Entscheidungsdatum
16.10.2020Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W237 2220299-2/2E
W237 2220302-2/2E
W237 2220301-2/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Martin WERNER über die Beschwerde von 1.) XXXX , 2.) mj. XXXX , und 3.) mj. XXXX , alle StA. Ukraine, alle vertreten durch XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 01.09.2020 1.) Zl. 1138296410/200453482, 2.) ZI. 1138296203/200453495, 3.) 1138296105/200453504 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 68 Abs. 1 AVG als unbegründet abgewiesen.
II. Der Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wird gemäß § 17 Abs. 1 BFA-VG zurückgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die drei Beschwerdeführer – zwei minderjährige Burschen und ihre Mutter – stellten am 03.06.2020 jeweils einen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Diese Anträge betreffend wurden sie am selben Tag zu ihren Personendaten, ihren Aufenthalten im Hoheitsgebiet der Europäischen Union und ihren wesentlichen Verfolgungsgründen polizeilich erstbefragt.
Am 20.07.2020 und 31.08.2020 fanden Einvernahmen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt, in welchen die Beschwerdeführer zu ihrem Gesundheitszustand und den Gründen für ihre erneute Antragstellung näher befragt wurden.
2. Mit Bescheiden vom 01.09.2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Status von Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status von subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück.
3. Die Beschwerdeführer erhoben gegen diese Bescheide vollinhaltlich Beschwerde und stellten den Antrag, dieser die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte die Beschwerde samt Verfahrensakten dem Bundesverwaltungsgericht am 29.09.2020 vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer. Die Beschwerdeführer tragen die im Spruch angeführten Namen und sind Staatsangehörige der Ukraine. Keiner der Beschwerdeführer leidet unter gesundheitlichen Beschwerden.
1.2. Die Erstbeschwerdeführerin reiste im Dezember 2016 gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren beiden Söhnen, den Zweit- und Drittbeschwerdeführern, von ihrem in der nördlichen Zentralukraine gelegenen Wohnort XXXX in das österreichische Bundesgebiet ein; am 18.12.2016 stellen sie ihre ersten Anträge auf internationalen Schutz. Diesen begründete die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen damit, dass sich ihr Mann dem Militär zur Kriegsführung hätte anschließen sollen und auch misshandelt worden sei. Sie wolle nicht, dass ihr Mann in den Krieg ziehe und sei auch selbst bedroht worden. Sie habe einerseits den Aufenthaltsort ihres Mannes angeben sollen und sei andererseits als Separatistin abgestempelt worden, weil sie in Donezk studiert habe. Für die minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführer wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheiden vom 16.05.2019 die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erkannte ihnen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht zu (Spruchpunkt III.), erließ im Sinne des § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt V.); weiters erkannte das Bundesamt einer Beschwerde jeweils die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt VII.) und sprach aus, dass gemäß keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.). In zwei weiteren Spruchpunkten (VIII. und IX.) des die Erstbeschwerdeführerin betreffenden Bescheids erließ das Bundesamt gegen sie ein auf die Dauer von einem Jahr befristetes Einreiseverbot und erklärte den Verlust des asylrechtlichen Aufenthaltsrechts ab dem 25.02.2019.
Das Bundesverwaltungsgericht wies die nur gegen die Spruchpunkte II. bis V. der Bescheide vom 16.05.2019 erhobenen Beschwerden mit Erkenntnis vom 06.09.2019 ab und die Anträge auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung als unzulässig zurück.
1.3. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweit- und Drittbeschwerdeführer zeigte sich gegenüber seiner Familie wiederholt physisch gewalttätig. Spätestens ab September 2018 begab sich die Erstbeschwerdeführerin in diesem Zusammenhang in psychologische Beratung und Betreuung des Vereins Frauenservice XXXX . Im Jahr 2019 wohnten die Beschwerdeführer mehrere Monate in einem Frauenhaus in XXXX . Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweit- und Drittbeschwerdeführer reise auf dem Luftweg am XXXX in die Ukraine zurück. Die Beschwerdeführer waren auf einem Flug am XXXX gebucht, der jedoch abgesagt wurde. Nach mehreren Tagen begann der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin, sie und ihre Söhne von der Ukraine aus über Telefon zu bedrohen. Er rief auch die Mutter der Erstbeschwerdeführerin an und drohte ihr mit Gewalthandlungen.
