TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/19 W139 2139936-2

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Veröffentlicht am 19.11.2020
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Entscheidungsdatum

19.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


W139 2139936-1/42E

W139 2139936-2/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, 1.) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , und 2.) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

Zu 1.)

A)
Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Zu 2.)

A)

I. Der Beschwerde wird gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von zwei Jahren erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 11.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       In seiner Erstbefragung am 11.06.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, er habe sein Herkunftsland verlassen, weil seine Schwester von einem mächtigen Kommandanten in seiner Heimatregion zwangsverheiratet hätte werden sollen und sein Vater sei, nachdem er sich dagegen widersetzt habe, von dem Kommandanten umgebracht worden. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben.

3.       Mit Verfahrensanordnung stellte die belangte Behörde am 14.10.2015, nachdem der Beschwerdeführer einer Altersfeststellung unterzogen wurde, den XXXX als Geburtsdatum für das Mindestalter fest. Der Beschwerdeführer war bei der Antragstellung XXXX Jahre alt.

4.       Am 07.10.2016 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Er gab im Wesentlichen an, er habe in Afghanistan gemeinsam mit seiner Familie, dem Vater, der Mutter zwei Schwestern und einem Bruder, von der Landwirtschaft gelebt. Er habe jetzt keine Familienangehörigen mehr in Afghanistan. Die Familie des Beschwerdeführers sei, als dieser XXXX alt war für XXXX Jahre lang in den Iran gezogen. Als der Beschwerdeführer XXXX Jahre alt war, seien sie zurück nach Afghanistan abgeschoben worden. Sie seien dann wieder in die Herkunftsprovinz gekehrt und haben XXXX Jahre lang in Afghanistan gelebt, bis der Kommandant – ein Taliban - die ca. drei Jahre ältere Schwester des Beschwerdeführers habe heiraten wollen. Der Vater des Beschwerdeführers sei dagegen gewesen und aus diesem Grund bei dem zweiten Besuch des Taliban-Kommandanten im Haus der Familie des Beschwerdeführers getötet worden. Der Beschwerdeführer sei damals ca. XXXX Jahre alt gewesen. Die Taliban hätten seine Familie damit bedroht, alle umzubringen, wenn sie die Familie nochmals sehen würden. Die Mutter des Beschwerdeführers sei dann mit dem Beschwerdeführer und seinen Geschwistern in den Iran geflüchtet. Dort hätten sie in XXXX gelebt und in der Landwirtschaft gearbeitet. Im Jahr XXXX sei der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinem Bruder aus dem Iran ausgereist, von diesem sei er auf der Flucht aber getrennt worden. Einmal wöchentlich würde der Beschwerdeführer momentan mit seiner Familie im Iran telefonieren. Er würde in Österreich bleiben und als XXXX arbeiten wollen. In Afghanistan sei er aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit der Hazara von den Taliban in seinem Bezirk benachteiligt worden. Er habe den Iran verlassen, da ihn die iranischen Behörden sonst in den Krieg geschickt hätten.

Der Beschwerdeführer legte ein Konvolut an Unterlagen im Original vor: Bestätigung über die Teilnahme am Deutschkurs Niveau A1.1, Graz am 4.4.2016; Bestätigung über die Teilnahme am Deutschkurs Niveau A1.2, Graz am 6.7.2016; Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs für Jugendliche seit Oktober 2015 XXXX , 18.7.2016; Bestätigung der Teilnahme am sozialpädagogischen Projekt XXXX , Graz am 4.10.2016; Bestätigung über die Teilnahme an einem integrativen Medienworkshop, XXXX , Graz, 8.9.2016; Bestätigung über die Teilnahme an einem Nähkurs XXXX , Graz, 5.10.2016; ein Unterstützungsschreiben des Vereins XXXX vom 6.10.2016.

5.       Mit Bescheid vom XXXX , der dem Beschwerdeführer am 20.10.2016 zugestellt wurde, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 3 Abs. 1 ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) Gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 wurde ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.10.2017 erteilt (Spruchpunkt III.).

Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten stellte die belangte Behörde fest, der Beschwerdeführer sei als Afghane, der einen großen Teil seines Lebens im Iran gelebt hat, in seinem Heimatland Afghanistan keiner individuellen und aktuellen Bedrohung oder Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten ausgesetzt gewesen bzw. habe er eine diesbezügliche Bedrohung oder Verfolgung nicht glaubhaft gemacht.

Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten stellte die Behörde fest, der Beschwerdeführer würde sich im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in einer aussichtslosen Lage befinden. Bei dem Beschwerdeführer handle es sich zwar um einen gesunden jungen Mann, dem grundsätzlich die Teilnahme am Erwerbsleben zugemutet werden könne, weil sich seine Familie aber im Iran befinde, hätte er in Afghanistan keinerlei Anknüpfungspunkte.

6.       Mit Verfahrensanordnung vom 16.10.2016 wurde dem Beschwerdeführer ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

7.       Am 04.11.2016 brachte der Beschwerdeführer – fristgerecht – Beschwerde gegen den genannten Bescheid ein. Er beantragte die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, in eventu die Behebung des Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides und die Zurückverweisung, sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. In der Beschwerde wurde vorgebracht, der Beschwerdeführer sei aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe seiner Familie der Gefahr einer individuellen Verfolgung ständig ausgesetzt, da der Kommandant der Taliban in seinem Herkunftsort damit drohte, sämtliche Mitglieder der Familie des Beschwerdeführers zu töten. Die Gefahr bestehe auch bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan. Außerdem sei aufgrund der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur Volksgruppe der Hazara sein Leben auch in anderen Teilen Afghanistans in Gefahr und es bestehe somit keine innerstaatliche Schutzalternative.

