TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/11 W214 2196081-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.11.2020
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Entscheidungsdatum

11.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W214 2196081-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Eva SOUHRADA-KIRCHMAYER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Iran, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX .04.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein iranischer Staatsangehöriger und Zugehöriger der Volksgruppe der Luren (Lor), stellte am XXXX .11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung am selben Tag gab der Beschwerdeführer an, im November 2015 sein Heimatland legal in die Türkei verlassen zu haben, anschließend sei er über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass er im Iran mit Leuten kritisch über den Islam gesprochen habe, woraufhin er von der Polizei sowie von anderen – unter dem Einfluss eines Mullahs stehenden – Personen bedroht worden sei. Aus diesem Grund habe der Beschwerdeführer den Iran verlassen.

Mit Schreiben vom 22.03.2016 legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Kopien iranischer Zertifikate samt Übersetzungen (nationale Identifikationskarte, Geburtsurkunde und mehrere Zertifikate hinsichtlich seiner Ausbildung) vor.

Am 20.09.2016, 06.12.2016, 10.01.2017 und zu einem weiteren Zeitpunkt vor der Einvernahme legte der Beschwerdeführer u.a. Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen, am Erste-Hilfe-Kurs, am Werte- und Orientierungskurs, am Seminar „Abfalltrennung und Abfallvermeidung“ sowie am Vortrag „Miteinander in XXXX – Präventive Werte-, Verhaltens- und Rechtsvermittlung für AsylwerberInnen“, eine Arbeitsbetätigung hinsichtlich der Reinigungsarbeiten in einem Flüchtlingsheim und eine Bestätigung hinsichtlich gemeinnütziger Tätigkeiten in einem Flüchtlingsheim vor.

Am XXXX .02.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich einvernommen.

Im Zuge der Einvernahme legte der Beschwerdeführer neben bereits vorgelegten Unterlagen einen iranischen Handelskammerausweis und ein Empfehlungsschreiben der XXXX vor.

Der Beschwerdeführer gab zunächst an, am XXXX in der Stadt XXXX in der Provinz Chuzestan im Iran geboren und Angehöriger der Volksgruppe der Luren sowie schiitischer Moslem zu sein. Er habe zwölf Jahre lang die Schule besucht und anschließend vier Jahre lang an der Universität studiert. In weiterer Folge sei er sieben Jahre lang in der Marketingbranche, sechs Jahre lang als selbstständiger Import-/Exporteur und etwa zwei Jahre lang als Büroangestellter tätig gewesen. Der Vater, die Mutter, zwei Brüder sowie vier Schwestern des Beschwerdeführers seien aktuell in der Stadt XXXX aufhältig.

Befragt nach seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass er im Iran offen über Religionen gesprochen und erzählt habe, dass jeder sein Recht auf Religionsausübung haben sollte, unabhängig davon, zu welcher Religion man gehöre. Im Iran gebe es eine Organisation namens Basiji, die für die Regierung Leute überwachen würde und falls sich jemand kritisch gegenüber der Religion oder der Regierung äußere, werde er denunziert. Da der Beschwerdeführer zu offen über die Religion und die Gesetze gesprochen habe, sei er sowie seine Familie mehrmals seitens der Basiji bedroht worden. Im Sommer 2011 hätten Mitglieder der Basiji sein Büro gestürmt, im Jahr 2013 sei auch seine Familie bedroht worden. Trotzdem habe der Beschwerdeführer versucht im Iran weiter zu leben und gehofft, dass sich die Lage beruhigen würde. Seinen Glauben könne er dort nicht leben, es werde nicht zugelassen, dass er offen spreche und er sei nie in Ruhe gelassen worden.

Befragt zu seiner Konversion zum Christentum gab der Beschwerdeführer an, seit vier Monaten die freie Evangelikale Kirche XXXX zu besuchen. Davor habe er zwei Mal wöchentlich eine andere Gemeinde besucht, jedoch habe er gemerkt, dass ihm die Gemeinde nicht so am Herzen liegen würde und dann habe er den Pastor der XXXX , getroffen. Der Beschwerdeführer habe sich bereits im Iran für das Christentum interessiert, als er dann in Österreich gewesen sei, habe er gesehen, dass die Leute sehr nett zu ihm gewesen seien. Zudem habe er den christlichen Glauben im Gegensatz zum Islam als „ohne Zwang“ erlebt, weswegen er sich entschlossen habe, Christ zu werden. Nun besuche er sonntags regelmäßig die Kirche und lese die Bibel. Im Falle der Rückkehr in den Iran würde er Probleme mit der Polizei bzw. den Behörden bekommen, weil er konvertiert sei.

Weiters wurde dem Beschwerdeführer eine (einzige) Wissensfrage zum Christentum gestellt, die er korrekt beantworten konnte.

Mit Schreiben vom 05.03.2018 und vom 12.03.2018 legte der Beschwerdeführer seine Taufurkunde vom 03.03.2018 sowie Kopien von Fotos seiner Taufe vor.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowie auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung in den Iran zulässig sei (Spruchpunkt V.) und setzte eine Frist von 14 Tage für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Entscheidung (Spruchpunkt VI.).

Die belangte Behörde stellte neben allgemeinen herkunftsbezogenen Länderfeststellungen fest, dass der Beschwerdeführer iranischer Staatsangehöriger, Zugehöriger der Volksgruppe der Luren und Moslem sei. Er sei in der Stadt XXXX geboren und aufgewachsen. Der Beschwerdeführer sei ledig und habe keine Kinder.

Nicht festgestellt werden konnte von der belangten Behörde, dass der Beschwerdeführer mit den Behörden seines Heimatstaates Probleme gehabt habe sowie, dass er durch Dritte persönlich bedroht worden sei. Insbesondere habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner angeblichen Konversion einer Verfolgung durch die iranischen Behörden ausgesetzt gewesen sei.

Beweiswürdigend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt ein massiv gesteigertes Vorbringen ausgeführt habe. Als er zur Korrektheit seiner Angaben bei der Erstbefragung befragt worden sei, habe er angegeben, dass diese zwar durchaus, von kleineren Fehlern bei den Daten seiner Verwandten abgesehen, korrekt protokolliert, aber vergessen worden sei zu protokollieren, dass er sich bereits im Iran für das Christentum interessiert habe. Dies werde auch durch die vom Beschwerdeführer im weiteren Verlauf der Einvernahme selbst geschilderte behauptete „Auseinandersetzung mit dem Christentum“ unterstrichen, die darin bestanden habe, dass er unmittelbar vor seiner Ausreise in Teheran in einem Park einer Frau zufällig begegnet sei, die ihn in groben Zügen über das Christentum informiert habe. Die Wahrscheinlichkeit, in einem Park in Teheran spontan von einer Fremden angesprochen zu werden, die einen nicht einmal halbherzigen Missionierungsversuch unternehmen würde, sei als vollkommen unglaubhaft anzusehen. Die Behörde sehe sich auch dadurch in dieser Annahme bestärkt, dass die verbreitete Existenz von Sittenwächtern im Iran, die selbstverständlich auch in Parks kontrollieren würden, ein solches Verhalten vollkommen unnachvollziehbar mache.

