Lehrberuf Maurer, ein Einberufungsschreiben zum Berufsschulbesuch und Lohnzettel für die Monate Mai bis Juli 2018 vor. Auf die Aushändigung der Länderfeststellungen durch das BFA verzichtete der Beschwerdeführer.

7. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 28.03.2019 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II), der Antrag vom 05.07.2018 auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt III.) und ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt IV.). Gleichzeitig wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt V.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt VI.). Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte das BFA aus, dass sich die Gründe für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten geändert hätten. Der Beschwerdeführer sei mittlerweile volljährig, habe in Österreich die Schule besucht und Deutschprüfungen abgelegt. Der Beschwerdeführer habe auch an Berufs- und Lebenserfahrung gewonnen, zumal er seit Februar 2018 als Lehrling für den Beruf Maurer tätig sei. Zwar verfüge er nach wie vor über kein familiäres Netzwerk in den als sicher einzustufenden Provinzen Afghanistans, jedoch handle es sich hierbei um keine zwingende Voraussetzung für das Vorliegen einer innerstaatlichen Schutzalternative, da es sich bei dem Beschwerdeführer um einen gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann handle, der für sich selbst sorgen könne. Zudem habe er in der Einvernahme am 03.10.2018 XXXX als Aufenthaltsort seiner Geschwister und seines Onkels genannt und angegeben, zu diesen zuletzt vor vier oder fünf Monaten Kontakt gehabt zu haben, weshalb die Situation im Vergleich zum Zeitpunkt der Schutzzuerkennung nicht mehr dergestalt sei, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan über keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte verfüge.

8. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den ausgewiesenen Rechtsvertreter, vollumfängliche Beschwerde. Mit der Beschwerde wurden weitere Integrationsunterlagen des Beschwerdeführers (eine Schulbesuchsbestätigung und ein Jahreszeugnis der Berufsschule Freistadt sowie eine Teilnahmebestätigung an einem Orientierungskurs), Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan aus Dezember 2016 und das in der Beschwerde zitierte Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018 vorgelegt.

9. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

10. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.08.2019, ZI. W107 2218704-1/5E, wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer sei mittlerweile volljährig und aufgrund seiner Lehrausbildung sowie des eigenen Einkommens selbsterhaltungsfähig. Aufgrund der gewonnenen Lebens- und Berufserfahrung sowie angesichts der vor Ort lebenden Verwandten sei er nicht mehr in der Situation, die im Vorbescheid für ihn angenommen worden sei, weshalb von einer zumutbaren (Neu-) Ansiedlung des Beschwerdeführers in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif auszugehen sei.

12. Gegen dieses Erkenntnis erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den im Spruch ausgewiesenen Rechtsvertreter, Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof verbunden mit einem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.

13. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom 20.09.2019, E 3494/2019-5, wurde dem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung Folge gegeben.

14. Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 25.02.2020, ZI. E3494/2019-10, wurde das angefochtene Erkenntnis aufgehoben und begründend im Wesentlichen ausgeführt, das Bundesverwaltungsgericht habe keine genauen Feststellungen zum Alter des Beschwerdeführers im Zeitpunkt seiner Abreise aus Afghanistan getroffen, zumal der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben schon mit zwölf Jahren weggegangen sei, gemäß den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts aber erst mit vierzehn Jahren. Dies wäre jedoch notwendig gewesen, um zu prüfen, ob der Beschwerdeführer aufgrund seines jungen Alters unter die im EASO-Leitfaden vom Juni 2018 genannte Personengruppe falle, der nur in Ausnahmefällen eine innerstaatliche Fluchtalternative ohne soziales Netzwerk zumutbar sei. Zudem habe sich das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf das Bestehen eines Unterstützungsnetzwerkes in Afghanistan nicht mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt. Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung sei verabsäumt worden, den Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers im Rahmen einer Abwägung nach Art. 8 EMRK angemessen zu würdigen. Schließlich habe das Bundesverwaltungsgericht auch nicht näher begründet, weshalb es davon ausgehe, dass der Beschwerdeführer nach wie vor stärkere Bindungen zu seinem Herkunftsstaat aufweise und habe außer Acht gelassen, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Einreise nach Österreich erst fünfzehn Jahre alt gewesen sei.

15. Mit Schreiben vom 25.03.2020 gab der ausgewiesene Rechtsvertreter (erneut) seine Vollmacht bekannt.
16. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.10.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und des ausgewiesenen Rechtsvertreters des Beschwerdeführers eine öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu einer möglichen Rückkehr nach Afghanistan sowie seinem Leben in Österreich befragt und sein Arbeitgeber als Zeuge einvernommen wurde. Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen. Im Rahmen der Verhandlung legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor (VP, Beilage ./1).