1.4. Die Beschwerdeführer stellten am 03.06.2020 die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Diesen begründete die Erstbeschwerdeführerin damit, dass sie um ihr Leben fürchte, weil sie Probleme mit ihrem Ehemann habe. Diese hätten etwa sechs Monate nach ihrer Ankunft in Österreich begonnen. Damals hätten sie in einem Dorf gewohnt, in dem noch zwei weitere Flüchtlingsfamilien gelebt hätten. Ihr Mann sei sehr eifersüchtig wegen der beiden anderen Männer gewesen, habe die Erstbeschwerdeführerin geschlagen und ihr nicht erlaubt, das Haus zu verlassen. Wegen der Schläge habe sie einige Male Panikattacken bekommen, weshalb sie auch mehrmals stationär im Krankenhaus behandelt worden sei. Außerdem habe sie wiederholt Anzeige bei der Polizei erstattet. Die Erstbeschwerdeführerin führe mittlerweile mit einem albanischen Staatsangehörigen eine Beziehung; würde ihr Mann davon und insbesondere von der muslimischen Glaubenszugehörigkeit ihres neuen Partners erfahren, brächte er die Erstbeschwerdeführerin bestimmt um. Auch die Zweit- und Drittbeschwerdeführer gaben in den Einvernahmen vor dem Bundesamt an, dass ihr Vater sie manchmal geschlagen habe.
1.5. Folgende Situation lag im September 2020 in der Ukraine vor:
Politische Lage
Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj (AA 6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus sind rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).
Die nach der „Revolution der Würde“ auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020).
Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).
Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (6.3.2020): Ukraine: Steckbrief, https://www.auswaertigesamt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/steckbrief/201830, Zugriff 25.5.2020
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (22.7.2019): Briefing Notes, per E-Mail
- Brookings Institution (20.5.2020): Zelenskiy’s first year: New beginning or false dawn?, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2020/05/20/zelenskiys-first-year-new-beginning-or-false-dawn/, Zugriff 22.5.2020
- DS – Der Standard (22.7.2019): Diener des Volkes werden Kiew regieren, https://www.derstandard.at/story/2000106566433/diener-des-volkes-werden-kiew-regieren, Zugriff 25.5.2020
- DW – Deutsche Welle (3.3.2020): Ukraine Prime Minister Oleksiy Honcharuk resigns for second time, https://www.dw.com/en/ukraine-prime-minister-oleksiy-honcharuk-resigns-for-second-time/a-52628402, Zugriff 25.5.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
- FH - Freedom House (6.5.2020): Nations in Transit 2020 - Ukraine,
- https://www.ecoi.net/de/dokument/2029666.html, Zugriff 25.5.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/ukraine/geschichte-staat/#c4037, Zugriff 22.5.2020
- Jamestown Foundation (24.2.2020): Looming Confrontation in President Zelenskyy’s Entourage Could Lead to Reset of Ukrainian Government, https://jamestown.org/program/looming-confrontation-in-president-zelenskyys-entourage-could-lead-to-reset-of-ukrainian-government/, Zugriff 25.5.2020
- KP – Kyiv Post (29.8.2019): Ukraine’s new parliament sworn in, Dmytro Razumkov becomes speaker, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/ukraines-new-parliament-sworn-in.html?cn-reloaded=1, Zugriff 25.5.2020
- RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (30.8.2019): Ukraine’s Zelenskiy Inducts Politically Untested Government, https://www.rferl.org/a/ukraine-zelenskiy-new-government-honcharuk/30137220.html, Zugriff 25.5.2020
- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (25.4.2020): Zelenskiy's First Year: He Promised Sweeping Changes. How's He Doing?, https://www.rferl.org/a/zelenskiys-first-year-he-promised-sweeping-changes-how-s-he-doing-/30576329.html, Zugriff 25.5.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
Sicherheitslage
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).
Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).
Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).
Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).
Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).
Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj, https://www.faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer-16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, Zugriff 25.5.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
- KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020
- SO – Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-im-besetzten-donbass-auszuteilen-a-1264280.html, Zugriff 25.5.2020
Rechtsschutz / Justizwesen
Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).
Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).
2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).
Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
Sicherheitsbehörden
Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).
Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).
Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).