Weiters habe der Beschwerdeführer in keiner Weise glaubhaft darlegen können, dass er sich aufgrund einer ernsthaften und tiefen inneren Zuwendung dem Christentum zugewandt habe. Im Gegenteil sei bei Gesamtbetrachtung in seinem Fall von einer klar erkennbaren Scheinkonversion auszugehen, deren einziger Zweck die Asylerlangung sei. Der Beschwerdeführer sei bei der Einvernahme gefragt worden, wie es dazu gekommen sei, dass er in 27 Monaten im stark katholisch geprägten Tirol zwar den Weg zu einer der zahlreichen und unübersehbaren katholischen oder protestantischen Kirchen nicht gefunden, aber sich dann vier Monate vor der Einvernahme der XXXX zugewandt habe. Er habe daraufhin geschildert, dass dies auf Empfehlung bzw. Auskunft anderer Asylwerber geschehen sei, weil bei den Freikirchen viele persisch-sprachige Leute seien. Sowohl die Diözese XXXX als auch die Erzdiözese XXXX der römisch-katholischen Kirche beispielsweise würden Taufkurse und Glaubensunterweisungen auch auf Farsi anbieten. Diese würden mindestens zwölf Monate dauern und ein arbeitsreiches, engagiertes und intensives Auseinandersetzen mit der christlichen Lehre und dem Glauben verlangen. Dem Bundesamt sei bewusst, dass im Vergleich dazu ein zwölfwöchiger Schnellkurs, in dem man von Farsi-sprachigen, ohne erkennbare größere Tiefe zum Christentum zu entwickeln, das – fehlerhafterweise – gedachte verfahrensrelevante Kriterium einer „Taufbescheinigung“ um einiges arbeitsärmer, sicherer und schneller erhalten könne, um einiges attraktiver sei. Wenn dann jedoch sogar dieser Weg noch abgebrochen werde und man sogar noch von einer der im Rahmen der Freikirchen zumindest anerkannten freikirchlichen Gemeinde zum – als Kirche nicht anerkannten – privaten Verein der XXXX wechsle, sei dies im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit des vorgebrachten Konversionsansinnes nicht unbedingt bestätigend, auch im Hinblick auf die Tatsache, dass seine Betätigung dort sich beginnend nach beinahe zwei Jahren Aufenthalt auf die vier Monate vor seiner Einvernahme beschränke.

Auch das Erfordernis der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde von der belangten Behörde verneint, im Fall des Beschwerdeführers seien keine Gründe ersichtlich, dass er im Falle einer Rückkehr in den Iran in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse einer lebensbedrohenden Gefährdung iSd Art. 2 oder 3 EMRK ausgesetzt wäre. Die aktuelle Lage im Iran stelle sich derzeit nicht so dar, dass bereits ein generelles Abschiebehindernis bzw. eine generelle Gefährdung aus Sicht der EMRK gegeben sei.

Da die Gründe für eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 nicht vorlägen, wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen ebenfalls nicht erteilt.

Weiters erließ die belangte Behörde eine Rückkehrentscheidung und führte hierzu aus, dass diese zulässig sei, weil der Beschwerdeführer dadurch nicht in seinem Recht auf Familien- oder Privatleben verletzt sei. Er sei in Österreich lediglich aufgrund des anhängigen Asylverfahrens zum Aufenthalt berechtigt und mangels eines über dem Existenzminimum gemäß § 291a der Exekutionsordnung 1896, RGBl. Nr. 79/1896 idgF, liegenden, regelmäßigen und legalen Einkommens und sonstiger Hinweise auf eine Verfestigung in Österreich und vor allem aufgrund eines nicht mehr als dreijährigen Aufenthaltes könne eine auch nur ansatzweise tiefgehende Integration nicht erkannt werden. Die Rückkehrentscheidung sei daher nach
§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG zulässig.

Die Abschiebung in den Iran sei auch zulässig, da keine Hinderungsgründe des § 50 FPG vorlägen und habe die Ausreise des Beschwerdeführers binnen 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides zu erfolgen (§ 55 FPG).

Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 18.05.2018 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und führte (nach Wiederholung des Sachverhalts und des Vorbringens bei der Einvernahme vor der belangten Behörde) im Wesentlichen aus, dass ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren vorliege, weil die belangte Behörde es unterlassen habe, an den Beschwerdeführer weiterführende Fragen zu seinem Glaubenswechsel zu stellen. Die belangte Behörde habe es dahingehend bei einer sehr kurzen, oberflächlich gehaltenen Überprüfung betreffend die Kenntnisse des Beschwerdeführers zum Christentum belassen, ohne die innere Überzeugung tatsächlich näher in Prüfung zu ziehen. Zudem gehe die belangte Behörde in der angefochtenen Entscheidung von der Unglaubwürdigkeit der behaupteten Konversion des Beschwerdeführers aus und stütze sich dabei auf – die Behauptung – der mangelnden Plausibilität der Aussagen des Beschwerdeführers und bezeichne das Vorbringen der Zugehörigkeit zum christlichen Glauben als gesteigert, ohne jedoch die vorgebrachte Glaubensüberzeugung einer geforderten Gesamtbetrachtung zuzuführen und ohne die Pfarrgemeinde (christliche Freikirche XXXX ) einzubinden, um Auskünfte (in der Pfarrgemeinde) zur Ernsthaftigkeit der Hinwendung zum Christentum und den religiösen Aktivitäten des Beschwerdeführers einzuholen. Überdies seien die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen unvollständig. Sie würden zwar allgemeine Aussagen über den Iran beinhalten, würden sich jedoch nicht im ausreichenden Maß mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers – dem Abfall vom Islam – befassen und seien dadurch als Begründung zur Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz unzureichend.

Hinsichtlich der Zuwendung des Beschwerdeführers zum christlichen Glauben, die von der belangten Behörde als nicht glaubhaft erachtet worden sei, sei auszuführen, dass die Behörde diesbezüglich eine schlüssige und nachvollziehbare Begründung für diese Annahme schuldig geblieben sei. Sofern die belangte Behörde beweiswürdigend ausführe, dass der Beschwerdeführer keine nachvollziehbaren Motive darlegen habe können, die eine Abkehr vom bisherigen und eine Hinwendung zum neuen Glauben zu erklären geeignet seien, wäre es diesfalls an der belangten Behörde gelegen, weitergehende Ermittlungen durchzuführen. Weiterführende Fragen wie etwa, was letztlich ausschlaggebend für den Entschluss des Beschwerdeführers, tatsächlich zu konvertieren, gewesen sei, seien nicht gestellt worden.

Wie der Beschwerdeführer bereits in der Einvernahme ausgeführt habe, besuche er jeden Sonntag die Kirche und vertiefe sein Wissen um das Christentum in Gesprächen mit dem Pastor der Glaubensgemeinde sowie durch selbständige Bibelstudien. Die belangte Behörde wäre jedenfalls dazu angehalten gewesen, sich mit diesem Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner Teilnahme am religiösen Leben bzw. über seine Taufe auseinanderzusetzen und in diesem Zusammenhang insbesondere eine für den Beschwerdeführer zuständige Person der XXXX zur Ernsthaftigkeit des Glaubenswechsels des Beschwerdeführers, zu dessen Taufe sowie zu dessen Engagement für das Christentum generell zu befragen.

Mit der Beschwerde legte der Beschwerdeführer eine schriftliche Erklärung des Pastors der XXXX vor.

4. Die Beschwerde wurde von der belangten Behörde – ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen – dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

5. Mit Eingaben vom 12.06.2018, 04.07.2018, 12.11.2018, 18.03.2019 und 08.07.2019 übermittelte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht eine Bestätigung der Freien Evangelikalen Gemeinde XXXX vom 07.06.2018 hinsichtlich regelmäßiger Besuche der Gottesdienste sowie des Bibelkreises in den Jahren 2016 und 2017, mehrere Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen, ein Deutschzertifikat A1, eine Teilnahmebestätigung am Projekt EUNMINT - Dialog über gemeinsame Werte und ein Zeugnis zur Integrationsprüfung A2.

6. Am 15.09.2020 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Beisein des Beschwerdeführers, dessen rechtlicher Vertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Farsi statt.