8.       Am 07.08.2017 stellte der Beschwerdeführer bei der belangten Behörde einen Antrag auf Verlängerung der subsidiären Schutzberechtigung gemäß § 8 AsylG 2005.

9.       Mit Bescheid der belangten Behörde vom XXXX der dem Beschwerdeführer am 31.10.2017 zugestellt wurde, wurde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 bis zum 15.10.2019 erteilt.

10.      Am 06.12.2017 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi statt, bei welcher der Beschwerdeführer, im Beisein seines Rechtsvertreters, einvernommen wurde. Ein Vertreter der belangten Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern.

In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurden folgende Unterlagen vom Beschwerdeführer vorgelegt: eine Bestätigung der XXXX über die Teilnahme des Beschwerdeführers an einer sechsmonatigen Berufsvorbereitung im Umfang von 32 Wochenstunden, vom 05.12.2017; ein Prüfungszeugnis über einen bestandenen Deutsch Test Stufe A2 des ÖIF vom 05.10.2017; ein Zertifikat über die Teilnahme an diversen Sportangeboten XXXX vom 20.06.2017; ein Informationsschreiben XXXX die der Beschwerdeführer am 12.12.2017 beginnen wird.

Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer u.a. ausführlich zu seiner Identität und Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen persönlichen Verhältnissen und seinem Leben in Afghanistan und im Iran, seinen Familienangehörigen und seinen Fluchtgründen befragt.

Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017

11.      Mit Schreiben vom 29.12.2017 wurde dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde durch das erkennende Gericht eine am 21.12.2017 aktualisierte Kurzinformation der Staatendokumentation übermittelt und eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

12.      Mit Schreiben vom 05.02.2018 wurde dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde durch das erkennende Gericht eine am 30.01.2018 aktualisierte Kurzinformation der Staatendokumentation übermittelt und eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

13.      Am 12.06.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari bzw. Farsi statt, bei welcher der Beschwerdeführer, im Beisein seines Rechtsvertreters, einvernommen wurde. Ein Vertreter der belangten Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In Ergänzung der bereits aktenkundigen Unterlagen wurde vom Beschwerdeführer ein Konvolut an Unterlagen vorgelegt: eine vorläufige Schulbesuchsbestätigung der XXXX vom 06.06.2019; eine XXXX Mitteilung vom 01.02.2019 XXXX ; ein Schreiben des XXXX vom 15.04.2019; eine Teilnahmebestätigung XXXX ; eine Ausbildungsvereinbarung im Rahmen einer Stiftung vom 18.01.2019 inkl. Bestätigung der XXXX vom 26.11.2018; ein Zeiterfassungsbogen vom November 2018, ein Zertifikat - Prüfdatum 12.07.2018 inkl. Schreiben; eine Kopie des XXXX ; eine Ausbildungsbestätigung vom 14.06.2018 – XXXX ; eine Teilnahmebestätigung der Ausbildung im Bereich XXXX vom 12.07.2018.

Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: Es wurde auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 als weitere Erkenntnisquellen sowie auf ein Gutachten von SV Mina ASEF-HAMEED zur Blutrache im Verfahren W156 1428648-1 und auf die ACCORD-Anfragebeantwortung vom 01.07.2017 Rückkehrern aus Europa etc. verwiesen.

14.      Mit Schreiben vom 02.05.2019 wurde dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde durch das erkennende Gericht das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, vom 29.06.2018 mit einer integrierten Kurzinformation vom 26.03.2019 übermittelt, und eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

15.      Am 30.07.2019 stellte der Beschwerdeführer bei der belangten Behörde einen Antrag auf Verlängerung der subsidiären Schutzberechtigung gemäß § 8 AsylG 2005.

16.      Am 23.10.2019 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde einvernommen. Er gab an, er habe in Österreich Deutschkurse besucht, gearbeitet sowie die Berufsschule besucht. Momentan mache er eine Lehre und arbeite. Seine Mutter und seine zwei Schwestern würden im Iran leben und er würde für sie sorgen. Er habe keinen Kontakt in Afghanistan. Der Beschwerdeführer gab weiter an, in Österreich in einer Mietwohnung zu leben. Er gab an, bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde ihm Verfolgung durch den Kommandanten, der seinen Vater ermordet habe, drohen.

17.      Mit Bescheid vom 29.11.2019, der dem Beschwerdeführer am 03.12.2019 zugestellt wurde, erkannte die belangte Behörde den dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 16.10.2016 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs 1 AsylG 2005 von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.), entzog ihm die mit Bescheid vom 16.10.2016 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs 4 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG iVm § 52 Abs. 2 Z 4 FPG 2005 (Spruchpunkt (IV.) und stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Zur Aberkennung des Status des subsidiären Schutzberechtigten führte die belangte Behörde aus, die Lage habe sich für den Beschwerdeführer als jungen, gesunden arbeitsfähigen, alleinstehenden Mann in Mazar-e-Sharif oder Herat geändert, sodass eine Rückkehr für ihn nun möglich sei.

Die belangte Behörde stellte kein schützenswertes Familien- oder Privatleben des Beschwerdeführers in Österreich fest.

Des Weiteren wurde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.

