Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Landesstelle Graz, Göstinger Straße 26, Graz, vertreten durch Dr. Peter Schaden und Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Dr. Michael Maurer, Rechtsanwalt in Graz, wegen 38.240,51 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 7. April 2020, GZ 7 R 59/19d-20, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 30. Oktober 2019, GZ 50 Cg 27/19x-15, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.411,20 EUR (darin 235,20 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Am 3. 6. 2016 ereignete sich an einer Kreuzung in Klagenfurt ein Verkehrsunfall, bei dem der nach rechts abbiegende Lenker eines bei der Beklagten haftpflichtversicherten LKW mit einem rechts neben ihm befindlichen Radfahrer kollidierte. Der bei der Klägerin versicherte Radfahrer kam zu Sturz und erlitt schwere Verletzungen.
[2] Die Klägerin begehrt auf der Grundlage gleichteiligen Verschuldens den Ersatz der Hälfte der von ihr an den Versicherten erbrachten Leistungen und stellt auch ein Feststellungsbegehren.
[3] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren (mit Ausnahme eines rechtskräftig abgewiesenen Zinsenmehrbegehrens) statt.
[4] Das Berufungsgericht teilte das Verschulden 3 : 1 zu Lasten des Radfahrers. Es ließ die ordentliche Revision nachträglich mit der Begründung zu, dass die Klägerin den „schwerwiegenden Vorwurf“ erhoben habe, es sei von einem urteilsfremden Sachverhalt ausgegangen. Außerdem könnte die vorgenommene Verschuldensabwägung unzutreffend sein.
[5] Entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision der Klägerin nicht zulässig. Die Entscheidung hängt nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab:
Rechtliche Beurteilung
[6] 1. Die geltend gemachte Aktenwidrigkeit liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).
[7] 2. Ebenso wenig ist der inhaltlich angesprochene Verfahrensmangel gegeben. Das Berufungsgericht ist nicht von den Feststellungen des Erstgerichts abgegangen, sondern hat die von ihm übernommenen Feststellungen vielmehr in den in der Revision monierten Ausführungen auf den Seiten 11 bis 13 seiner Entscheidung einer eigenständigen rechtlichen Würdigung zugeführt.
[8] 3. Die Beurteilung des Verschuldensgrades unter Anwendung der richtig dargestellten Grundsätze und das Ausmaß eines Mitverschuldens des Geschädigten können wegen ihrer Einzelfallbezogenheit grundsätzlich nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden (RS0087606).
[9] 3.1. Nach § 12 Abs 5 StVO dürfen die Lenker einspuriger, später ankommender Fahrzeuge nur dann neben oder zwischen bereits angehaltenen Fahrzeugen vorfahren, wenn dafür ausreichend Platz vorhanden ist und die Lenker von Fahrzeugen, die ihre Absicht zum Einbiegen angezeigt haben, nicht behindert werden.
[10] Welcher Abstand beim Vorbeifahren an einem stehenden Kraftfahrzeug einzuhalten ist, ist in weitgehendem Maß von der im Einzelfall bestehenden Verkehrslage abhängig (RS0074161). Bei einem langsamen Vorbeifahren ist ein Abstand von 40 bis 50 cm ausreichend (vgl RS0074117), nicht jedoch ein Abstand von 10 bis 20 cm (2 Ob 92/78; RS0074117 [T1]) oder 15 cm (8 Ob 20/82; RS0074117 [T3]). Umso mehr gilt letzteres für den nach § 15 Abs 4 StVO einzuhaltenden seitlichen Abstand beim Überholen (vgl etwa RS0073998).
[11] 3.2. Auch muss der vorfahrende Lenker eines einspurigen Fahrzeugs, wenn er bemerkt, dass sich die Kolonne vor ihm in Bewegung setzt, seine Geschwindigkeit so an die Kolonne anpassen, dass er, sobald er ein sich in Bewegung setzendes Fahrzeug der Kolonne erreicht, nicht schneller fährt als die Kolonne. Andernfalls läge ein unzulässiges Rechtsüberholmanöver gemäß § 15 StVO vor (2 Ob 262/05a).
