TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/14 W257 2185553-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.11.2020
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Entscheidungsdatum

14.11.2020

Norm

AsylG 2005 §3
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W257 2185553-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , wohnhaft in XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH als Mitglied der ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.12.2017, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.10.2020 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 25.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes fand am 27.09.2015 statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde) fand am 27.11.2017 statt. Sein Bruder stellte im März 2015 einen Asylantrag.

Bei der Ersteinvernahme brachte er vor, dass er afghanischer Staatsbürger sei, doch sei er in Iran geboren und aufgewachsen. Aus Angst, dass man ihn nach Afghanistan abschiebt, sei er geflohen, denn er hätte sich in Iran illegal aufgehalten. Er sei auch einmal von den iranischen Behörden nach Afghanistan abgeschoben worden. In Afghanistan wäre er von den IS-Kämpfern gefangen genommen worden. Sie hätte ihn Propagandafilme gezeigt, er hätte aber flüchten können.

Bei der behördlichen Einvernahme brachte er vor, dass er kinderlos und ledig sei. Er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er sei in Iran geboren und aufgewachsen. Dort wäre er von den dortigen Jugendlichen schlecht behandelt worden, weswegen er eine Anzeige bei der Polizei machen wollte. Sie hätten ihn aber festgenommen und nach Afghanistan abgeschoben. Dort wäre er nach einer Entführung mit ca 25 anderen Personen in einem Stall ca eineinhalb Monate festgehalten worden, aber schließlich befreit worden. Er sei wieder in den Iran zurückgekehrt und aus Angst schließlich nach Europa geflohen. Zudem hätten seine Eltern Streitigkeiten mit einem Verwandten gehabt, weswegen sie vor seiner Geburt in den Iran verzogen seien. Er könne deswegen auch nicht zurück, weil ihn sein Verwandter finden würde. Außerdem sei er Hazar und Schiite, und werde bereits aus diesen Gründen bei einer Rückkehr verfolgt.

Der Beschwerdeführer legte ein Berichtigungsschreiben zur Erstbefragung, diverse Dokumente zur Integration in Österreich (Empfehlungsschreiben, Zeugnisse, Teilnahmebestätigungen für Deutschkurse, etc) und medizinische Unterlagen vor, diese wurden dem Akt beigelegt.

2. Mit Schreiben vom 09.12.2017 legte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vor. Die Sicherheitslage in Afghanistan habe sich zunehmend verschlechtert und dieser Trend halte weiter an.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 19.12.2017 (zugestellt am 03.01.2018) wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ab (Spruchpunkte I.) und erteilte ihm den Status des subsidiäre Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.). Aufgrund dieses Schutzes erhielt er eine bis 19.12.2018 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

Begründend führte die belangte Behörde in dem bekämpften Bescheid aus, dass keine konkrete Verfolgung oder Bedrohung des Beschwerdeführers glaubhaft gemacht werden konnte. Der Beschwerdeführer hatte weder Probleme mit staatlichen Behörde noch mit Privatpersonen. Es sei insbesondere nicht nachvollziehbar gewesen, dass der Beschwerdeführer aufgrund von unglaubhaften fehlenden Sprachkenntnisse zu der behaupteten Entführung keinerlei Angaben betreffend Entführer und Befreier machen habe können.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen Spruchpunkt I des Bescheides, mit dem der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde, fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass unvollständige bzw unrichtige Feststellungen zu seinem Aufenthalt in Afghanistan und seinem Gesundheitszustand getroffen worden seien. Die Behörde habe insbesondere in ihrer Beweiswürdigung und Glaubwürdigkeitsdarlegung in keiner Weise auf die Minderjährigkeit und den schlechten psychischen Zustand des Beschwerdeführers Bedacht genommen. Ebenfalls führe seine Zugehörigkeit zur Minderheit der schiitischen Hazara und der Aufenthalt in Iran und danach in Europa zu einer weiteren Verfolgung und Gefährdung.

5. Mit Schriftsatz vom 05.02.2018 (eingelangt am 08.02.2018) legte die belangte Behörde die Beschwerde samt Bezug habenden Verwaltungsunterlagen dem Bundesverwaltungsgericht vor.

6. Nach einer Unzuständigkeitseinrede (OZ 2) wurde die Rechtssache am 13.02.2018 gemäß der Geschäftsordnung des Bundesverwaltungsgerichts infolge Annexität der Rechtsache der zuständigen Gerichtsabteilung W257 zugewiesen.