Im Zuge der Einvernahme legte der Beschwerdeführer neben bereits vorgelegten Unterlagen ein Empfehlungsschreiben des Pastors der Freien Christengemeinde XXXX vom 20.08.2020 sowie eine Teilnahmebestätigung an einem Deutschkurs vor.

Befragt nach seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer seine Fluchtgeschichte inhaltlich ähnlich lautend wie vor der belangten Behörde an. Er sei aufgrund seiner Äußerungen zum Islam von den iranischen Behörden sowie von den Basiji bedroht worden. Der Beschwerdeführer habe zwar versucht, weiterhin im Iran zu leben, weil er dort seine Arbeit sowie seine Familie gehabt habe, jedoch sei der Druck zu groß geworden, woraufhin er aus dem Iran geflohen sei.

In Österreich habe er etwa 6 Monate nach seiner Ankunft begonnen, die Evangelikale Freikirche in XXXX zu besuchen. In der Evangelikalen Freikirche habe er regelmäßig am Gottesdienst sowie am Bibel-/Taufvorbereitungskurs teilgenommen. Er sei zwei Jahre dort gewesen, jedoch habe er sich dort nicht wohlgefühlt, weswegen er zur XXXX gewechselt sei. Auch habe der Pastor in der Evangelikalen Freikirche in XXXX sieben Personen zur Taufe zugelassen, unter denen sich der Beschwerdeführer jedoch nicht befunden habe. In der XXXX habe er etwa vier Wochen lang einen Taufvorbereitungskurs besucht und sei anschließend getauft worden. Befragt nach einer Art „Schlüsselerlebnis“, warum der Beschwerdeführer sich dem christlichen Glauben zugewendet habe, gab er an, dass sein Interesse am Christentum durch eine Dame in einem Park im Iran geweckt worden sei, er sei neugierig gewesen und habe mehr über das Christentum wissen wollen. Aktuell besuche er jeden Sonntag regelmäßig den Gottesdienst der XXXX sowie zudem alle zwei Wochen eine persische Kirche, deren Gottesdienst nur alle zwei Wochen stattfinden würde. Der Beschwerdeführer lese regelmäßig die Bibel und bete. Er versuche auch andere Menschen vom christlichen Glauben zu überzeugen, wobei fünf Freunde durch ihn Christen geworden seien.

Dem Beschwerdeführer wurden weiters einige Wissensfragen zum Christentum gestellt, welche er zum Großteil korrekt beantworten konnte.

In der mündlichen Verhandlung wurde auch der Pastor der XXXX , als Zeuge einvernommen. Dieser gab an, der Beschwerdeführer sei seit Herbst 2017 Mitglied seiner Gemeinde und besuche seitdem regelmäßig den Gottesdienst. Manchmal gehe der Beschwerdeführer auch in die persische Kirche in XXXX . Überdies habe der Zeuge den Eindruck, dass der Beschwerdeführer sich recht eingehend mit dem christlichen Glauben auseinandergesetzt habe und es noch tue. Die Frage, ob er sich mit dem Beschwerdeführer in Glaubensfragen ausgetauscht habe, bejahte er und gab an, dass es sich vor allem um Glaubensfragen in Bezug auf seine jetzige Lebenssituation gehandelt habe. Auf Frage, wie er sich trotz der Tatsache, dass der Beschwerdeführer offenbar immer wieder eine Übersetzung benötige, mit ihm über Glaubensfragen unterhalten habe können, gab der Zeuge an, dass er sich eines Internet-Übersetzers bedient habe. Des Weiteren habe der Zeuge den Beschwerdeführer auf die Taufe vorbereitet und die Taufe schließlich auch vorgenommen. Brüche in der Entwicklung des Beschwerdeführers habe er bislang nicht wahrgenommen, wenngleich er einräumte, dass sich der Beschwerdeführer zeitweise zurückgezogen habe und dann drei bis vier Wochen lang nicht zum Gottesdienst erschienen sei. Ob der Beschwerdeführer missioniere, wisse er nicht, er habe aber schon mehrere Kollegen und Freunde aus dem Asylheim zum Gottesdienst mitgenommen. Diese Freunde seien aber nicht dauerhaft beim Gottesdienst geblieben.

7. In einer Stellungnahme vom 28.09.2020 gab der Beschwerdeführer an, dass er ein Schreiben an die schiitische Glaubensgemeinschaft mit der Bitte, ihm eine Bestätigung über den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft zu übermitteln, geschickt habe.

8. Am 09.10.2020 legte der Beschwerdeführer mehrere iranische Ausweise im Original vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der unter Punkt I. ausgeführte Verfahrensgang wird als maßgeblich festgestellt.

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer ist iranischer Staatsangehöriger und Zugehöriger der Volksgruppe der Luren (Lor). Er trägt den im Spruch angeführten Namen und das im Spruchkopf genannte Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer ist ledig, lebt in keiner Lebensgemeinschaft oder Beziehung und hat keine Kinder. Er wurde im Iran in der Stadt XXXX (Provinz XXXX ) geboren und war dort abgesehen von 2012 bis 2015, in jenem Zeitraum, in dem er in XXXX aufhältig war, wohnhaft. Er hat im Iran zwölf Jahre lang die Schule besucht sowie vier Jahre lang an der Universität studiert. Anschließend arbeitete der Beschwerdeführer für sieben Jahre in der Marketingbranche, sechs Jahre als selbständiger Import-/Exporteur und zuletzt zwei Jahre als Büroangestellter.

Der Beschwerdeführer hat etwa sechs Monate, bevor er ausreiste, nicht mehr gearbeitet.

Der Beschwerdeführer ist legal aus seinem Heimatstaat ausgereist und illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am XXXX .11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Im Herkunftsstaat leben noch die Eltern und Geschwister (vier Schwestern und zwei Brüder) des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer steht aktuell mit diesen Familienangehörigen in Kontakt. In Österreich leben keine Verwandten des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer pflegt in Österreich soziale Kontakte, es bestehen jedoch keine Abhängigkeitsverhältnisse oder über herkömmliche Freundschaftsverhältnisse hinausgehende Bindungen.

Der Beschwerdeführer geht derzeit keiner legalen Arbeit nach und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Seit der Antragstellung befand sich der Beschwerdeführer lediglich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz durchgängig rechtmäßig im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der Grundversorgung des Bundes.

Er verfügt über Deutschkenntnisse, er hat in der Vergangenheit mehrere Deutschkurse auf Niveau A1, A2 sowie B1 besucht und die Deutschzertifikate A1 sowie A2 erlangt. Er hat die Integrationsprüfung des ÖIF bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz A2 und zu Werte- und Orientierungswissen abgelegt.

Der Beschwerdeführer war in einem Flüchtlingsheim für Reinigungsarbeiten ehrenamtlich sowie in einem anderen Flüchtlingsheim gemeinnützig tätig.

Der Beschwerdeführer ist gesund, es liegen bei ihm keine Hinweise auf eine die Schwelle des Art. 3 EMRK überschreitende ernsthafte physische oder psychische Krankheit vor. Auch die aktuell vorherrschende COVID-19 Pandemie bildet mit Blick auf sein Alter und das Fehlen von Vorerkrankungen kein Rückkehrhindernis. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Iran eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Etwa sechs Monate nach seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet begann der Beschwerdeführer die Evangelikale Freikirche in XXXX zu besuchen. In der Folge nahm der Beschwerdeführer zwei Jahre lang regelmäßig am Gottesdienst sowie am Bibelkurs der genannten Freikirche teil, bis er, nachdem er dort nicht zur Taufe zugelassen wurde, zur XXXX wechselte. Der Beschwerdeführer ist Mitglied der XXXX , er hat Ende 2017/Anfang 2018 einen etwa vierwöchigen Glaubenskurs besucht und wurde am XXXX .2018 getauft. Er besucht – abgesehen von mehreren drei- bis vierwöchigen Unterbrechungen – regelmäßig den Gottesdienst der XXXX sowie alle zwei Wochen den Gottesdienst der Freien Christengemeinde XXXX . Darüber hinaus ist er in seiner Kirchengemeinde nicht engagiert.

