RS Vfgh 2020/12/11 G4/2020 (G4/2020-27)

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Veröffentlicht am 11.12.2020
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Index

70/06 Schulunterricht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art14 Abs5a
B-VG Art140 Abs1Z1 litc
StGG Art2, Art14 Abs2
EMRK Art9 Abs1
SchulunterrichtsG §43a
SchulorganisationsG §2
SchulpflichtG §11
V des Bundesministers für Unterricht und Kunst vom 24.06.1974 betreffend die Schulordnung §1, §8
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Aufhebung einer Bestimmung des SchulunterrichtsG betreffend das Verbot der Verhüllung des Hauptes aus weltanschaulich oder religiös geprägten Gründen an öffentlichen und mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten privaten Volksschulen; Verstoß des ausschließlich muslimische Mädchen treffenden "Kopftuchverbots" gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Recht auf Religionsfreiheit; keine Eignung der selektiven Verbotsregelung, die soziale Integration der betroffenen Mädchen gemäß den lokalen Gebräuchen und Sitten zu fördern; Verstoß gegen das Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates durch das Verbot einer bestimmten Art der Bekleidung im Gegensatz zu anderen – nicht verbotenen – religiösen Bekleidungsgewohnheiten

Rechtssatz

Verfassungswidrigkeit des §43a SchulunterrichtsG (SchUG) idF BGBl 54/2019.

Die - strafbewährte - Verbotsregelung des §43a SchUG trifft die Drittantragstellerin und die Sechstantragstellerin, die bisher ungehindert in der Schule ein Kopftuch tragen konnten und dieses bislang nicht verbotene Verhalten ihrem - vom VfGH als plausibel erachteten - Vorbringen nach fortsetzen möchten, unmittelbar und aktuell in ihrer durch Art9 EMRK geprägten Rechtssphäre. §43a SchUG trifft ebenso die erst-, zweit-, viert- und fünftantragstellenden Eltern, welchen die Erziehung der minderjährigen Drittantragstellerin und der minderjährigen Sechstantragstellerin obliegt, unmittelbar und aktuell in ihrer - durch Art9 EMRK geprägten - Rechtssphäre. Zudem sind Erziehungsberechtigte auch ausdrücklich Normadressaten der bekämpften Regelung, weil diese im Falle von Verstößen ihrer Kinder gegen das Verbot die in §43a Abs2 und 3 SchUG vorgesehenen Folgen treffen. Den Antragstellerinnen und Antragstellern steht und stand kein anderer zumutbarer Weg zur Verfügung, ihre Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Regelung an den VfGH heranzutragen.

Gemäß §43a Abs1 Satz 1 SchUG ist Schülerinnen und Schülern bis zum Ende des Schuljahres, in welchem sie das 10. Lebensjahr vollenden, das Tragen weltanschaulich oder religiös geprägter Bekleidung, mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist, untersagt. Zweck dieser Verbotsregelung ist gemäß §43a Abs1 Satz 2 SchUG die soziale Integration von Kindern gemäß den lokalen Gebräuchen und Sitten, die Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundwerte und Bildungsziele der Bundesverfassung sowie die Gleichstellung von Mann und Frau.

Mit der Bestimmung des §43a Abs1 Satz 1 SchUG soll konkret das Tragen eines islamischen Kopftuches untersagt werden. Die Tatbestandsvoraussetzung "Verhüllung des Hauptes" wird daher vom VfGH einschränkend als eine Form der Verhüllung nach islamischer Tradition, wie sie insbesondere durch den Hidschab erfolgt, ausgelegt. Aus der weiteren tatbestandlichen Einschränkung, wonach nur "das Tragen weltanschaulich oder religiös geprägter Bekleidung" untersagt ist, ergibt sich im Sinne der Gesetzesmaterialien, dass eine Verhüllung des Kopfes aus medizinischen Gründen wie Verbände oder zum Schutz vor Kälte nicht von der Verbotsregelung erfasst ist. Das - für öffentlichen Schulen und Privatschulen, die mit Öffentlichkeitsrecht ausgestattet sind und eine gesetzlich geregelte Schulartbezeichnung führen, geltende - Verbot in §43a Abs1 Satz 1 SchUG ist daher auf das Tragen weltanschaulich oder religiös geprägter Bekleidung nach islamischer Tradition und damit vorwiegend auf das islamische Kopftuch ausgerichtet. Dies wird auch im Rundschreiben der Bundesministerin für Bildung, Wissenschaft und Forschung, welches nach dem Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmung erfolgte und auf die praktische Vollziehung der Verbotsregelung des §43a SchUG ausgerichtet ist, deutlich.