7. Das Bundesverwaltungsgericht setzte für den 09.10.2020 eine mündliche Verhandlung fest, wovon die Parteien nachweislich verständigt wurden. Zudem wurde in den Ladungen die Quellen der aktuellen Länderberichte aufgelistet, die aus verfahrensökonomischen Gründen nicht als Ausdruck versendet wurden. Den Parteien wurde Gelegenheit geboten binnen 14 Tagen dazu Stellung zu nehmen. Eine Stellungnahme seitens des Beschwerdeführers oder der belangten Behörde, langten nicht ein. Es handelt sich um folgende Berichte:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR), https://www.ecoi.net/en/file/local/1449845/90_1542006632_unhcr-2018-08-30-afg-richtlinien.pdf (Zugriff: 17.06.2020)

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Afghanistan_2019.pdf (Zugriff: 17.06.2020)

-        ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und die soziökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif“ vom 26.05.2020 (ECOI Herat und Masar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif) https://www.ecoi.net/de/dokument/2030482.html (Zugriff am 17.06.2020)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06. 2017 (Landinfo 2)

-        ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2031621.html (Zugriff: 17.06.2020)

8. Einen Tag vor der Verhandlung gegen 18.00 Uhr brachte die Rechtsvertretung einen Bericht ein, wobei dieser mittels E-Mail an die E-Mail-Adresse des Richters gesandt wurde. Die Eingabe wurde daher nicht rechtswirksam eingebracht, zudem auch keine Möglichkeit den Bericht inhaltlich zu bewerten, denn erst in der Verhandlung am 09.10.2020 berichtete die Rechtsvertretung von der Eingabe.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der gegenständlichen Rechtssache am 09.10.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters persönlich teilnahm. Ein Vertreter der belangten Behörde ist entschuldigt an der Verhandlung nicht erschienen. Der Beschwerdeführer wurde ausführlich zu seiner Person, seinen Fluchtgründen sowie seiner Glaubenseinstellung in Österreich befragt. Es wurde ihm Gelegenheit gegeben, alle Gründe umfassend darzulegen, zu den ins Verfahren eingeführten Länderberichten Stellung zu nehmen und seine Situation in Österreich darzustellen. Vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund befragt folgendes vor:

Seine Eltern haben Afghanistan aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten verlassen, dabei sei es auch zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung gekommen, im Zuge derer eine Schwester getötet und seine Eltern verletzt worden seien. Der Feind seines Vaters sei auch der Feind des Beschwerdeführers und zudem kenne er in Afghanistan niemanden. Als Nachfluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor, vom Glauben abgefallen zu sein, weshalb ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ebenfalls Verfolgungsgefahr drohe.

Seitens der Rechtsvertretung wurde eine schriftliche Stellungnahme zur Situation im Herkunftsland und der drohenden asylrechtlichen relevanten Verfolgung aufgrund des Abfalls vom Islam vorgelegt, die als Beilage 3 zum Akt genommen wurde. Als Beilage 1 und Beilage 2 wurden die Vollmacht der Rechtsvertretung und ein Bestätigungsschreiben zur Teilnahme am Freigegenstand Religion vom 05.04.2019 sowie ein ÖSD Zertifikat B2, eine Stellungnahme des Arbeitsgebers, Firma XXXX vom 05.10.2020 und der Lehrvertrag für die Ausbildung zum Platten- und Fliesenleger. Die belangte Behörde nahm an dieser Verhandlung nicht teil und gab keine schriftliche Stellungnahme zu der Situation im Herkunftsland ab.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist ein volljähriger afghanischer Staatsangehöriger. Er trägt den im Erkenntniskopf genannten Namen und ist am dort angeführten Datum geboren. Er ist schiitischer Muslim und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Seine Erstsprache ist Farsi und außerdem spricht er Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wurde in Iran geboren und wuchs dort auf. Die Familie des Beschwerdeführers, bestehend aus seinen Eltern und mehreren Geschwistern ist in Iran aufhältig. Ein Bruder des Beschwerdeführers lebt in Österreich.

Der Beschwerdeführer reiste schlepperunterstützt von Iran mit einem Pkw und zu Fuß in die Türkei. Von dort reiste er nach Griechenland und danach selbstständig mit einer Gruppe von Flüchtlingen weiter über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn bis nach Österreich. Der Beschwerdeführer reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 25.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer leidet an psychischen Problemen und war aufgrund beobachteten Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung in psychologischer Behandlung. Darüber hinaus ist er physisch und psychisch gesund.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Die Eltern des Beschwerdeführers haben Afghanistan aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten verlassen, der Beschwerdeführer hat dies über Erzählungen des Vaters erfahren, weil er selbst erst später in Iran geboren ist.