Der Beschwerdeführer beschäftigt sich mit der Bibel und hat Grundkenntnisse vom Christentum.

Der Beschwerdeführer ist bislang nicht offiziell aus der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ausgetreten.

Der Beschwerdeführer war im Iran keiner aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt und wäre auch im Falle seiner Rückkehr dorthin mit nicht maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt.

Dazu im Einzelnen:

Der Beschwerdeführer ist aus seinem Herkunftsstaat nicht geflohen, er wurde dort nicht verfolgt und nicht bedroht. Namentlich wurde er nie von Behörden in seinem Herkunftsstaat verfolgt; es gab keine Übergriffe oder Misshandlungen durch Vertreter von Behörden.

Der Beschwerdeführer war in seinem Herkunftsstaat weder aus Gründen der Religion noch aus anderen Gründen (einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Gefahr von) intensiven staatlichen Übergriffen oder intensiven Übergriffen von Privatpersonen ausgesetzt. Er hatte weder wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch wegen seiner politischen Gesinnung und auch nicht wegen seiner Religion Probleme.

Der Beschwerdeführer hatte sich vor seiner Ausreise aus dem Iran nicht mit dem christlichen Glauben auseinandergesetzt, ihn nicht praktiziert und auch nicht beschlossen, Christ zu werden. Der Beschwerdeführer hat in den letzten ca. viereinhalb Jahren zwar ein gewisses Interesse am Christentum entwickelt, er ist aber nicht aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert und der christliche Glaube ist nicht wesentlicher Bestandteil der Identität des Beschwerdeführers. Es ist daher auch nicht davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat weiterhin mit dem christlichen Glauben befassen oder nach dem christlichen Glauben leben oder sich privat oder öffentlich zum christlichen Glauben bekennen würde. Der Beschwerdeführer missioniert nicht und würde im Iran auch nicht christlich missionieren.

Die Behörden im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers haben von der – nicht aus inneren Überzeugung geschehenen – Konversion keine Kenntnis und es ist auch nicht davon auszugehen, dass sie vom christlichen Engagement und der Taufe des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr in den Iran Kenntnis erlangen würden. Auch die Familie des Beschwerdeführers hat keine Kenntnis davon.

Selbst für den Fall, dass die Familie, das soziale Umfeld, sonstige Privatpersonen oder die Behörden im Herkunftsstaat von den religiösen Aktivitäten des Beschwerdeführers in Österreich Kenntnis erlangen sollten oder die vom Beschwerdeführer genannte Freundin tatsächlich Kenntnis haben sollte, liefe der Beschwerdeführer nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, im Zusammenhang mit der behaupteten Konversion zum Christentum oder wegen eines allenfalls unterstellten Glaubensabfalls bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat intensiven Übergriffen durch den Staat, andere Bevölkerungsteile oder sonstige Privatpersonen ausgesetzt zu sein.

Fest steht, dass der Beschwerdeführer nicht aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert ist. Ebenso steht fest, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in den Iran aufgrund seiner behaupteten Konversion zum christlichen Glauben keine Lebensgefahr oder Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Regierung oder durch andere Personen drohen würde. Der Beschwerdeführer ist auch aufgrund seines behaupteten Abfalls vom Islam nicht gefährdet, im Iran asylrelevant in das Blickfeld der iranischen Behörden/der iranischen muslimischen Gesellschaft zu geraten.

Fest steht, dass der Beschwerdeführer im Iran keiner unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen wäre sowie im Falle seiner Rückkehr in keine existenzgefährdende Notsituation geraten würde oder als Zivilperson keiner ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen Konfliktes ausgesetzt wäre.

Festzuhalten ist weiters, dass es sich bei der „ XXXX “ zwar um eine christliche Freikirche handelt, die sich den evangelischen Glaubensgrundsätzen, wie sie in den lehrmäßigen Grundlagen der freien Christengemeinden Österreichs (FCGÖ) und der Verfassung Freikirchen Österreichs verpflichtet weiß, jedoch um keine gesetzlich anerkannte Kirche oder Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 15 StGG Die Gemeinde ist Teil der XXXX in XXXX und offiziell anerkannte Mitglied der Vereinigung der presbyterianischen (evangelisch reformierten) Kirchen in den USA. Eine Aufnahme in den Bund der FCGÖ erfolgte bisher wegen zu wenig Mitgliedern (derzeit etwa XXXX ) nicht. Der Gemeinde gehören lediglich XXXX Österreicher (inklusive Pastor) an.

1.3. Zur hier relevanten Situation im Iran

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Iran, Stand 19.06.2020

1. Politische Lage

Iran ist seit 1979 eine Islamische Republik (AA 4.3.2020b). Das Staatssystem beruht auf dem Konzept der „velayat-e faqih“, der Stellvertreterschaft des Rechtsgelehrten. Dieses besagt, dass nur ein herausragender Religionsgelehrter in der Lage sei, eine legitime Regierung zu führen, bis der 12. Imam, die eschatologische Heilsfigur des schiitischen Islam, am Ende der Zeit zurückkehren und ein Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeit einleiten werde. Dieser Rechtsgelehrte ist das Staatsoberhaupt Irans mit dem Titel „Revolutionsführer“ (GIZ 2.2020a; vgl. BTI 2020). Der Revolutionsführer (auch Oberster Führer) ist seit 1989 Ayatollah Seyed Ali Hosseini Khamenei. Er steht noch über dem Präsidenten (ÖB Teheran 10.2019; vgl. US DOS 11.3.2020). Er wird von einer Klerikerversammlung (Expertenrat) auf Lebenszeit gewählt, ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte (AA 4.3.2020a; vgl. FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020) und wesentlich mächtiger als der Präsident. Des weiteren unterstehen ihm unmittelbar die Revolutionsgarden (Pasdaran oder IRGC), die mehrere Millionen Mitglieder umfassenden, paramilitärischen Basij-Milizen und die gesamte Judikative. Für die entscheidenden Fragen ist letztlich der Oberste Führer verantwortlich (ÖB Teheran 10.2019; vgl. FH 4.3.2020). Obwohl der Revolutionsführer oberste Entscheidungsinstanz und Schiedsrichter ist, kann er zentrale Entscheidungen nicht gegen wichtige Machtzentren treffen. Politische Gruppierungen bilden sich um Personen oder Verwandtschaftsbeziehungen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen (z.B. Klerus). Diese Zugehörigkeiten und Allianzen unterliegen dabei einem ständigen Wandel. Reformorientierte Regimekritiker sind weiterhin starken Repressionen ausgesetzt (AA 26.2.2020).