Der verfassungsgesetzlich verankerte Bildungsauftrag der Schule gemäß Art14 Abs5a B-VG konkretisiert die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates (Art7 B-VG, Art2 StGG, Art9 Abs1 EMRK und Art14 Abs2 StGG) dahingehend, dass die Schule die Befähigung vermitteln soll, dem religiösen und weltanschaulichen Denken Anderer gegenüber aufgeschlossen zu sein. Die Schule gründet demzufolge unter anderem auf den Grundwerten der Offenheit und Toleranz. Die Gewährleistung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben kann im Bereich der Schule auch Beschränkungen der durch Art9 EMRK gewährleisteten Rechte von Schülerinnen und Schülern sowie ihrer Erziehungsberechtigten rechtfertigen, wenn diese verhältnismäßig und sachlich ausgestaltet sind. Eine Regelung, die eine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Überzeugung selektiv herausgreift, indem sie eine solche gezielt privilegiert oder benachteiligt, bedarf daher im Hinblick auf das Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität einer besonderen sachlichen Rechtfertigung.

§43a SchUG verbietet gezielt die Verhüllung des Hauptes nach islamischer Tradition wie insbesondere durch das islamische Kopftuch. Mit dieser Regelung greift der Gesetzgeber somit eine spezifische Form einer religiös oder weltanschaulich konnotierten Bekleidung heraus, welche in der einen oder anderen Weise mit anderen, jedoch nicht verbotenen, religiös oder weltanschaulich konnotierten Bekleidungsgewohnheiten vergleichbar ist.

Das Verbot dient laut §43a Abs1 Satz 2 SchUG "der sozialen Integration von Kindern gemäß den lokalen Gebräuchen und Sitten, der Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundwerte und Bildungsziele der Bundesverfassung sowie der Gleichstellung von Mann und Frau". Nach den Gesetzesmaterialien zu §43a SchUG sei eine Verhüllung des Hauptes bei Anhängern einiger islamischer Strömungen bzw Richtungen oder Traditionen ab Erreichen der Geschlechtsreife Teil der geübten Praxis. Die Verhüllung des Hauptes zeige das Erreichen der Geschlechtsreife an. Es mache den Stand der körperlichen Reife für jeden öffentlich erkennbar. Die Regelung des §43a SchUG soll vor diesem Hintergrund eine Segregation nach dem Geschlecht vermeiden.

Eine Regelung, die einer unerwünschten geschlechtlichen Segregation entgegen wirkt und damit dem Bildungsziel der sozialen Integration sowie der Gleichstellung der Geschlechter dient, verfolgt eine gewichtige, verfassungsrechtlich allgemein (Art7 Abs2 B-VG) und der Schule im Besonderen (Art14 Abs5a B-VG) vorgegebene Zielsetzung. Eine solche Regelung muss aber verhältnismäßig und sachlich, insbesondere auch im Einklang mit den weiteren Grundwerten der Schule ausgestaltet sein.

Zunächst ist von Bedeutung, dass das Tragen des islamischen Kopftuches eine Praxis ist, die aus verschiedenen Gründen ausgeübt wird. Die Deutungsmöglichkeiten, die die Trägerinnen eines Kopftuches vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Religion oder Weltanschauung dieser Bekleidung und damit dem Tragen des Kopftuches geben, sind vielfältig. Mit dem Tragen eines Kopftuches kann schlicht die Zugehörigkeit zum Islam oder die Ausrichtung des eigenen Lebens an den religiösen Werten des Islam ausgedrückt werden. Ferner kann das Tragen des Kopftuches etwa auch als Zeichen für die Zugehörigkeit zur islamischen Kultur bzw für ein Festhalten an Traditionen der Herkunftsgesellschaft gedeutet werden. Dem islamischen Kopftuch kommt daher keine eindeutige und unmissverständliche Bedeutung zu. Es ist dem VfGH aber gerade bei Fragen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit verwehrt, sich bei mehreren Möglichkeiten der Deutung eines religiösen oder weltanschaulichen Symbols eine bestimmte Deutung zu eigen zu machen und diese seiner grundrechtlichen Beurteilung der Zulässigkeit des Vorhandenseins solcher Symbole in staatlichen Bildungseinrichtungen zugrunde zu legen.