Der Beschwerdeführer selbst wurde in Afghanistan individuell weder bedroht noch kam es zu Übergriffen auf ihn. Weder ihm noch seiner Familie droht eine Verfolgungsgefahr.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Der Beschwerdeführer tritt nicht spezifisch gegen den Islam oder Religion generell auf. Er hat keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet werden würden. Der Beschwerdeführer ist nicht vom Glauben abgefallen, weswegen ihm keine Gefahr im Falle eine Rückkehr droht. Dem Beschwerdeführer wird dies auch nicht von afghanischen Behörden oder Privatpersonen unterstellt.

Es ist auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass konkret der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er in Iran geboren und aufgewachsen ist, sich seit fünf Jahren in Europa aufhält bzw. dass jeder afghanische Staatsangehörige, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.

Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem Beschwerdeführer in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

1.3.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020 (LIB)

-        UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO),

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report „Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06.2017 (Landinfo 2)

1.3.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 1).

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen), andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB, Kapitel 2).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 2)

1.3.2. Regierungsfeindliche Gruppen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

2.5.2.1. Taliban

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

2.5.2.2. Rekrutierung durch die Taliban

Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind (Landinfo 2, Kapitel 4.1). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo 2, Kapitel 4.1.1).

Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen Landinfo 2, Kapitel 3). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo 2, Kapitel 3.3).

Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Landinfo 2, Kapitel 5.1). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband „herauslösen“ (Landinfo 2, Kapitel 6).

1.3.3. Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus; in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist. Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie. Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (LIB, Kapitel 15).

Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen. Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist, sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (LIB, Kapitel 15).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB, Kapitel 15).

Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2018 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34%. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30%. Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

1.3.3.1. Apostasie, Blasphemie, Konversion

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (LIB, Kapitel 15.5).

Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist (LIB, Kapitel 15.5).

Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie; auch auf höchster Ebene scheint die afghanische Regierung kein Interesse zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen – weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben und auch zur Strafverfolgung von Blasphemie existieren keine Berichte. Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIB, Kapitel 15.5).

Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB, Kapitel 15.5).

1.3.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 bis 42% Pashtunen, rund 27 bis 30% Tadschiken, ca. 9 bis 10% Hazara, ca. 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (LIB, Kapitel 16).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen. Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 16).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (LIB, Kapitel 16.3).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Ismailische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind, leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – an (LIB, Kapitel 16.3).

Im Laufe des Jahres 2109 setzte der ISKP Angriffe gegen schiitische, vorwiegend aus der Hazara Gemeinschaften, fort. Beispielsweise griff der ISKP einen Hochzeitssaal in einem vorwiegend schiitischen Hazara-Viertel in Kabul an; dabei wurden 91 Personen getötet, darunter 15 Kinder und weitere 143 Personen verletzt wurden. Zwar waren unter den Getöteten auch Hazara, die meisten Opfer waren Nicht-Hazara-Schiiten und Sunniten. Der ISKP nannte ein sektiererisches Motiv für den Angriff. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB, Kapitel 16.3).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (LIB, Kapitel 16.3).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (LIB, Kapitel 16.3).

1.3.5. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Außerdem wurde Afghanistan für den Zeitraum 2018-2020 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog. Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge – zum Teil mit Vorbehalten – unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken in Anliegen von Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen den Zugang der Bürger zu Justiz ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.3.6. RückkehrerInnen

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).

2. Beweiswürdigung

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt und durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung. Als Beweismittel ebenso relevant sind die Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahme vor der belangten Behörde, der Beschwerdeschriftsatz, die angeführten Länderinformationsquellen mit den darin enthaltenen, bei den Feststellungen näher zitierten Berichten und die Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 09.12.2017.

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zu seinen Sprachkenntnissen, seinem Familienstand, seiner Familie und seinem Lebenslauf, gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben sowie auf die Kenntnis und Verwendung der Sprache Farsi und den vorgelegten ÖSD Zertifikat Deutsch B2. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Die Feststellung zum Aufenthalt des Bruders in Österreich ergibt sich unstrittig aus dem Akt und wurde eine gemeinsame mündliche Verhandlung durchgeführt.

Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt und die Ausreise bzw. Reiseroute aus den diesbezüglich stringenten Angaben des Beschwerdeführers im behördlichen Verfahren.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergeben sich aus den im Akt vorhandenen medizinischen Unterlagen, insbesondere das Auskunftsschreiben über die psychologische Behandlung vom 22.11.2017 und dem Bericht der Jugendambulanz des SKH Diakonie Zentrum Spattstraße vom 06.11.2017.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer brachte als fluchtauslösendes Ereignis im Wesentlichen vor, dass er in Iran geboren und aufgewachsen sei, weil es Streitigkeiten zwischen seinem Vater und einem Verwandten gegeben haben soll und dieser Streit würde heute noch anhalten, sodass er bei einer Rückkehr bedroht werden würde. Zudem sei er einmal nach Afghanistan abgeschoben worden und sei es dabei zu traumatischen Erlebnissen gekommen. Des Weiteren sei er Hazar und Schiite, und werde bereits aus diesen Gründen bei einer Rückkehr verfolgt.

Zudem kam im späteren Verlauf des Verfahrens hinzu, dass er behauptete vom Islam abgefallen zu sein und sich nunmehr keiner Religion zugehörig zu fühlen.

Bei den vorgebrachten Grundstücksstreitigkeiten der Eltern des Beschwerdeführers handelt es sich um eine private Angelegenheit, die nicht dem Staat Afghanistan zuzurechnen ist, weswegen keine staatliche Gefahr droht. Zudem verfügt Afghanistan grundsätzlich über ein Justiz- und Polizeiwesen. Der Beschwerdeführer konnte auch keine konkrete Gefährdungsgeschichte vorbringen, vielmehr machte er lediglich sehr oberflächliche und vage Angaben über einen Vorfall der mehrere Jahre (ca. 20 Jahre!!) zurückliegen soll (Verhandlungsprotokoll, Seite 15: „R: Welche konkrete Bedrohung gegen Ihre Person würden Sie jetzt befürchten, wenn Sie nach Afghanistan zurückkehren müssten? BF2: Der Feind eines Vaters ist auch mein Feind. Außerdem kenne ich dort niemanden und habe dort auch keinen. Aus religiöser Sicht besteht dort auch eine Gefahr. Besonders jetzt wo ich den Islam verlassen habe, ist es noch gefährlicher.“). Daraus konnte – auch in Hinblick der fehlenden Aktualität – für sich keine Bedrohung für den Beschwerdeführer abgeleitet werden und handelt es sich hierbei um bloße Mutmaßungen oder Vermutungen, ohne nachvollziehbarer Verfolgungsgefahr.

In der mündlichen Verhandlung machte der Beschwerdeführer auch auf Frage nach Bedrohungsbefürchtungen in Afghanistan keine Ausführungen zu den im behördlichen Verfahren vorgebrachten Vorfall einer Entführung im Zuge der Abschiebung von Iran nach Afghanistan. Es wird davon ausgegangen, dass dieser Aspekt des Vorbringens des fluchtauslösenden Grundes nicht aufrecht erhalten wurde, weshalb diesbezüglich keine Feststellungen getroffen wurden. Der allgemeinen Angabe, dass er in Afghanistan niemanden kennen würde ist jedenfalls keine konkrete und individuelle Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers ableitbar.

Das dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt droht, gründet auf die diesbezüglichen Länderfeststellungen. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer dahingehend kein weiteres Vorbringen in der mündlichen Verhandlung erstattet hat und es sonst auch nur abstrakt, gestützt auf mittlerweile nicht mehr aktuellen Länderinformationen in der Beschwerde ohne darüberhinausgehende individuelle Anhaltspunkte vorgebracht hat.

Betreffend den Glaubensabfall ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer dies erst am Tag der mündlichen Verhandlung (bzw einen Tag zuvor), wie auch sein Bruder vorbrachte. Er wusste, dass ein Verfahren beim ho Gericht seit mindestens Dez 2017 anhängig ist und hat es unterlassen diesen wichtigen Aspekt rechtzeitig mitzuteilen. Schon alleine, dass er die letzte denkbare Möglichkeit nimmt, um noch „in der letzten Sekunde“ den Abfall darzulegen, zeigt, dass es sich wohl nicht um einen ernsthaften und aus inneren Entschluss getroffenen Glaubensabfall handelt. Würde er tatsächlich abgefallen sein, so würde er wohl diesen Umstand früher, gemeinsam mit den sonst eintreffenden Integrationsdokumenten vorlegen. Dies hat er unterlassen und so das Gericht aus seiner Sicht vor vollendeten Tatsachen gestellt.