Das iranische Regierungssystem ist ein semipräsidiales: an der Spitze der Regierung steht der vom Volk für vier Jahre direkt gewählte Präsident. Amtsinhaber ist seit 2013 Hassan Rohani, er wurde im Mai 2017 wieder gewählt (ÖB Teheran 10.2019). Der Präsident ist, nach dem Revolutionsführer, der zweithöchste Beamte im Staat (FH 4.3.2020). Er steht der Regierung vor, deren Kabinett er ernennt. Die Kabinettsmitglieder müssen allerdings vom Parlament bestätigt werden. Der Präsident ist der Leiter der Exekutive. Zudem repräsentiert er den Staat nach außen und unterzeichnet internationale Verträge. Dennoch ist seine faktische Macht beschränkt, da der Revolutionsführer in allen Fragen das letzte Wort hat bzw. haben kann (GIZ 2.2020a). Ebenfalls alle vier Jahre gewählt wird das Einkammerparlament, genannt Majles, mit 290 Abgeordneten, das gewisse legislative Kompetenzen hat und Ministern das Vertrauen entziehen kann (ÖB Teheran 10.2019). Hauptaufgabe des Parlaments ist die Ausarbeitung neuer Gesetze, die von der Regierung auf den Weg gebracht werden. Es hat aber auch die Möglichkeit, selbst neue Gesetze zu initiieren. Die letzten Parlamentswahlen fanden im Februar 2020 statt (GIZ 2.2020a). Während bei der Parlamentswahl 2016 die Reformer und Moderaten starke Zugewinne erreichen konnten (ÖB Teheran 10.2019), drehte sich dies bei den letzten Parlamentswahlen vom Februar 2020 und die Konservativen gewannen diese Wahlen. Erstmals seit der Islamischen Revolution von 1979 lag die Wahlbeteiligung unter 50%. Zahlreiche Anhänger des moderaten Lagers um Präsident Hassan Rohani hatten angekündigt, der Wahl aus Enttäuschung über die politische Führung fernzubleiben. Tausende moderate Kandidaten waren zudem von der Wahl ausgeschlossen worden (DW 23.2.2020).

Entscheidende Gremien sind des Weiteren der vom Volk direkt gewählte Expertenrat mit 86 Mitgliedern, sowie der Wächterrat mit zwölf Mitgliedern (davon sind sechs vom Obersten Führer ernannte Geistliche und sechs von der Judikative bestimmte Juristen). Der Expertenrat ernennt den Obersten Führer und kann diesen (theoretisch) auch absetzen. Der Wächterrat hat mit einem Verfassungsgerichtshof vergleichbare Kompetenzen (Gesetzeskontrolle), ist jedoch wesentlich mächtiger. Ihm obliegt u.a. auch die Genehmigung von Kandidaten bei allen nationalen Wahlen (ÖB Teheran 10.2019; vgl. GIZ 2.2020a, FH 4.3.2020, BTI 2020). Der Wächterrat ist somit das zentrale Mittel zur Machtausübung des Revolutionsführers (GIZ 2.2020). Des Weiteren gibt es noch den Schlichtungsrat. Er vermittelt im Gesetzgebungsverfahren und hat darüber hinaus die Aufgabe, auf die Wahrung der „Gesamtinteressen des Systems“ zu achten (AA 4.3.2020a; vgl. GIZ 2.2020a). Er besteht aus 35 Mitgliedern, die vom Revolutionsführer unter Mitgliedern der Regierung, des Wächterrats, des Militärs und seinen persönlichen Vertrauten ernannt werden. Die Interessen des Systems sind unter allen Umständen zu wahren und der Systemstabilität wird in der Islamischen Republik alles untergeordnet. Falls nötig, können so in der Islamischen Republik etwa auch Gesetze verabschiedet werden, die der Scharia widersprechen, solange sie den Interessen des Systems dienen (GIZ 2.2020a).

Die Basis des Wahlsystems der Islamischen Republik sind die Wahlberechtigten, also jeder iranische Bürger ab 16 Jahren. Das Volk wählt das Parlament, den Präsidenten sowie den Expertenrat (GIZ 2.2020a) in geheimen und direkten Wahlen (AA 26.2.2020). Das System der Islamischen Republik kennt keine politischen Parteien. Theoretisch tritt jeder Kandidat für sich alleine an. In der Praxis gibt es jedoch Zusammenschlüsse von Abgeordneten, die westlichen Vorstellungen von Parteien recht nahekommen (GIZ 2.2020a; vgl. AA 4.3.2020a). Das iranische Wahlsystem entspricht nicht internationalen demokratischen Standards. Der Wächterrat, der von konservativen Hardlinern und schlussendlich auch vom Obersten Rechtsgelehrten Khamenei kontrolliert wird, durchleuchtet alle Kandidaten für das Parlament, die Präsidentschaft und den Expertenrat. Üblicherweise werden Kandidaten, die nicht als Insider oder nicht vollkommen loyal zum religiösen System gelten, nicht zu Wahlen zugelassen. Bei Präsidentschaftswahlen werden auch Frauen aussortiert. Das Resultat ist, dass die iranischen Wähler nur aus einem begrenzten und vorsortierten Pool an Kandidaten wählen können (FH 4.3.2020). Von den 1.499 Männern und 137 Frauen, die sich im Rahmen der Präsidentschaftswahl 2017 für die Kandidatur zum Präsidentenamt registrierten, wurden sechs männliche Kandidaten vom Wächterrat zugelassen. Frauen werden bei Präsidentschaftswahlen grundsätzlich als ungeeignet abgelehnt. Die Wahlbeteiligung 2017 betrug 73%. Unabhängige Wahlbeobachter werden nicht zugelassen. Ablauf, Durchführung sowie Kontroll- und Überprüfungsmechanismen der Wahlen sind in technischer Hinsicht grundsätzlich gut konzipiert (AA 26.2.2020).

Auf Reformbestrebungen bzw. die wirtschaftliche Öffnung des Landes durch die Regierung Rohanis wird von Hardlinern in Justiz und politischen Institutionen mit verstärktem Vorgehen gegen „unislamisches“ oder konterrevolutionäres Verhalten reagiert. Es kann daher auch nicht von einer wirklichen Verbesserung der Menschenrechtslage gesprochen werden. Ein positiver Schritt Ende 2017 war die Aufhebung der Todesstrafe für die meisten Drogendelikte, was zu einer Halbierung der vollstreckten Todesurteile führte (ÖB Teheran 10.2019).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (4.3.2020a): Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/iran-node/politisches-portrait/202450, Zugriff 7.4.2020

- AA – Auswärtiges Amt (4.3.2020b): Steckbrief, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/iran-node/steckbrief/202394, Zugriff 7.4.2020

- AA – Auswärtiges Amt (26.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2027998/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_Februar_2020%29%2C_26.02.2020.pdf, Zugriff 20.4.2020

- BTI – Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 Country Report — Iran, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_IRN.pdf, Zugriff 6.5.2020

- DW – Deutsche Welle (23.2.2020): Konservative siegen bei Parlamentswahl im Iran, https://www.dw.com/de/konservative-siegen-bei-parlamentswahl-im-iran/a-52489961, Zugriff 7.4.2020

- FH – Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025928.html, Zugriff 7.4.2020

- GIZ – Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (2.2020a): Geschichte und Staat Iran, https://www.liportal.de/iran/geschichte-staat/, Zugriff 7.4.2020

- ÖB Teheran – Österreichische Botschaften (10.2019): Asylländerbericht Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019927/IRAN_%C3%96B-Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 7.4.2020

- US DOS – US Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026339.html, Zugriff 7.4.2020

2. Sicherheitslage

Den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage im Iran auswirken. Die schwierige Wirtschaftslage und latenten Spannungen im Land führen periodisch zu Kundgebungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Preiserhöhungen oder mit (religiösen) Lokalfeiertagen und Gedenktagen. Dabei muss mit schweren Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Demonstranten gerechnet werden sowie mit Straßenblockaden. Zum Beispiel haben im November 2019 Proteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise Todesopfer und Verletzte gefordert (EDA 4.5.2020).