Die selektive Verbotsregelung gemäß §43a SchUG, welche bloß bei Mädchen ansetzt und ihnen bis zum Ende des Schuljahres, in welchem sie das 10. Lebensjahr vollenden, das Tragen eines islamischen Kopftuches untersagt, ist von vornherein nicht geeignet, die vom Gesetzgeber selbst formulierte Zielsetzung zu erreichen. Vielmehr kann sich das selektive Verbot nach §43a SchUG gerade auch nachteilig auf die Inklusion betroffener Schülerinnen auswirken und zu einer Diskriminierung führen, weil es das Risiko birgt, muslimischen Mädchen den Zugang zur Bildung zu erschweren bzw sie gesellschaftlich auszugrenzen. Durch die Regelung des §43a SchUG wird islamische Herkunft und Tradition als solche ausgegrenzt. Das punktuell eine einzige religiös oder weltanschaulich begründete Bekleidungsvorschrift herausgreifende Verbot des islamischen Kopftuches stigmatisiert gezielt eine bestimmte Gruppe von Menschen.

Außerdem ist zu beachten, dass Schülerinnen und Schüler gemäß §11 Abs1 und 2 SchPflG die allgemeine Schulpflicht auch durch Teilnahme an häuslichem Unterricht oder durch die Teilnahme am Unterricht an einer Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht erfüllen können. Der Anwendungsbereich des §43a SchUG beschränkt sich aber auf öffentliche Schulen und Privatschulen, die mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestattet sind und eine gesetzlich geregelte Schulartbezeichnung führen. Es ist daher möglich, sich dem Verbot nach §43a SchUG durch einen Wechsel an eine Privatschule, die nicht in den Geltungsbereich des SchUG fällt, oder durch Inanspruchnahme häuslichen Unterrichts zu entziehen. Das Verbot nach §43a SchUG kann auch aus diesem Grund soziale Ausgrenzung fördern und betroffenen Mädchen den Zugang zu anderen weltanschaulichen Vorstellungen im Sinne des verfassungsgesetzlichen Bildungsauftrages nach Art14 Abs5a B-VG verwehren.

Nach den Gesetzesmaterialien zu §43a SchUG soll die Verbotsregelung auch dem Schutz von Musliminnen dienen, die die Verhüllung aus persönlicher Überzeugung nicht praktizieren, und damit eine freie Entscheidung über die Religionsausübung sichern. Der VfGH verkennt nicht, dass es in Schulen auch zu weltanschaulich und religiös geprägten Konfliktsituationen kommen kann. Dieser Umstand vermag jedoch das selektive Verbot nach §43a SchUG nicht zu rechtfertigen. Für den VfGH ist es sachlich nicht begründbar, dass für die Lösung derartiger Konfliktsituationen nicht bei jenen Personen angesetzt wird, die auf betroffene Schülerinnen etwa in Form von Anfeindungen, Abwertungen oder sozialem Ausschluss Druck ausüben. Vielmehr trifft das Verbot nach §43a SchUG gerade die Schülerinnen, welche den Schulfrieden selbst nicht stören.

Das selektive Verbot gemäß §43a SchUG trifft ausschließlich muslimische Schülerinnen und grenzt sie dadurch in diskriminierender Weise von anderen Schülerinnen und Schülern ab. Die Durchsetzung der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates kann zwar grundsätzlich auch Beschränkungen der individuellen Rechtssphäre rechtfertigen. Das Abstellen auf eine bestimmte Religion oder Weltanschauung und ihren spezifischen Ausdruck in einer (und nur dieser) Art der Bekleidung, die noch dazu mit anderen nicht verbotenen Bekleidungsgewohnheiten in der einen oder anderen Weise vergleichbar ist, ist mit dem Neutralitätsgebot nicht vereinbar.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Schulen, Religionsfreiheit, Schulunterricht, Schulpflicht, Pflichtschulen, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Staatskirchenrecht, Kinder, Auslegung historische, VfGH / Individualantrag, VfGH / Verhandlung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:G4.2020

Zuletzt aktualisiert am

06.04.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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