[12] 3.3. Nach dem hier maßgeblichen Sachverhalt hat der bei der Klägerin versicherte Radfahrer, der sich mit 14 km/h der stehenden Kolonne näherte und im Zeitpunkt des Losfahrens des in der Kolonne befindlichen LKW noch 1 m hinter diesem war und mit einer starken Bremsung vor der Kollisionsstelle zum Stillstand kommen hätte können, sich gegen eine solche Bremsung und dafür entschieden, „mit dem LKW (nach rechts) abzubiegen“, sodass er letztlich mit dem Vorderrad des LKW kollidierte. Dies geschah bei einer zur Verfügung stehenden Durchfahrtsbreite zwischen dem LKW und den rechts geparkten Fahrzeugen von 60 cm und einer Lenkerbreite seines Fahrrades von 47 bis 48 cm, sodass nach beiden Seiten jeweils nur ein seitlicher Abstand von 6 cm verblieb.
[13] Wenn das Berufungsgericht unter diesen Umständen bei der Verschuldensabwägung dem vom Lenker des LKW unterlassenen Blick in den rechten Außenspiegel nur geringes Gewicht beimaß, weil der Radfahrer nicht mehr rechts neben dem LKW vorfahren hätte dürfen, und deshalb auch von einer „äußerst riskanten Reaktion“ des Radfahrers ausging, begegnet dies keinen Bedenken.
[14] 3.4. Auch dass das Berufungsgericht dem Radfahrer die Fähigkeit, diese Umstände ex ante einzuschätzen, zugesonnen hat, ist angesichts der (viel) zu geringen Durchfahrtsbreite unbedenklich. Aus welchen besonderen Umständen diese Einsicht bei ihm nicht vorausgesetzt hätte werden dürfen, wird nicht dargelegt.
[15] 3.5. Soweit die Klägerin ausführt, der Radfahrer habe berechtigt erwarten können, dass der LKW geradeaus weiterfahren werde, geht sie nicht von den Feststellungen aus, wonach nicht feststellbar war, ob und wann am LKW der Blinker gesetzt wurde.
[16] 3.6. Unter Berücksichtigung des gravierenden Fehlverhaltens des Radfahrers hält sich die Verschuldensteilung des Berufungsgerichts, das nur zu einem Viertel Verschulden des LKW-Lenkers gelangte, jedenfalls im Rahmen seines Beurteilungsspielraums.
[17] 4. Gegenteiliges ist auch nicht aus den von der Revisionswerberin zitierten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs ableitbar:
[18] 4.1. In der Entscheidung 2 Ob 23/91 wurde dem Radfahrer, der sich einem vor einer Ampel zum Rechtsabbiegen eingeordneten, blinkenden LKW genähert hatte und nach dessen Anfahren neben ihm weiter rechts überholen wollte, das Alleinverschulden angelastet und diesem lediglich die dort mit einem Drittel bewertete Betriebsgefahr des LKW gegenübergestellt (zur möglichen Bandbreite dieser Abwägung vgl etwa 2 Ob 73/12z mwN). Inwieweit aus dieser Entscheidung abzuleiten sein sollte, dass hier den Radfahrer nicht mehr als das halbe Mitverschulden treffen könne, ist nicht nachvollziehbar.
[19] 4.2. Soweit die Revisionswerberin auf die Vergleichbarkeit des Sachverhalts der Entscheidung 2 Ob 262/05a verweist, wo dem sich vorbeischlängelnden Motorradfahrer nur ein Mitverschulden von einem Drittel zugewiesen wurde, kann der Sachverhalt mit dem hier vorliegenden schon deshalb nicht verglichen werden, weil dort eine Durchfahrtsbreite von zumindest 1,7 m zur Verfügung stand und der beteiligte Kfz-Lenker nicht abbiegen wollte, sondern – ohne dass eine Querfahrbahn in der Nähe gewesen wäre – zum Fahrbahnrand zufuhr.
[20] 4.3. Mit beiden Verweisen wird daher kein Abweichen von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs aufgezeigt und damit auch keine erhebliche Rechtsfrage aufgeworfen.
[21] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO. Da die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen hat, diente ihr Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung.
Textnummer
E130317European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00112.20I.1127.000Im RIS seit
19.01.2021Zuletzt aktualisiert am
24.06.2021