Das Risiko von Anschlägen besteht im ganzen Land. Im Juni 2017 wurden in Teheran Attentate auf das Parlament und auf das Mausoleum von Ayatollah Khomeini verübt. Sie haben über zehn Todesopfer und zahlreiche Verletzte gefordert. Im September 2018 forderte ein Attentat auf eine Militärparade in Ahvaz (Provinz Khuzestan) zahlreiche Todesopfer und Verletzte (EDA 4.5.2020; vgl. AA 4.5.2020b). 2019 gab es einen Anschlag auf einen Bus der Revolutionsgarden in der Nähe der Stadt Zahedan (AA 4.5.2020b).

In den Grenzprovinzen im Osten und Westen werden die Sicherheitskräfte immer wieder Ziel von bewaffneten Überfällen und Anschlägen (EDA 4.5.2020). In diesen Minderheitenregionen kommt es unregelmäßig zu Zwischenfällen mit terroristischem Hintergrund. Die iranischen Behörden haben seit einiger Zeit die allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen im Grenzbereich zu Irak und zu Pakistan, aber auch in der Hauptstadt Teheran erhöht (AA 4.5.2020b).

In der Provinz Sistan-Belutschistan (Südosten, Grenze zu Pakistan/Afghanistan) kommt es regelmäßig zu Konflikten zwischen iranischen Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppierungen. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt und es gibt vermehrte Sicherheits- und Personenkontrollen. Wiederholt wurden Ausländer in der Region festgehalten und längeren Verhören unterzogen. Eine Weiterreise war in manchen Fällen nur noch mit iranischer Polizeieskorte möglich. Dies geschah vor dem Hintergrund von seit Jahren häufig auftretenden Fällen bewaffneter Angriffe auf iranische Sicherheitskräfte in der Region (AA 4.5.2020b). Die Grenzzone Afghanistan, östliches Kerman und Sistan-Belutschistan, stehen teilweise unter dem Einfluss von Drogenhändlerorganisationen sowie von extremistischen Organisationen. Sie haben wiederholt Anschläge verübt und setzen teilweise Landminen auf Überlandstraßen ein. Es kann hier jederzeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften kommen (EDA 4.5.2020).

In der Provinz Kurdistan und der ebenfalls von Kurden bewohnten Provinz West-Aserbaidschan gibt es wiederholt Anschläge gegen Sicherheitskräfte, lokale Repräsentanten der Justiz und des Klerus. In diesem Zusammenhang haben Sicherheitskräfte ihr Vorgehen gegen kurdische Separatistengruppen und Kontrollen mit Checkpoints noch einmal verstärkt. Seit 2015 kommt es nach iranischen Angaben in der Provinz Khuzestan und in anderen Landesteilen, auch in Teheran, wiederholt zu Verhaftungen von Personen, die mit dem sogenannten Islamischen Staat in Verbindung stehen und Terroranschläge in Iran geplant haben sollen (AA 4.5.2020b). Im iranisch-irakischen Grenzgebiet sind zahlreiche Minenfelder vorhanden (in der Regel Sperrzonen). Die unsichere Lage und die Konflikte in Irak verursachen Spannungen im Grenzgebiet. Gelegentlich kommt es zu Schusswechseln zwischen aufständischen Gruppierungen und den Sicherheitskräften. Bisweilen kommt es auch im Grenzgebiet zur Türkei zu Schusswechseln zwischen militanten Gruppierungen und den iranischen Sicherheitskräften (EDA 4.5.2020). Schmuggler, die zwischen dem iranischen und irakischen Kurdistan verkehren, werden mitunter erschossen, auch wenn sie unbewaffnet sind (ÖB Teheran 10.2019).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (4.5.2020b): Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/iran-node/iransicherheit/202396, Zugriff 4.5.2020

- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (4.5.2020): Reisehinweise Iran, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/iran/reisehinweise-fuerdeniran.html, Zugriff 4.5.2020

- ÖB Teheran – Österreichische Botschaften (10.2019): Asylländerbericht Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019927/IRAN_%C3%96B-Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 4.5.2020

3. Rechtsschutz / Justizwesen

Seit 1979 ist Iran eine Islamische Republik, in welcher versucht wird, demokratische und islamische Elemente miteinander zu verbinden. Die iranische Verfassung besagt, dass alle Gesetze sowie die Verfassung auf islamischen Grundsätzen beruhen müssen. Mit einer demokratischen Verfassung im europäischen Sinne kann sie daher nicht verglichen werden (ÖB Teheran 10.2019). Das in der iranischen Verfassung enthaltene Gebot der Gewaltentrennung ist praktisch stark eingeschränkt. Der Revolutionsführer ernennt für jeweils fünf Jahre den Chef der Judikative. Dieser ist laut Artikel 157 der Verfassung die höchste Autorität in allen Fragen der Justiz. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in der Verfassung festgeschrieben, unterliegt jedoch Begrenzungen. Immer wieder wird deutlich, dass Exekutivorgane, v.a. der Sicherheitsapparat, trotz des formalen Verbots, in Einzelfällen massiven Einfluss auf die Urteilsfindung und die Strafzumessung nehmen. Zudem ist zu beobachten, dass fast alle Entscheidungen der verschiedenen Staatsgewalten bei Bedarf informell durch den Revolutionsführer und seine Mitarbeiter beeinflusst und gesteuert werden können. Auch ist das Justizwesen nicht frei von Korruption (AA 26.2.2020; vgl. BTI 2020). In Iran gibt es eine als unabhängige Organisation aufgestellte Rechtsanwaltskammer („Iranian Bar Association“; IBA). Allerdings sind die Anwälte der IBA staatlichem Druck und Einschüchterungsmaßnahmen, insbesondere in politischen Verfahren, ausgesetzt (AA 26.2.2020). Das Justizsystem wird als Instrument benutzt, um Regimekritiker und Oppositionelle zum Schweigen zu bringen (FH 4.3.2020).

Richter werden nach religiösen Kriterien ernannt. Internationale Beobachter kritisieren weiterhin den Mangel an Unabhängigkeit des Justizsystems und der Richter und, dass die Verfahren internationale Standards der Fairness nicht erfüllen (US DOS 11.3.2020). Iranische Gerichte, insbesondere die Revolutionsgerichte, verletzen immer wieder die Regeln für faire Gerichtsverfahren. Geständnisse, die wahrscheinlich unter Anwendung von Folter erlangt wurden, werden als Beweis vor Gericht verwendet (HRW 14.1.2020; vgl. AA 26.2.2020, HRC 28.1.2020). Die Behörden setzen sich ständig über die Bestimmungen hinweg, welche die Strafprozessordnung von 2015 für ein ordnungsgemäßes Verfahren vorsieht, wie z.B. das Recht auf einen Rechtsbeistand (AI 18.2.2020; vgl. HRW 14.1.2020).

Das Verbot der Doppelbestrafung gilt nur stark eingeschränkt. Nach dem iranischen Strafgesetzbuch (IStGB) wird jeder Iraner oder Ausländer, der bestimmte Straftaten im Ausland begangen hat und in Iran festgenommen wird, nach den jeweils geltenden iranischen Gesetzen bestraft. Bei der Verhängung von islamischen Strafen haben bereits ergangene ausländische Gerichtsurteile keinen Einfluss. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen drohen drastische Strafen. In jüngster Vergangenheit sind keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden (AA 26.2.2020).

Wenn sich Gesetze nicht mit einer Situation befassen, dürfen Richter ihrem Wissen und ihrer Auslegung der Scharia Vorrang einräumen. Nach dieser Methode können Richter eine Person aufgrund ihres eigenen „göttlichen Wissens“ für schuldig erklären (US DOS 11.3.2020).