18.      Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 19.12.2019 fristgerecht Beschwerde. In der Beschwerde brachte er vor, er habe keine Verwandten mehr in Afghanistan, sein Vater sei von den Taliban ermordet worden, sein Bruder auf der Flucht verschollen und seine Mutter und Schwester seien in den Iran geflohen. Bei einer Rückkehr könne ihn seine Familie im Iran nicht unterstützen. Er habe seit zehn Jahren keinerlei Kontakte mehr zu Afghanistan. Die Unterstützung und Rückkehrhilfen in Afghanistan seien rudimentär. Der Arbeitsmarkt in Afghanistan sei nicht mit jenem in Österreich vergleichbar, er würde auch als junger Mann keine Arbeit finden. Eine Abschiebung würde die Lehre unterbrechen, die er momentan absolviere. Er würde als schiitischer Hazara in Afghanistan einer Minderheit angehören, die Diskriminierung ausgesetzt sei. Es bestünde die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Beschwerdeführers. Er betonte seine bereits in Österreich gesetzten Integrationsbemühungen.

Der Beschwerdeführer legte mit der Beschwerde eine Schulbesuchsbestätigung der XXXX vom 27.06.2019 und eine Ausbildungsvereinbarung vom 18.01.2019 sowie ein Unterstützungsschreiben seines Arbeitgebers vom 12.12.2019, in dem das Engagement, die Wichtigkeit des Beschwerdeführers als Lehrling in einem Beruf in welchem Fachkräftemangel herrsche, sowie seine Integration hervorgehoben werden, vor.

19.      Mit Schreiben vom 28.02.2020 wurde dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde durch das erkennende Gericht das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, vom 13.11.2019 übermittelt und eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

20.      Am 26.05.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, bei welcher der Beschwerdeführer, im Beisein seines Rechtsvertreters, einvernommen wurde. Ein Vertreter der belangten Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. Außerdem wurden zwei Vertrauenspersonen des Beschwerdeführers und der Arbeitgeber des Beschwerdeführers als Zeugen einvernommen.

Im Rahmen der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer u.a. ausführlich zu seinen persönlichen Verhältnissen und seinem Leben in Afghanistan und im Iran, seinen Familienangehörigen, seinen Fluchtgründen, seiner Situation im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan und zu seinem Leben in Österreich befragt.

Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in das Verfahren ein: einen EASO Bericht zu Afghanistan, Soziökonomische Schlüsselindikatoren, vom April 2019 sowie das aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 18.05.2020. Weiters wurde auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie auf die Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, vom Dezember 2016 als weitere Erkenntnisquellen verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari beziehungsweise Farsi. Er ist nicht verheiratet und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde am XXXX geboren und stammt aus dem Dorf XXXX , in der Provinz XXXX in Afghanistan, wo er gemeinsam mit seiner Familie in seinem ersten Lebensjahr gelebt hat. Danach zog seine Familie in den Iran, in XXXX , wo sie sieben Jahre lang lebte und in der Folge wieder nach Afghanistan in den Geburtsort des Beschwerdeführers zurückkehrte. Dort lebte der Beschwerdeführer mit seiner Familie drei Jahre lang bis sie erneut in den Iran zurückkehrten. Nach ca. fünf Jahren verließ er den Iran in Richtung Europa.

Die Familie des Beschwerdeführers umfasste neben ihm, seinen Vater, der bereits verstorben ist, seinen Bruder, den er bei der Reise nach Europa aus den Augen verloren hat, sowie seine Mutter, seine ältere Schwester und seine Zwillingsschwester, die gemeinsam im Iran, in XXXX leben.

Der Beschwerdeführer hat regelmäßig telefonischen Kontakt mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern im Iran.

Die Lebensverhältnisse unter denen der Beschwerdeführer und seine Familie in Afghanistan und im Iran lebten waren sehr schlecht. Der Vater erwirtschaftete den Lebensunterhalt in Afghanistan in der Landwirtschaft auf einem eigenen Grundstück, im Iran arbeitete er als Lohnarbeiter.

Das Grundstück der Familie wurde von der Mutter des Beschwerdeführers verkauft bevor sie erneut in den Iran gingen.

Der Beschwerdeführer besuchte weder in Afghanistan noch im Iran eine Schule. Er machte in Österreich Vorbereitungskurse für eine Lehrstelle und absolviert momentan eine Lehre. In Afghanistan und im Iran half er seiner Mutter bei der Viehzucht.

Der Beschwerdeführer erlernte eigenständig Farsi und kann in dieser Sprache lesen und schreiben. Der Beschwerdeführer kann sich auf Deutsch verständigen.

Im Sommer 2015 verließ der Beschwerdeführer, gemeinsam mit seinem Bruder, von dem er auf dem Weg getrennt wurde, den Iran und stellte am 11.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.1.2   Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan aktuell physische oder psychische Gewalt, Strafverfolgung oder andere erhebliche Eingriffe durch staatliche Organe oder Private, speziell durch die Taliban oder den Kommandanten der Taliban aus seinem Herkunftsort, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung, drohen. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass aufgrund persönlicher Merkmale des Beschwerdeführers eine besondere Gefährdung seiner Person besteht bzw. bestehen könnte.

1.1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer stellte am 11.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er lebt seit ca. fünf Jahren in Österreich. Er hält sich seit der Antragstellung durchgehend in Österreich auf und ist hier strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine leiblichen Familienangehörigen.

Er führt mit einem österreichischen Staatsbürger eine familienähnliche Vater-Sohn-Beziehung.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich eine Lebensgefährtin. Der Beschwerdeführer hat ein gutes Verhältnis zu den Eltern seiner Lebensgefährtin.