Bereits mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde den Parteien das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019 übermittelt. Zudem wurde in der Verhandlung die aktuellste, am Tag der Verhandlung verfügbare Version des Länderinformationsblatts zu Afghanistan (Stand: 13.11.2019, in der Fassung der Kurzinformationen vom 21.07.2020) in das Verfahren eingeführt. Der Beschwerdeführer verzichtete im Beisein seiner Rechtsvertretung ausdrücklich auf eine Aushändigung der aktuellen LIB. Der ausgewiesene Rechtsvertreter gab im Rahmen der mündlichen Verhandlung eine Stellungnahme zum aktuellen LIB ab.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA und den hg. Akt betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Einvernahme eines Zeugen sowie durch Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten, aktualisierten Länderberichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers sowie zu seinem Leben in Afghanistan und Österreich:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist (nunmehr) volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Seine Muttersprache ist Dari. Er kann in Dari lesen und schreiben. Zudem spricht er etwas Englisch, Paschto und verfügt über gute Sprachkenntnisse in Persisch, er spricht mittlerweile auch gut Deutsch. Der Beschwerdeführer ist der Volksgruppe der Hazara zugehörig und bekennt sich zur schiitischen Glaubensgemeinschaft des Islam. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Dorf XXXX , geboren und wuchs dort im Verband seiner Familie (seinen Eltern, zwei jüngeren Brüdern und zwei jüngeren Schwestern) auf. Die Familie war lebte in einem eigenen Haus und besaß Grundstücke sowie Vieh (Schafe, Kühe und Ziegen). Mit etwa dreizehn Jahren reiste der Beschwerdeführer alleine in den Iran. Dort lebte er illegal für etwa ein Jahr in der Stadt XXXX bei einem Onkel mütterlicherseits namens XXXX ; dieser wohnte mit seiner Familie in einer Mietwohnung und arbeitete bei einer Steinschneidefirma, wo auch der Beschwerdeführer tätig war. In Folge ging der Beschwerdeführer alleine in die Stadt XXXX , Iran, und lebte dort einige Monate mit anderen Afghanen; er arbeitete in XXXX als Fliesenleger. Anschließend kehrte der Beschwerdeführer zurück nach XXXX , lebte dort für „einige Zeit“ wieder bei seinem Onkel und reiste dann von dort über die Türkei nach Europa.

Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan, XXXX , vier bis fünf Jahre eine Koranschule. Die Familie lebte von der Landwirtschaft. Neben der Schule unterstützte er seinen Vater in der Landwirtschaft und war als Hirte tätig. Während seines Aufenthalts im Iran besuchte der Beschwerdeführer keine Schule; er arbeitete jedoch während seines gesamten Aufenthalts im Iran: er war dort in einer Steinschneidefirma tätig und arbeitete als Fliesenleger.

Die Eltern des Beschwerdeführers sind bereits verstorben. Er hat zwei jüngere Brüder und zwei jüngere Schwestern, die nach wie vor minderjährig sind. Die Geschwister lebten bis zum Tod der Mutter des Beschwerdeführers vor zwei Jahren bei XXXX , einem Onkel mütterlicherseits, in XXXX , XXXX , XXXX . Der Onkel arbeitete als Verkäufer in einem Kleidungsgeschäft, ist aber im Krieg gestorben. Der Beschwerdeführer weiß nunmehr, dass seine Geschwister in Afghanistan leben, eine Kontaktaufnahme scheiterte. Zu seinem Onkel im Iran hat der Beschwerdeführer aktuell nur sporadischen Kontakt.

Ein Onkel des Beschwerdeführers namens XXXX lebt in Kabul und ist laut Angaben des Beschwerdeführers drogenabhängig. Der Beschwerdeführer verfügt auch über Verwandte in Indonesien, der Türkei und dem Iran, mit denen er aber nicht in Kontakt steht.

Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan, insbesondere in den Städten Herat und Mazar-e Sharf, über kein soziales Netzwerk verfügt, das ihn im Falle einer Rückkehr unterstützen würde.

Der Beschwerdeführer reiste als Minderjähriger von Afghanistan alleine illegal in den Iran und mithilfe eines Schleppers gemeinsam mit weiteren Flüchtlingen über die Türkei, Serbien und Ungarn nach Europa.