In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- AC – Atlantic Council (30.6.2020):Ukraine’s powerful Interior Minister Avakov under fire over police reform failures, https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/ukraines-powerful-interior-minister-avakov-under-fire-over-police-reform-failures/, Zugriff 6.7.2020
- AI – Amnesty International (16.4.2020): Human Rights in Eastern Europe and Central Asia - Review of 2019 - Ukraine [EUR 01/1355/2020], https://www.ecoi.net/de/dokument/2028174.html, Zugriff 20.5.2020
- BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): Ukraine, Country Report 2020, https://www.bti-project.org/de/berichte/country-report-UKR.html, Zugriff 22.5.2020
- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 19.5.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
Allgemeine Menschenrechtslage
Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet (AA 29.2.2020; vgl. GIZ 3.2020a). Jedoch bestehen in der Ukraine gegenwärtig noch Unzulänglichkeiten in der Umsetzung und Gewährung der Menschenrechte, was insbesondere die Bereiche Folter, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Behandlung von Geflüchteten und sozialen (LGBTQ) bzw. ethnischen Minderheiten (Roma) betrifft. 2019 stufte Freedom House die Ukraine auf „partly free“ ab (GIZ 3.2020a). Zu den Menschenrechtsproblemen gehören darüber hinaus u.a. rechtswidrige oder willkürliche Tötungen; Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen durch Vollzugspersonal; schlechte Bedingungen in Gefängnissen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Einschränkungen der Internetfreiheit und Korruption. Die Regierung hat es im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Fehlverhalten von Beamten strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest (USDOS 11.3.2020).
Die Möglichkeit von NGOs, sich im Bereich Menschenrechte zu betätigen, unterliegt keinen staatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Verfassung sieht eine vom Parlament bestellte Ombudsperson vor, den parlamentarischen Menschenrechtsbeauftragten. Das Amt wird derzeit von Lyudmila Denisova bekleidet. Ihr Büro arbeitet bei verschiedenen Projekten zur Überwachung von Menschenrechtspraktiken in Gefängnissen und anderen staatlichen Institutionen häufig mit NGOs zusammen. Die Ombudsperson bemühte sich in der Vergangenheit speziell um Krimtataren, IDPs, Roma, Menschen mit Behinderungen, und von Russland inhaftierte politische Gefangene. Sie ist auch bei Problemen mit der Justiz jederzeit ansprechbar (USDOS 11.3.2020).
Die Verfassung schreibt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausdrücklich vor. Auch im Übrigen gibt es keine rechtlichen Benachteiligungen. Nach ukrainischem Arbeitsrecht genießen Frauen die gleichen Rechte wie Männer. Tatsächlich werden sie jedoch häufig schlechter bezahlt und sind in Spitzenpositionen unterrepräsentiert. Nach 2018 kam es auch am 8. März 2019 bei Veranstaltungen und Paraden zum Frauentag in mehreren Städten zu Zwischenfällen mit rechten Gruppierungen (AA 29.2.2020). Durch den bewaffneten Konflikt kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt und Gender Based Violence (GBV), von der vor allem Frauen betroffen sind. Ein neues Gesetz, das häusliche Gewalt als Straftatbestand deklariert, wurde im Dezember 2017 angenommen. Es gibt jedoch kaum ausreichend psychosoziale und medizinische (Notfall-) Einrichtungen mit geschultem Personal (ÖB 2.2019). Frauen und Mitglieder von Minderheitengruppen können am politischen Leben in der Ukraine teilnehmen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Diese Rechte werden jedoch durch Faktoren wie Diskriminierung, den Konflikt im Osten, Analphabetismus und das Fehlen von Ausweisdokumenten (häufig bei Roma) geschmälert. Das Gesetz über Kommunalwahlen schreibt eine 30%-Quote für Frauen auf Parteilisten vor, die jedoch nicht wirksam durchgesetzt wird (FH 4.3.2020). Nach den Parlamentswahlen vom Juli 2019 stieg der Anteil der Frauen im Parlament von 12 auf 20% (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die gesellschaftliche Diskriminierung von sexuellen Minderheiten beeinträchtigt ihre Fähigkeit, sich an politischen Prozessen und Wahlprozessen zu beteiligen (FH 4.3.2020).