Der Beschwerdeführer nimmt am sozialen und gesellschaftlichen Leben in Österreich aktiv und in umfangreicher Weise teil. Er arbeitete ehrenamtlich für ein Tierheim, er absolvierte zahlreiche Deutschkurse, nahm an einem sozialpädagogischen Projekt, an einem integrativen Medienworkshop, an einem Nähkurs, an einer sechsmonatigen Berufsvorbereitung, an diversen Sportangeboten des Instituts der Sportwissenschaft der XXXX , und einem Integrationskurs teil. Er hat viele österreichische Staatsbürger als Freunde.

Der Beschwerdeführer spricht gut Deutsch. Er absolvierte am 05.10.2017 einen Deutsch Test der Stufe A2 des ÖIF.

Derzeit absolviert der Beschwerdeführer eine Lehre zum XXXX , mit der er im Februar 2019 begann und die er voraussichtlich im März 2021 abschließen wird. Er hat sich in dem Betrieb, in dem er tätig ist, ausgezeichnet integriert. Für die Zeit nach der absolvierten Lehre hat er eine Einstellungszusage. Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich eine sechsmonatige Berufsvorbereitung und zahlreiche Kurse und Ausbildungen: er absolvierte eine Ausbildung XXXX .

Der Beschwerdeführer bezieht aktuell keine Leistungen aus der Grundversorgung.

1.1.4. Zur aktuellen Situation im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers:

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan (insbesondere in den urbanen Gebieten) wird festgestellt, dass sich die Umstände, welche zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt haben, seit der letzten Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid vom 23.10.2017 und seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten am 16.10.2016 insgesamt nicht maßgeblich und nachhaltig verändert bzw. verbessert haben. Zu dieser Feststellung gelangt das Bundesverwaltungsgericht ungeachtet der aktuellen Situation aufgrund der COVID-19 Pandemie und insbesondere deren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung.

So würde dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz XXXX aufgrund der dort, nach wie vor, herrschenden volatilen Sicherheitslage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit unverändert ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Die allgemeine Sicherheitslage und Versorgungssituation in gesamt Afghanistan hat sich, wie die nachfolgenden Länderfeststellungen zeigen, seit der Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung am 23.10.2017 nicht verbessert (siehe II. 1.2.).

Der Beschwerdeführer hat nach wie vor keine Kontakte bzw Anknüpfungspunkte in Afghanistan und verfügt mangels entsprechenden Netzwerkes über keinerlei soziale oder familiäre Unterstützung in den von der belangten Behörde genannten Städten, Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif. Die Familie des Beschwerdeführers, bestehend aus der Mutter und zwei Schwestern, befindet sich weiterhin im Iran. Er hat regelmäßig Kontakt mit dieser, er könnte bei einer Rückkehr jedoch nicht von seiner Familie unterstützt werden.

Ein maßgeblicher Gewinn an Reife und Lebenserfahrung ist zwischen dem Alter des Beschwerdeführers von XXXX Jahren bei der Zuerkennung des Status des subsidiären Schutzberechtigten und von XXXX Jahren bei der Verlängerung dieses Status und seinem Alter von XXXX Jahren bei der Aberkennung nicht auszumachen.

Der Beschwerdeführer absolviert zwar nunmehr eine Lehre als XXXX , er hat allerdings bei einer Rückkehr mit dieser spezialisierten und im Übrigen auch noch nicht abgeschlossenen Ausbildung keine besseren Chancen bei der Erwirtschaftung des Lebensunterhaltes vor Ort als mit den gesammelten Erfahrungen in der Landwirtschaft, weshalb vor dem Hintergrund der Sicherheitslage und der wirtschaftlichen Situation in Afghanistan nicht gewährt werden kann, dass er selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen wird können.

Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:

?        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30. August 2018

?        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, Stand 18.05.2020

1.2.1. Zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender aus den UNHCR- RICHTLINIEN vom 30.08.2018:

“(…)

3. Interne Schutzalternative (IFA/IRA)

Im Lichte der vorliegenden Beweise von schwerwiegenden und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) in Gebieten unter deren wirksamer Kontrolle und der Unfähigkeit des Staates, für Schutz vor derartigen Verletzungen in diesen Gebieten zu sorgen, ist nach Ansicht von UNHCR eine interne Schutzalternative in Gebieten des Landes, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) befinden, nicht gegeben. Hinsichtlich Personen, die über zuvor hergestellte Verbindungen zur Führung der regierungsfeindlichen Kräfte (AGEs) im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfügen, kann eventuell im Ausnahmefall anderes gelten.

UNHCR ist der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative auch in den von aktiven Kampfhandlungen zwischen regierungsnahen und regierungsfeindlichen Kräften oder zwischen verschiedenen regierungsfeindlichen Kräften betroffenen Gebieten nicht gegeben ist.

Ausführlichere Anleitungen zur Beurteilung der Verfügbarkeit einer internen Schutzalternative in Teilen Afghanistans, die weder von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden, noch Schauplatz aktiver Kampfhandlungen sind, finden sich in den Abschnitten III.C.1 (Analyse der Relevanz) und III.C.2 (Analyse der Zumutbarkeit) der vorliegenden Richtlinien.