Der Beschwerdeführer reiste als Minderjähriger illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte hier im Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hält sich seit Ende Mai 2015 durchgehend in Österreich auf. Er besuchte mehrere Deutsch-Sprachkurse und bestand die ÖSD-Sprachprüfung bis (inklusive) Niveau A2.

Der Beschwerdeführer nahm als Minderjähriger kurz nach seiner Einreise ab November 2015 bis November 2016 an der Bildungsveranstaltung „Grundbildung – Fokus Deutsch“ teil, absolvierte im Juni 2017 den Lehrgang „Übergangsstufe für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch“ und besuchte Orientierungskurse des Berufsförderungsinstituts. Seit Februar 2018 absolviert er eine dreijährige Lehre im Mangelberuf „Maurer“ bei der Firma XXXX in Schwertberg. Der Beschwerdeführer leistet dort – nach sprachlichen Anfangsschwierigkeiten - sehr gute Arbeit und wird von seinem Arbeitgeber wegen seines großen Lernwillens, seines Eifers und seiner Zuverlässigkeit überaus geschätzt (VP.S. 8). Der Beschwerdeführer verfügt von diesem Arbeitgeber über eine Einstellungszusage, da er den Beschwerdeführer nach dessen Lehrabschluss im Februar 2021 – unabhängig vom Ausgang der Lehrabschlussprüfung - weiterhin beschäftigen will, weil es schwierig sei, gute Leute zu bekommen (VP.S.8). Der Beschwerdeführer bezieht für seine Tätigkeit als Maurerlehrling ein monatliches Nettoeinkommen zwischen EUR 1.800,- und 1.900,-. Er besucht die Berufsschule in Freistadt und hat die ersten beiden Berufsschuljahre positiv abgeschlossen (./1). Im Juni 2019 nahm er auch an der zwischenbetrieblichen Lehrlingsausbildung der Bauakademie Oberösterreich teil (./1). Dem Beschwerdeführer wird besonders gute Integration attestiert.

Der Beschwerdeführer bezieht seit Mai 2018 keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Er bewohnt seit April 2018 alleine eine Mietwohnung; davor lebte er mit einem afghanischen Mitbewohner zusammen. Die Mietkosten in Höhe von EUR 500, -- bestreitet er selbst.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich zahlreiche österreichische als auch afghanische Freunde und spielt in seiner Freizeit Fußball und Volleyball in einem Verein in XXXX ; zudem macht er Fitness. Eine ehrenamtliche Beschäftigung ist nicht hervorgekommen.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten oder Familienangehörigen. Er hat eine österreichische Lebensgefährtin names XXXX , ein gemeinsamer Haushalt besteht nicht, ebensowenig besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zu einer in Österreich aufhältigen Person.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Er ist strafrechtlich unbescholten.

Mit Bescheid des BFA vom 29.08.2017 wurde dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Minderjährigkeit, seiner mangelnden Schulbildung und Berufserfahrung sowie mangels feststellbarer sozialer Anknüpfungspunkte in Afghanistan rechtskräftig der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

Der Beschwerdeführer stellte am 05.07.2018 einen (ersten) Antrag auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter, woraufhin ein Verfahren zur Überprüfung des Schutzstatus eingeleitet wurde.

Mit gegenständlich angefochtenen Bescheid des BFA wurde dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan von Amts wegen aberkannt, die ihm erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung entzogen, der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung ausgesprochen. Die Aberkennung des subsidiären Schutzes wurde mit dem Vorliegen einer zumutbaren innerstaatlichen Schutzalternative in Herat oder Mazar-e Sharif aufgrund einer Änderung der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers infolge der zwischenzeitlich eingetretenen Volljährigkeit sowie der gewonnenen Bildung, Berufs- und Lebenserfahrung des Beschwerdeführers sowie aktueller Verwandter im Herkunftsstaat begründet.

Festgestellt wird, dass sich die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes mit Bescheid vom 29.08.2017 geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten insgesamt nicht wesentlich und nachhaltig verändert bzw. verbessert haben: der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat aktuell keine familiären Anknüpfungspersonen, die finanziell leistungsfähig wären, sodass von einer belastbaren Unterstützungsmöglichkeit diesbezüglich nicht ausgegangen werden kann.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Bezogen auf die Situation des Beschwerdeführers sind folgende Länderfeststellungen zu treffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 mit Kurzinformationen bis einschließlich 21.07.2020):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020). Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

• Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

• Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019). Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliba

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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