Jedoch auch inhaltlich konnte er in keiner Weise glaubhaft einen Glaubensabfall darlegen. Einerseits brachte er vor, in Iran ein religiöser Mensch gewesen zu sein und auch als er in Österreich angekommen war, habe er versucht seine Religion, den Islam zu praktizieren. Nunmehr habe er zu arbeiten angefangen und glaube nicht mehr an den Islam, weil er mit seinen Kollegen darüber diskutiert habe. Auffallend war in diesem Zusammenhang, dass er wortgleich wie sein Bruder angab, den Islam als Druck empfunden zu haben und es dadurch zu der Hinterfragung seines Glaubens gekommen sei.

Betreffend die Gründe für den Abfall vom Islam und seiner aktuellen inneren Glaubensüberzeugung machte der Beschwerdeführer lediglich nur sehr allgemeine und oberflächliche Angaben. So erklären mögliche Schwierigkeiten im Alltag den Islam zu praktizieren und die Ansicht an den Islam nicht „halbherzig“ glauben zu wollen, nicht nachvollziehbar einen ernsthaften und aus inneren Entschluss getroffenen Glaubensabfall (Verhandlungsprotokoll, Seite 13 f: „R: Sie spürten also auch einen gewissen Druck vom Islam, also sind Sie deswegen vom Glauben abgefallen? BF2: Ja, deswegen. Ich kann sowieso alle Gebote und Verbote des Islam hier nicht praktizieren. Wer würde mir eine Extra-Pause geben, dass ich das Gebet verrichte? Es ist immer besser ehrlich zu sein, als heuchlerisch. R: Hätten Sie nicht einfach Muslim sein können, die Gebote des Islam nicht genau folgen müssen. Wäre das nicht denkbar gewesen? BF2: Darüber habe ich bis jetzt nicht nachgedacht. Ich wollte nicht heuchlerisch sein und deswegen habe ich die Religion beiseitegeschoben und bin der Meinung, dass ich keiner Religion angehöre. R: Sie meinen wenn Islam dann Voll-Islam oder? BF2: Ich denke so, wenn man sich einer Religion anschließt oder an etwas glaubt, dann müsste man sich anderen Verbote und Gebote halten.“) Auch die Angaben des Beschwerdeführers Schweinefleisch gegessen zu haben und ab und zu Alkohol bei Firmenfeiern getrunken zu haben reichen ebenfalls nicht aus den Glaubensabfall substantiiert darzulegen.

Aus den bloß allgemeinen genannten Alltagsschwierigkeiten den Islam zu praktizieren oder religiösen Verpflichtungen nachzukommen und vagen, oberflächlichen Gründe für den Abfall vom Islam, kommt der Richter zur Ansicht, dass der Beschwerdeführer nicht spezifisch gegen den Islam oder Religion generell auftritt und hat auch keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet werden würden. Eine ernsthafte und tiefergehende Auseinandersetzung mit seinem Glauben und einhergehend die Gründe für einen Glaubensabfall konnte der Beschwerdeführer nicht nachvollziehbar und damit auch nicht glaubwürdig darlegen, weshalb das erkennende Gericht keinen Glaubensabfall festgestellt hat. Er - und sein Bruder – wählten in der allerletzten Sekunde den Konversionsgrund um einen möglichen tragfähigen Asylgrund aufzubereiten, dem jedoch der wahrhaftige und ehrliche Kern fehlt.

Die Feststellungen hinsichtlich einer nicht bestehenden Gefährdung des Beschwerdeführers aufgrund seines mehrjährigen Aufenthalt in Iran, seiner Asylantragstellung sowie seines mehrjährigen Europaaufenthalts beruhen auf den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten bzw. wurde vom Beschwerdeführer auch keine über die oben dargestellten Fluchtgründe hinausgehende drohende Verfolgung substantiiert vorgebracht.

Zusammengefasst waren sämtliche Angaben des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit seinen fluchtauslösenden Gründen sowie seines Nachfluchtgrundes und einer bestehenden Verfolgungsgefahr bei der Rückkehr nach Afghanistan sehr vage, oberflächlich, nicht nachvollziehbar, abstrakt, stützten sich auf bloße Vermutungen und daher letztlich unglaubwürdig. Der Beschwerdeführer hat somit mit seinem Vorbringen insgesamt keine konkreten Erlebnisse oder (schlechte) Erfahrungen vorgebracht, welche eine besondere Gefährdung seiner Person tatsächlich nahelägen würden und deshalb war folglich festzustellen, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt war oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr zu befürchten hätte.