Im konkreten Fall von Kabul als einer vorgeschlagenen internen Schutzalternative, sieht UNHCR folgende Leitlinien vor (siehe Abschnitt III.C.4). Zur Beurteilung der Relevanz von Kabul als möglicher interner Schutzalternative und insbesondere des Risikos, dass der Betroffene einer tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens – einschließlich einer schwerwiegenden Gefahr für Leben, Sicherheit, Freiheit oder Gesundheit, oder schwerer Diskriminierung – ausgesetzt wäre, müssen die Entscheidungsträger die negativen Trends in Bezug auf die Sicherheitslage für Zivilisten in Kabul gebührend berücksichtigen. Von besonderer Bedeutung ist hier der Jahresbericht der UNAMA vom Februar 2018 über den Schutz von Zivilpersonen, in dem es heißt, dass die Mission 2017 „wieder Höchstwerte im Hinblick auf die Zahl ziviler Opfer in der Provinz Kabul dokumentierte, die vor allem auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren. Von den in der Provinz Kabul registrierten 1 831 zivilen Opfern (479 Tote und 1 352 Verletzte) resultierten 88 Prozent aus Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) in der Stadt Kabul”. UNAMA berichtete, dass die Zahl der 2017 durch Selbstmordanschläge und komplexe Angriffe in der Stadt Kabul ums Leben gekommenen oder verletzten Zivilisten 70 Prozent aller 2017 dokumentierten zivilen Opfer solcher Angriffe in Afghanistan ausmachte.

UNHCR stellt fest, dass Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt bestehenden Gefahr zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.

Zur Beurteilung der Zumutbarkeit von Kabul als vorgeschlagener interner Schutzalternative muss festgestellt werden, dass die Person Zugang zu Folgendem hat:

(i) einer Unterkunft;

(ii) grundlegender Versorgung, wie Trinkwasser, sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung;

(iii) Lebensgrundlagen oder erwiesener und nachhaltiger Unterstützung, um einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen.

Maßgebliche Informationen, die die Entscheidungsträger diesbezüglich zu berücksichtigen haben, sind unter anderem die schwerwiegenden Bedenken, die Akteure der humanitären Hilfe und Entwicklungsarbeit hinsichtlich der begrenzten Aufnahmekapazität Kabuls zum Ausdruck gebracht haben. (…)

Im Hinblick auf die Überlegungen betreffend die Analyse der Relevanz und Zumutbarkeit Kabuls als vorgeschlagener interner Schutzalternative, sowie unter Berücksichtigung der allgemeinen, von Konflikt und Menschenrechtsverletzungen geprägten Lage und deren negativen Auswirkungen auf den größeren sozioökonomischen Kontext, steht UNHCR auf dem Standpunkt, dass eine interne Schutzalternative in Kabul grundsätzlich nicht gegeben ist.“

(…)

Interne Flucht-, Neuansiedlungs- oder Schutzalternative

Ein detailliertes analytisches Rahmenwerk für die Beurteilung der Verfügbarkeit einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsalternative (IFA/IRA), auch als interne Schutzalternative bezeichnet, ist in den „UNHCR-Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 4: ‚Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge?“ enthalten.

Eine Bewertung der Möglichkeiten für eine Neuansiedlung setzt eine Beurteilung der Relevanz und der Zumutbarkeit der vorgeschlagenen internen Schutzalternative voraus. In Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung in einem bestimmten Gebiet des Herkunftslandes nachgewiesen wurde, erfordert die Feststellung, ob die vorgeschlagene interne Schutzalternative eine angemessene Alternative für die betreffende Person darstellt, eine Bewertung, die nicht nur die Umstände berücksichtigt, die Anlass zu der begründeten Furcht gaben und der Grund für die Flucht aus dem Herkunftsgebiet waren. Auch die Frage, ob das vorgeschlagene Gebiet eine langfristig sichere Alternative für die Zukunft darstellt, sowie die persönlichen Umstände des jeweiligen Antragstellers und die Bedingungen in dem Gebiet der Neuansiedlung müssen berücksichtigt werden.

Wenn eine interne Schutzalternative im Zuge eines Asylverfahrens in Betracht gezogen wird, muss ein bestimmtes Gebiet für die Neuansiedlung vorgeschlagen werden und es müssen alle für die Relevanz und Zumutbarkeit des vorgeschlagenen Gebiets im Hinblick auf den jeweiligen Antragsteller maßgeblichen allgemeinen und persönlichen Umstände soweit wie möglich festgestellt und gebührend berücksichtigt werden. Dem Antragsteller muss eine angemessene Möglichkeit gegeben werden, sich zu der angenommenen Relevanz und Zumutbarkeit der vorgeschlagenen internen Schutzalternative zu äußern.

Die Anleitungen in diesem Abschnitt gelten für Überlegungen im Hinblick auf eine interne Schutzalternative im Zusammenhang mit der Feststellung des Bedarfs an internationalem Flüchtlingsschutz im Sinne der GFK (Abschnitt III.A), der Kriterien des erweiterten Mandats von UNHCR (Abschnitt III.B.1a) und der Erklärung von Cartagena (siehe Abschnitt III.B.1c). Die in diesem Abschnitt enthaltenen Anleitungen gelten auch für die Beurteilung einer internen Schutzalternative nach Artikel 8 der Qualifikationsrichtlinie.

Die Abschnitte III.C.1 und III.C.2 enthalten allgemeine Leitlinien für die Anwendung der Kriterien Relevanz und Zumutbarkeit eines als interne Schutzalternative vorgeschlagenen Gebiets in Afghanistan. Abschnitt III.C.3 enthält maßgebliche Überlegungen, die es zu berücksichtigen gilt, sofern es sich bei der vorgeschlagenen internen Schutzalternative um eine afghanische Stadt handelt, während Abschnitt III.C.4 Anleitungen fürden Sonderfall Kabul als vorgeschlagenem Gebiet einer internen Schutzalternative vorsieht.

Die Bewertung einer möglichen internen Schutzalternative ist für die Feststellung des Flüchtlingsstatus nach Artikel I (2) der OAU-Konvention grundsätzlich nicht relevant.