In der Strafjustiz existieren mehrere voneinander getrennte Gerichtszweige. Die beiden wichtigsten sind die ordentlichen Strafgerichte und die Revolutionsgerichte. Daneben sind die Pressegerichte für Taten von Journalisten, Herausgebern und Verlegern zuständig. Die “Sondergerichte für die Geistlichkeit“ sollen abweichende Meinungen unter schiitischen Geistlichen untersuchen und ihre Urheber bestrafen. Sie unterstehen direkt dem Revolutionsführer und sind organisatorisch außerhalb der Judikative angesiedelt (AA 9.12.2015; vgl. BTI 2018).

Die Zuständigkeit der Revolutionsgerichte beschränkt sich auf folgende Delikte:

- Straftaten betreffend die innere und äußere Sicherheit des Landes, bewaffneter Kampf gegen das Regime, Verbrechen unter Einsatz von Waffen, insbesondere "Feindschaft zu Gott" und "Korruption auf Erden";

- Anschläge auf politische Personen oder Einrichtungen;

- Beleidigung des Gründers der Islamischen Republik Iran und des jeweiligen Revolutionsführers;

- Spionage für fremde Mächte;

- Rauschgiftdelikte, Alkoholdelikte und Schmuggel;

- Bestechung, Korruption, Unterschlagung öffentlicher Mittel und Verschwendung von Volksvermögen (AA 9.12.2015).

Gerichtsverfahren, vor allem Verhandlungen vor Revolutionsgerichten, finden nach wie vor unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und sind extrem kurz. Manchmal dauert ein Verfahren nur wenige Minuten (AI 22.2.2018).

Die iranische Strafrechtspraxis unterscheidet sich stark von jener der europäischen Staaten: Körperstrafen sowie die Todesstrafe werden verhängt (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AA 26.2.2020). Im iranischen Strafrecht sind körperliche Strafen wie die Amputation von Fingern, Händen und Füßen vorgesehen. Berichte über erfolgte Amputationen dringen selten an die Öffentlichkeit. Wie hoch die Zahl der durchgeführten Amputationen ist, kann nicht geschätzt werden (AA 26.2.2020). Amputation eines beispielsweise Fingers bei Diebstahl fällt unter Vergeltungsstrafen („Qisas“), ebenso wie die Blendung, die auch noch immer angewendet werden kann. Durch Erhalt eines Abstandsgeldes („Diya“) kann der ursprünglich Verletzte jedoch auf die Anwendung einer Blendung verzichten. Derzeit ist bei Ehebruch noch die Strafe der Steinigung vorgesehen. Auch auf diese kann vom „Geschädigten“ gegen eine Abstandsgeldzahlung verzichtet werden. Im Jahr 2002 wurde ein Moratorium für die Verhängung der Steinigungsstrafe erlassen, seit 2009 sind keine Fälle von Steinigungen belegbar (ÖB Teheran 10.2019). Zudem sieht das iranische Strafrecht bei bestimmten Vergehen wie zum Beispiel Alkoholgenuss, Missachten des Fastengebots oder außerehelichem Geschlechtsverkehr auch Auspeitschung vor. Regelmäßig besteht aber auch hier die Möglichkeit, diese durch Geldzahlung abzuwenden (AA 26.2.2020).

Aussagen hinsichtlich einer einheitlichen Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis sind nur eingeschränkt möglich, da sich diese durch Willkür auszeichnet. Rechtlich möglich wird dies vorrangig durch unbestimmte Formulierungen von Straftatbeständen und Rechtsfolgen sowie eine uneinheitliche Aufsicht der Justiz über die Gerichte. Auch willkürliche Verhaftungen kommen vor und führen dazu, dass Personen ohne ein anhängiges Strafverfahren festgehalten werden. Wohl häufigster Anknüpfungspunkt für Diskriminierung im Bereich der Strafverfolgung ist die politische Überzeugung. Beschuldigten bzw. Angeklagten werden grundlegende Rechte vorenthalten, die auch nach iranischem Recht garantiert sind. Untersuchungshäftlinge werden bei Verdacht eines Verbrechens unbefristet ohne Anklage festgehalten. Oft erhalten Gefangene während der laufenden Ermittlungen keinen rechtlichen Beistand, weil ihnen dieses Recht verwehrt wird oder ihnen die finanziellen Mittel fehlen. Bei bestimmten Anklagepunkten – wie z.B. Gefährdung der nationalen Sicherheit – dürfen Angeklagte zudem nur aus einer Liste von zwanzig vom Staat zugelassenen Anwälten auswählen. Insbesondere bei politisch motivierten Verfahren gegen Oppositionelle erheben Gerichte oft Anklage aufgrund konstruierter oder vorgeschobener Straftaten. Die Strafen sind in Bezug auf die vorgeworfene Tat zum Teil unverhältnismäßig hoch, besonders deutlich wird dies bei Verurteilungen wegen Äußerungen in sozialen Medien oder Engagement gegen die Hijab-Pflicht (AA 26.2.2020).

Darüber hinaus ist die Strafverfolgungspraxis auch stark von aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen bestimmt. Im August 2018 wurde angesichts der kritischen Wirtschaftslage ein Sondergericht für Wirtschaftsstraftaten eingerichtet, das bislang schon einige Menschen wegen Korruption zum Tode verurteilt hat (AA 12.1.2019).

Hafterlass ist nach Ableistung der Hälfte der Strafe möglich. Amnestien werden unregelmäßig vom Revolutionsführer auf Vorschlag des Chefs der Justiz im Zusammenhang mit hohen religiösen Feiertagen und dem iranischen Neujahrsfest am 21. März ausgesprochen. Bei Vergeltungsstrafen können die Angehörigen der Opfer gegen Zahlung eines Blutgeldes auf den Vollzug der Strafe verzichten. Unter der Präsidentschaft Rohanis hat die Zahl der Aussetzung der hohen Strafen bis hin zur Todesstrafe wegen des Verzichts der Angehörigen auf den Vollzug der Strafe stark zugenommen (AA 26.2.2020).

Rechtsschutz ist oft nur eingeschränkt möglich. Anwälte, die politische Fälle übernehmen, werden systematisch eingeschüchtert oder an der Übernahme der Mandate gehindert. Der Zugang von Verteidigern zu staatlichem Beweismaterial wird häufig eingeschränkt oder verwehrt. Die Unschuldsvermutung wird mitunter – insbesondere bei politisch aufgeladenen Verfahren – nicht beachtet. Zeugen werden durch Drohungen zu belastenden Aussagen gezwungen. Insbesondere Isolationshaft wird genutzt, um politische Gefangene und Journalisten psychisch unter Druck zu setzen. Gegen Kautionszahlungen können Familienmitglieder die Isolationshaft in einzelnen Fällen verhindern oder verkürzen (AA 26.2.2020).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (26.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2027998/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Iran_%28Stand_Februar_2020%29%2C_26.02.2020.pdf, Zugriff 20.4.2020

- AA – Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der

Islamischen Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457257/4598_1548938794_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-iran-stand-november-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 7.4.2020

- AA – Auswärtiges Amt (9.12.2015): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/1115973/4598_1450445204_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-iran-stand-november-2015-09-12-2015.pdf, Zugriff 7.4.2020

- AI – Amnesty International (18.2.2020): Menschenrechte im Iran: 2019 [MDE 13/1829/2020], https://www.ecoi.net/de/dokument/2026069.html, Zugriff 14.5.2020

- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights – Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425078.html, Zugriff 7.4.2020

- BTI – Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 Country Report — Iran, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_IRN.pdf, Zugriff 6.5.2020

- BTI – Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 Country Report — Iran, http://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Iran.pdf, Zugriff 7.4.2020

- FH – Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025928.html, Zugriff 7.4.2020