2.3.    Zu den Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell.

Die notorischen Richtlinien von UNHCR (Richtlinien vom 30.08.2018) und EASO (Country Guidance von Juni 2019) wurden ausreichend berücksichtigt (vgl. zur Indizwirkung von UNHCR-Richtlinien vgl. auch VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118).

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich durch Einsichtnahme in die jeweils verfügbaren Quellen (u.a. laufende Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation) davon versichert, dass zwischen dem Stichtag der herangezogenen Berichte und dem Entscheidungszeitpunkt keine wesentliche Veränderung der Sicherheitslage in Afghanistan eingetreten ist. Die in der Beschwerde zitierten Länderberichte sind durch die aktuellen, in den Feststellungen zitierten Länderinformationen überholt.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1.    Zu A) Abweisung der Beschwerde

3.1.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

§ 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1.         dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2.         der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

…“

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Die Gefahr der Verfolgung im Sinne des § 3 Abs 1 AsylG 2005 iVm Art 1 Abschnitt A Z 2 der GFK kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl zB VwGH 23.02.2017, Ra 2016/20/0089).

Anwendung auf den konkreten Fall:

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan nicht bedroht. Da der vom Beschwerdeführer geschilderte Vorfall mit seinen Eltern in Zuge von Grundstücksstreitigkeiten ca. zwanzig Jahre zurückliegt und auch nicht glaubwürdig ist, droht dem Beschwerdeführer aus diesem Grund auch keine Gefahr durch die Verwandten bei einer Rückkehr nach Afghanistan.

Wie in der Beweiswürdigung dargelegt ist es dem Beschwerdeführer auch nicht gelungen einen Abfall vom bisherigen Glauben darzulegen.

Es liegt beim Beschwerdeführer keine Verfolgungsgefahr aus einem Konventionsgrund vor.

Auch eine konkrete individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der Religionsgemeinschaft der Schiiten wurde nicht festgestellt.

So stellen die (schiitischen) Hazara in Afghanistan zwar eine Minderheit dar, sie sind aber rechtlich den anderen Bevölkerungsgruppen gleichgestellt. Sie bekleiden politische Funktionen und können ihre Interessen aus eigener Kraft politisch wahren. Ihr Anteil in den Sicherheitskräften Afghanistans entspricht ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Sie dürfen als Schiiten ihre Religion ausüben.

Den oben zitierten Länderberichten ist u.a. aber auch zu entnehmen, dass Schiiten – speziell jene, die der Volksgruppe der Hazara angehören – Diskriminierungen durch die sunnitische Mehrheit in Form von illegaler Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Festnahmen ausgesetzt sind. Auch wenn die Intensität der Übergriffe auf Hazara asylrelevant sein können, erreicht die in Afghanistan immer wieder bestehende Diskriminierung der schiitischen Hazara und die beobachtete Zunahme von Übergriffen gegen Hazara gegenwärtig jedoch nicht ein Ausmaß, das die Annahme rechtfertigen würde, dass in Afghanistan lebende schiitische Hazara wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen und religiösen Minderheit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätten, zumal die Gefährdung dieser Minderheit angesichts der in den Länderberichten dokumentierten allgemeinen Gefährdungslage in Afghanistan, die in vielen Regionen für alle Bevölkerungsgruppen ein erhebliches Gefahrenpotential mit sich bringt, (derzeit) nicht jenes zusätzliche Ausmaß erreicht, welches notwendig wäre, um eine spezifische Gruppenverfolgung der Hazara anzunehmen. Eine Gruppenverfolgung ist auch nicht daraus ableitbar, dass Hazara allenfalls Opfer krimineller Aktivitäten werden oder schwierigen Lebensbedingungen ausgesetzt sind. Auch die EASO Leitlinien 2019 halten dazu fest, dass allein die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara im Allgemeinen nicht zu einem Risikolevel führt, welches für sich genommen bereits wohlbegründete Furcht vor Verfolgung begründet. Diese kann sich – vorbehaltlich der konkreten Umstände des Einzelfalles – im Zusammentreffen mit anderen Risikoprofilen ergeben. Ein solches Risiko ist im Verfahren jedoch nicht hervorgekommen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara – unbeschadet der schlechten Situation für diese Minderheit – nicht dazu führt,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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