1. Analyse der Relevanz

I. Gebiete in Afghanistan, die keine interne Schutzalternative bieten

Im Lichte der verfügbaren Informationen über schwerwiegende und weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) in den von ihnen kontrollierten Gebieten sowie der Unfähigkeit des Staates, für Schutz vor derartigen Verletzungen in diesen Gebieten zu sorgen, ist UNHCR der Ansicht, dass eine interne Schutzalternative in Gebieten des Landes, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) befinden, nicht gegeben ist, es sei denn in Ausnahmefällen, in denen Antragstellende über zuvor hergestellte Verbindungen zur Führung der regierungsfeindlichen Kräfte (AGEs) im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfügen.

UNHCR ist der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative auch in den von aktiven Kampfhandlungen zwischen regierungsnahen und regierungsfeindlichen Kräften oder zwischen verschiedenen regierungsfeindlichen Kräften betroffenen Gebieten nicht gegeben ist.

II. Prüfung, ob der Antragsteller in dem als interne Schutzalternative vorgeschlagenen Gebiet der ursprünglichen Gefahr der Verfolgung ausgesetzt wäre

Ein als interne Schutzalternative vorgeschlagenes Gebiet wäre nicht relevant, wenn der Antragsteller in diesem Gebiet der ursprünglichen Gefahr der Verfolgung ausgesetzt wäre.

1. Hat der Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung durch den Staat oder in dessen Auftrag handelnde Stellen, ist davon auszugehen, dass Überlegungen hinsichtlich einer internen Schutzalternative nicht relevant sind.

2. Hat der Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung, die von Mitgliedern der Gesellschaft aufgrund schädlicher traditioneller Bräuche und religiöser Normen ausgeht, die Verfolgungscharakter aufweisen, (siehe zum Beispiel die Risikoprofile 7, 10 und 12 in Abschnitt III.A), so muss die Akzeptanz solcher Normen und Bräuche in weiten Teilen der Gesellschaft und die einflussreichen konservativen Elemente auf allen Ebenen der Regierung als ein Faktor in Betracht gezogen werden, der gegen die Relevanz einer internen Schutzalternative spricht. UNHCR vertritt den Standpunkt, dass – verbunden mit den Nachweisen in Abschnitt II.C betreffend die eingeschränkte Fähigkeit des Staates, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten, – davon auszugehen ist, dass die Erwägung einer internen Schutzalternative in diesen Fällen nicht relevant ist.

3. In Fällen, in denen die Verfolgung von regierungsfeindlichen Kräften ausgeht, muss die Relevanz einer vorgeschlagenen Schutzalternative unter Berücksichtigung einer Reihe verschiedener Elemente beurteilt werden.

(i) Geht die Verfolgung von regierungsfeindlichen Kräften aus, muss berücksichtigt werden, ob die Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Akteure den Antragsteller im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfolgen. Angesichts des geografisch großen Wirkungsradius einiger regierungsfeindlicher Kräfte, einschließlich der Taliban und des Islamischen Staates, existiert für Personen, die durch solche Gruppen verfolgt werden, keine interne Schutzalternative.

(ii) Ferner müssen die Nachweise in Abschnitt II.C hinsichtlich der aufgrund ineffektiver Regierungsführung und weit verbreiteter Korruption eingeschränkten Fähigkeit des Staates, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte zu bieten, berücksichtigt werden.

III. Prüfung, ob der Antragsteller in dem als interne Schutzalternative vorgeschlagenen Gebiet neuen Gefahren der Verfolgung oder anderen Form ernsthaften Schadens ausgesetzt wäre

Neben den oben genannten Überlegungen zur ursprünglichen Form der Verfolgung im Heimatgebiet des Antragstellers muss der Entscheidungsträger auch nachweisen, dass der Antragsteller in dem als interne Schutzalternative vorgeschlagenen Gebiet keiner neuen Form der Verfolgung und keinem anderen ernsthaften Schaden – etwa infolge willkürlicher Gewalt – ausgesetzt wäre.

UNHCR stellt in seinen Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 4: „Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative” fest:

„Außerdem kann von einer Person, deren Furcht vor Verfolgung in einem Landesteil aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Grund festgestellt wurde, nicht erwartet werden, dass sie sich in einem anderen Gebiet niederlässt, in dem ebenfalls schwerer Schaden droht. Hätte die Person auch dort schweren Schaden, einschließlich einer schweren Bedrohung ihres Lebens, ihrer Sicherheit, ihrer Freiheit oder ihrer Gesundheit, oder massive Diskriminierung zu gewärtigen, käme eine interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative nicht infrage, und zwar unabhängig davon, ob eine Verbindung zu einem Konventionsgrund besteht oder nicht. Bei der Beurteilung neuer Risiken wäre somit auch ein schwerer Schaden zu berücksichtigen, wie er allgemein unter [erweiterte Flüchtlingskriterien oder] komplementäre Schutzformen fällt.”

Die Prüfung muss auf aktuellen Informationen über die Sicherheitslage in dem als interne Schutzalternative vorgeschlagenen Gebiet beruhen, mit besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen des Konflikts in Afghanistan auf Zivilisten.