- HRC – UN Human Rights Council (28.1.2020): Situation of human rights in the Islamic Republic of Iran; Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in the Islamic Republic of Iran [A/HRC/43/61], https://undocs.org/en/A/HRC/43/61, Zugriff 8.4.2020

- HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022677.html, Zugriff 7.4.2020

- ÖB Teheran – Österreichische Botschaften (10.2019): Asylländerbericht Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019927/IRAN_%C3%96B-Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 7.4.2020

- US DOS – US Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026339.html, Zugriff 7.4.2020

4. Sicherheitsbehörden

Diverse Behörden teilen sich die Verantwortung für die innere Sicherheit; etwa das Informationsministerium, die Ordnungskräfte des Innenministeriums, die dem Präsidenten berichten, und die Revolutionsgarden (Sepah-e Pasdaran-e Enghelab-e Islami - IRGC), welche direkt dem Obersten Führer Khamenei berichten. Die Basij-Kräfte, eine freiwillige paramilitärische Gruppierung mit lokalen Niederlassungen im ganzen Land, sind zum Teil als Hilfseinheiten zum Gesetzesvollzug innerhalb der Revolutionsgarden tätig. Basij-Einheiten sind oft bei der Unterdrückung von politischen Oppositionellen oder bei der Einschüchterung von Zivilisten involviert (US DOS 11.3.2020). Organisatorisch sind die Basij den Pasdaran (Revolutionsgarden) unterstellt und ihnen gehören auch Frauen an (AA 26.2.2020). Basijis sind ausschließlich gegenüber dem Obersten Führer loyal und haben oft keinerlei reguläre polizeiliche Ausbildung, die sie mit rechtlichen Grundprinzipien polizeilichen Handelns vertraut gemacht hätten. Basijis haben Stützpunkte u.a. in Schulen und Universitäten, wodurch die permanente Kontrolle der iranischen Jugend gewährleistet ist. Schätzungen über die Zahl der Basijis gehen weit auseinander und reichen bis zu mehreren Millionen (ÖB Teheran 10.2019).

Die Polizei unterteilt sich in Kriminalpolizei, Polizei für Sicherheit und öffentliche Ordnung (Sittenpolizei), Internetpolizei, Drogenpolizei, Grenzschutzpolizei, Küstenwache, Militärpolizei, Luftfahrtpolizei, eine Polizeispezialtruppe zur Terrorbekämpfung und Verkehrspolizei. Die Polizei hat auch einen eigenen Geheimdienst. Eine Sonderrolle nehmen die Revolutionsgarden ein, deren Auftrag formell der Schutz der Islamischen Revolution ist. Als Parallelarmee zu den regulären Streitkräften durch den Staatsgründer Khomeini aufgebaut, haben sie neben ihrer herausragenden Bedeutung im Sicherheitsapparat im Laufe der Zeit Wirtschaft, Politik und Verwaltung durchsetzt und sich zu einem Staat im Staate entwickelt. Militärisch kommt ihnen eine höhere Bedeutung als dem regulären Militär zu. Sie verfügen über fortschrittlichere Ausrüstung als die reguläre Armee, eigene Gefängnisse und eigene Geheimdienste, die auch mit Inlandsaufgaben betraut sind, sowie engste Verbindungen zum Revolutionsführer (AA 26.2.2020). Die Revolutionsgarden sind eng mit der iranischen Wirtschaft verbunden (FH 4.3.2020). Sie betreiben den Imam Khomeini International Airport in der iranischen Hauptstadt und verfügen damit allein durch Start- und Landegebühren über ein äußerst lukratives Geschäft. Auch an den anderen Flug- und Seehäfen im Land kontrollieren die Truppen der IRGC Irans Grenzen. Sie entscheiden, welche Waren ins Land gelassen werden und welche nicht. Sie zahlen weder Zoll noch Steuern. Sie verfügen über Land-, See- und Luftstreitkräfte, kontrollieren Irans strategisches Waffenarsenal und werden auf eine Truppenstärke von mehr als 120.000 geschätzt. Außerdem sind die Revolutionswächter ein gigantisches Wirtschaftsunternehmen, das Augenkliniken betreibt, Kraftfahrzeuge, Autobahnen, Eisenbahnstrecken und sogar U-Bahnen baut. Sie sind eng mit der Öl- und Gaswirtschaft des Landes verflochten, bauen Staudämme und sind im Bergbau aktiv (DW 18.2.2016). Khamenei und den Revolutionsgarden gehören rund 80% der iranischen Wirtschaft. Sie besitzen außer den größten Baufirmen auch Fluggesellschaften, Minen, Versicherungen, Banken, Elektrizitätswerke, Telekommunikationsfirmen, Fußballklubs und Hotels. Für die Auslandsaktivitäten gibt das Regime Milliarden aus (Menawatch 10.1.2018). Längst ist aus den Revolutionsgarden ein bedeutender Machtfaktor geworden – gesellschaftlich, wirtschaftlich, militärisch und politisch. Sehr zum Leidwesen von Hassan Rohani. Der Präsident versucht zwar, die Garden und ihre Chefebene in die Schranken zu weisen. Das gelingt ihm jedoch kaum (Tagesspiegel 8.6.2017; vgl. BTI 2020). Die paramilitärischen Einheiten schalten und walten nach wie vor nach Belieben – nicht nur in Iran, sondern in der Region. Es gibt nur wenige Konflikte, an denen sie nicht beteiligt sind. Libanon, Irak, Syrien, Jemen – überall mischen die Revolutionsgarden mit und versuchen, die islamische Revolution zu exportieren. Ihre Al-Quds-Brigaden sind als Kommandoeinheit speziell für Einsätze im Ausland trainiert (Tagesspiegel 8.6.2017).

Das Ministerium für Information ist als Geheimdienst (Vezarat-e Etela’at) mit dem Schutz der nationalen Sicherheit, Gegenspionage und der Beobachtung religiöser und illegaler politischer Gruppen beauftragt. Aufgeteilt ist dieser in den Inlandsgeheimdienst, Auslandsgeheimdienst, Technischen Aufklärungsdienst und eine eigene Universität (Imam Ali Universität). Dabei kommt dem Inlandsgeheimdienst die bedeutendste Rolle bei der Bekämpfung der politischen Opposition zu. Der Geheimdienst tritt bei seinen Maßnahmen zur Bekämpfung der politischen Opposition nicht als solcher auf, sondern bedient sich überwiegend der Sicherheitskräfte und der Justiz (AA 26.2.2020).

Das reguläre Militär (Artesh) erfüllt im Wesentlichen Aufgaben der Landesverteidigung und Gebäudesicherung. Neben dem „Hohen Rat für den Cyberspace“ beschäftigt sich die iranische Cyberpolizei mit Internetkriminalität mit Fokus auf Wirtschaftskriminalität, Betrugsfällen und Verletzungen der Privatsphäre im Internet sowie der Beobachtung von Aktivitäten in sozialen Netzwerken und sonstigen politisch relevanten Äußerungen im Internet. Sie steht auf der EU-Menschenrechtssanktionsliste (AA 26.2.2020).

Die Regierung hat volle Kontrolle über die Sicherheitskräfte und über den größten Teil des Landes, mit Ausnahme einiger Grenzgebiete. Irans Polizei ist traditionellerweise verantwortlich für die innere Sicherheit und für Proteste oder Aufstände. Sie wird von den Revolutionsgarden (IRGC) und den Basij Milizen unterstützt. Im Zuge der steigenden inneren Herausforderungen verlagerte das herrschende System die Verantwortung für die innere Sicherheit immer mehr zu den IRGC. Die Polizeikräfte arbeiten ineffizient. Getrieben von religiösen Ansichten und Korruption, geht die Polizei gemeins

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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