IV. Prüfung, ob das als interne Schutzalternative vorgeschlagene Gebiet praktisch, sicher und auf legalem Weg erreichbar ist

Wurde ein Gebiet in Afghanistan ermittelt, das nicht bereits auf Grundlage der oben genannten Überlegungen unter I und II als relevante Flucht- oder Neuansiedlungsalternative ausgeschlossen ist, müsste dennoch geprüft werden, ob das als Flucht- oder Neuansiedlungsalternative ins Auge gefasste Gebiet praktisch, sicher und auf legalem Weg erreichbar ist. Für Afghanistan bedeutet dieses Erfordernis eine Prüfung der konkreten Aussicht auf einen sicheren Zugang zum vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet, unter anderem durch Bewertung der Risiken durch den weitverbreiteten Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) sowie durch Landminen und explosive Kampfmittelrückstände (ERW) im ganzen Land, durch Anschläge und Kämpfe auf Straßen sowie durch Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Zivilisten durch regierungsfeindliche Kräfte.

2. Analyse der Zumutbarkeit

a) Die persönlichen Umstände des Antragstellers

Ob eine Flucht- oder Neuansiedlungsalternative „zumutbar” ist, muss im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Antragstellenden beurteilt werden; maßgebliche Faktoren sind dabei Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, die familiäre Situation und Verwandtschaftsverhältnisse sowie der jeweilige Bildungs- und Berufshintergrund. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer Flucht- oder Neuansiedlungsalternative für Kinder sind die besonderen Umstände sowie die rechtlichen Verpflichtungen des Staates aus der Kinderrechtskonvention zu berücksichtigen – vor allem die Verpflichtung zu gewährleisten, dass das Kindeswohl bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, als vorrangiger Gesichtspunkt beachtet wird, und der Meinung des Kindes entsprechend seinem Alter und seiner Reife angemessen Bedeutung beigemessen wird. Entscheidungsträger müssen gebührend berücksichtigen, dass etwas, das für Erwachsene lediglich lästig ist, für ein Kind unter Umständen eine unzumutbare Härte darstellen kann.

Diesen Überlegungen kommt zusätzliche Bedeutung zu, wenn es sich um unbegleitete und von ihren Eltern getrennte Kinder handelt. Im Fall unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder aus Afghanistan ist UNHCR der Ansicht, dass – über die Unterstützung des Kindes durch seine (erweiterte) Familie oder größere ethnische Gemeinschaft im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet hinaus – bei der Beurteilung der Verfügbarkeit einer Flucht- oder Neuansiedlungsalternative für das Kind das Kindeswohl gemäß Artikel 3 (1) der Kinderrechtskonvention vorrangig zu berücksichtigen ist. Für die Rückkehr unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder nach Afghanistan gelten ferner die Mindestgarantien, die in dem Aide-mémoire: Special Measures Applying to the Return of Unaccompanied and Separated Children to Afghanistan von 2010 aufgeführt sind.

(…)

b) Sicherheit

Ein als Flucht- oder Neuansiedlungsalternative vorgeschlagenes Gebiet wäre nur zumutbar, wenn der Antragsteller dort in Sicherheit leben kann, frei von Gefahr und Risiko für Leib und Leben. Diese Bedingungen müssen auf Dauer gewährleistet und dürfen nicht nur scheinbar oder unberechenbar sein. Diesbezüglich muss die Instabilität des ständigen Schwankungen unterworfenen bewaffneten Konflikts in Afghanistan berücksichtigt werden. Die in Abschnitt II.B dieser Richtlinien enthaltenen Informationen sowie verlässliche und aktuelle Informationen über die Sicherheitslage im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet sind wichtige Elemente bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer vorgeschlagenen Flucht- oder Neuansiedlungsalternative.

c) Achtung der Menschenrechte und wirtschaftliches Überleben

Eine vorgeschlagene Flucht- oder Neuansiedlungsalternative ist nur dann zumutbar, wenn der Antragsteller in dem betreffenden Gebiet seine grundlegenden Menschenrechte ausüben kann und Möglichkeiten für ein wirtschaftliches Überleben unter würdigen Bedingungen vorfindet. In dieser Hinsicht muss bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer vorgeschlagenen Flucht- oder Neuansiedlungsalternative insbesondere auf Folgendes geachtet werden:

(i) Zugang zu einer Unterkunft im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet

(ii) Verfügbarkeit grundlegender Infrastruktur und Zugang zu grundlegender Versorgung im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet wie Trinkwasser, sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung

(iii) Lebensgrundlagen einschließlich des Zugangs zu Land für Afghanen, die aus ländlichen Gebieten stammen, oder im Fall von Antragstellern, von denen nicht erwartet werden kann, dass sie für ihren eigenen Unterhalt sorgen (zum Beispiel ältere Antragsteller), erwiesene und nachhaltige Unterstützung zur Erreichung eines angemessenen Lebensstandards.

Zu den Punkten (i) - (iii) im konkreten Kontext von Afghanistan wurde die Bedeutung der Verfügbarkeit und des Zugangs zu sozialen Netzen, bestehend aus der erweiterten Familie des Antragstellers oder aus Mitgliedern seiner ethnischen Gemeinschaft, bereits ausführlich dokumentiert. In dieser Hinsicht kann allein aus der Anwesenheit von Personen mit demselben ethnischen Hintergrund wie der des Antragstellers im geplanten Neuansiedlungsort nicht geschlossen werden, dass solche Gemeinschaften den Antragsteller maßgeblich unterstützen würden; eine solche Unterstützung würde in der Regel vielmehr konkrete frühere gesellschaftliche Beziehungen zwischen dem Antragsteller und einzelnen Mitgliedern der betreffenden ethnischen Gemeinschaft voraussetzen. Selbst wenn derartige bereits zuvor bestehende, soziale Beziehungen gegeben sind, sollte aber geprüft werden, ob die Mitglieder dieses Netzes auch bereit und trotz der prekären humanitären Lage in Afghanistan, der niedrigen Entwicklungsindikatoren und der generellen wirtschaftlichen Zwänge, unter denen weite Teile der Bevölkerung leiden, auch wirklich in der Lage sind den Antragssteller tatsächlich zu unterstützen. Inwiefern Antragsteller auf Unterstützung durch Familiennetzwerke im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet zurückgreifen können, muss auch im Lichte der berichteten Stigmatisierung und Diskriminierung von Personen, die nach einem Aufenthalt im Ausland nach Afghanistan zurückkehren, geprüft werden. Vor diesem Hintergrund ist UNHCR der Auffassung, dass eine vorgeschlagene interne Schutzalternative nur dann zumutbar ist, wenn die Person Zugang zu (i) Unterkunft, (ii) grundlegender Versorgung wie sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung und (iii) Lebensgrundlagen hat oder über erwiesene und nachhaltige Unterstützung verfügt, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. UNHCR ist ferner der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann als zumutbar angesehen werden kann, wenn die Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft hat und man sich vergewissert hat, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen.

Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne die oben beschriebenen besonderen Gefährdungsfaktoren dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen.

3. Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative in afghanischen Städten

Wie in den Anleitungen der Abschnitte III.C.1 und III.C.2 beschrieben, setzt eine Bewertung der Möglichkeit für eine Neuansiedlung in einer bestimmten Stadt eine Beurteilung sowohl der Relevanz als auch der Zumutbarkeit besagter Neuansiedlungsmöglichkeit für den jeweiligen bestimmten Antragstellers voraus. Wird eine interne Schutzalternative in einer bestimmten Stadt im Zuge eines Asylverfahrens in Erwägung gezogen, müssen alle allgemeinen und persönlichen Umstände, die im Hinblick auf Relevanz und Zumutbarkeit dieser Stadt als vorgeschlagenem Neuansiedlungsort für den betreffenden Antragsteller maßgeblich sind, soweit wie möglich festgestellt und gebührend berücksichtigt werden. Dem Antragsteller muss eine angemessene Möglichkeit gegeben werden, sich zu der angenommenen Relevanz und Zumutbarkeit der betreffenden Stadt für seine Neuansiedlung zu äußern.

Zur Feststellung der Relevanz muss der Entscheidungsträger beurteilen, ob die betreffende Stadt für den Antragsteller praktisch und sicher erreichbar ist.676 Dazu muss die Verfügbarkeit von Lufttransport zum nächstgelegenen Flugplatz und die Sicherheit einer Weiterreise auf der Straße zum endgültigen Bestimmungsort oder alternativ die Sicherheit des Transports auf der Straße vom internationalen Flugplatz Kabul zum endgültigen Bestimmungsort geprüft werden.

UNHCR macht darauf aufmerksam, dass nur wenige Städte von Angriffen regierungsfeindlicher Kräfte, die gezielt gegen Zivilisten vorgehen, verschont bleiben. UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.

Im Hinblick auf die Prüfung der Zumutbarkeit verweist UNHCR auf die allgemeine Bemerkung des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in seinem Überblick von 2018 über den Bedarf an humanitärer Hilfe, in der es heißt: „Insgesamt halten sich heute über 54 Prozent der Binnenvertriebenen (IDPs) in den Provinzhauptstädten Afghanistans auf, was den Druck auf die ohnehin überlasteten Dienstleistungen und Infrastruktur weiter erhöht und die Konkurrenz um Ressourcen zwischen der Aufnahmegemeinschaft und den Neuankömmlingen verstärkt.“ Außerdem herrscht, wie in Abschnitt II.D beschrieben, in den nördlichen und westlichen Teilen Afghanistans die seit Jahrzehnten schlimmste Dürre, weshalb die Landwirtschaft als Folge des kumulativen Effekt jahrelanger geringer Niederschlagsmengen zusammenbricht. Am schlimmsten betroffen sind die Provinzen Balkh, Ghor, Faryab, Badghis, Herat und Jowzjan.

Dazu kamen 2016, wie in Abschnitt II.F beschrieben, über eine Million aus Iran und Pakistan zurückkehrender Afghanen, gefolgt von weiteren 620 000 Heimkehrern im Jahr 2017. Der Protection Cluster in Afghanistan stellte schon im April 2017, nach den Rückkehrerströmen von 2016, aber noch vor den meisten Rückkehrern des Jahres 2017, Folgendes fest: „Der enorme Anstieg der Zahl der Heimkehrer [aus Pakistan und Iran] führte zu einer extremen Belastung der bereits an ihre Grenzen gelangten Aufnahmekapazität der wichtigsten Provinz- und Distriktzentren Afghanistans, nachdem sich viele Afghanen den Legionen von Binnenvertriebenen anschlossen, da sie aufgrund des sich zuspitzenden Konflikts nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten. [...] Mit begrenzten Lebensgrundlagen, ohne soziale Schutznetze und angewiesen auf schlechte Unterkünfte sind die Vertriebenen nicht nur mit einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert, sondern werden auch in erneute Vertreibung und negative Bewältigungsstrategien gezwungen, wie etwa Kinderarbeit, frühe Verheiratung, weniger und schlechtere Nahrung usw.”“

Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen.

Außerdem wird berichtet, dass das Armutsniveau in Afghanistan ansteigt: Der Anteil der Bevölkerung, der unter der nationalen Armutsgrenze lebt, ist von 34 Prozent in den Jahren 2007/2008 auf 55 Prozent im Zeitraum 2016/2017 gestiegen.
(…)”

1.2.2. Länderspezifische Anmerkungen COVID-19 (aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation):

„Stand 21.07.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Tr

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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