Die Aktivitäten von Oppositionsparteien und -gruppen sowie die Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit unterliegen keinen rechtsstaatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Medienlandschaft zeichnet sich durch einen beträchtlichen Pluralismus sowie offene Kritik an der Regierung aus (FH 4.3.2020). Meinungs- und Pressefreiheit leiden jedoch weiter hinunter der wirtschaftlichen Schwäche des unabhängigen Mediensektors und dem Übergewicht von Medien, die Oligarchen gehören oder von ihnen finanziert werden. Repressionen und Angriffe gegenüber Journalisten sind insgesamt rückläufig; besorgniserregend bleiben aber die oftmals fehlenden Ermittlungserfolge und die daraus resultierende Straflosigkeit – selbst in schwerwiegenden Fällen. Diverse russische soziale Medien und populäre Onlinedienste bleiben seit einem Dekret von Mai 2017 weiter verboten. Aus diesen Gründen verbleibt die Ukraine trotz großer Fortschritte gegenüber den Jahren vor dem Euromaidan im „Reporter ohne Grenzen“-Index auf Platz 102 von 180 Staaten (AA 29.2.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Jahr 2018 erneuerten die Behörden bestehende Maßnahmen gegen eine Reihe russischer Nachrichtenagenturen und ihre Journalisten. Verschiedene Sprachgesetze schreiben Nachrichtenagenturen vor, dass bestimmte Inhalte in ukrainischer Sprache verfasst sein müssen. Im Jahr 2019 bestätigte der Oberste Gerichtshof der Ukraine regionale Verbote für russischsprachige "Kulturprodukte", darunter Bücher und Filme (FH 4.3.2020). Die Regierung setzte die Praxis fort, bestimmte Werke russischer Schauspieler, Filmregisseure und Sänger zu verbieten und Sanktionen gegen pro-russische Journalisten zu verhängen (USDOS 11.3.2020).
Von einigen Ausnahmen abgesehen, können Einzelpersonen im Allgemeinen öffentlich und privat Kritik an der Regierung üben und Angelegenheiten von öffentlichem Interesse diskutieren, ohne offizielle Repressalien befürchten zu müssen. Das Gesetz verbietet jedoch Aussagen, die die territoriale Integrität bzw. nationale Sicherheit des Landes bedrohen, den Krieg fördern, einen Rassen- oder Religionskonflikt befeuern oder die russische Aggression gegen das Land unterstützen, und die Regierung verfolgt Personen nach diesen Gesetzen (USDOS 11.3.2020). Gewalt und Drohungen gegen Journalisten bleiben weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Das unabhängige Institut für Masseninformation registrierte von Januar bis Anfang Dezember 2019 226 Verstöße gegen die Medienfreiheit, darunter die Ermordung eines Journalisten. Weitere Verstöße waren 20 Fälle von Schlägen, 16 Cyberangriffe, 93 Fälle von Einmischung, 34 Fälle von Bedrohung und 21 Fälle von Einschränkung des Zugangs zu öffentlichen Informationen (FH 4.3.2020). Die Qualität des ukrainischen Journalismus leidet nicht nur unter russischer Propaganda, Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik sowie der wirtschaftlichen Krise, sondern auch unter einer nicht zufriedenstellenden Ausbildung und Einhalten von journalistischen Standards (GIZ 3.2020a). Die Strafverfolgungsbehörden überwachen das Internet, zeitweise ohne entsprechende rechtliche Befugnisse, und unternahmen 2019 schwerwiegende Schritte, um den Zugang zu Websites aufgrund von "nationalen Sicherheitsbedenken" zu blockieren. Gerichte sollen auch begonnen haben, den Zugang zu Websites aus anderen Gründen als der nationalen Sicherheit zu blockieren. Es gab Berichte darüber, dass die Regierung Einzel¬personen wegen ihrer Beiträge in sozialen Medien strafrechtlich verfolgte (USDOS 11.3.2020).
Die Verfassung sieht die Versammlungsfreiheit vor und die Regierung respektiert dieses Recht im Allgemeinen. Gelegentlich wird berichtet, dass die Polizei übermäßige Gewalt anwendet, um Proteste aufzulösen. In Kiew, Odessa und Charkiw fanden groß angelegte LGBT-Veranstaltungen weitgehend friedlich und unter dem Schutz tausender Polizeibeamter statt. Bisweilen schützte die Polizei die Teilnehmer vor oder nach diesen Veranstaltungen nicht ausreichend vor Angriffen, und auch kleinere Demonstrationen, insbesondere von Minderheiten oder oppositionellen politischen Bewegungen, wurden nicht ausreichend geschützt. Veranstaltungen von Frauenrechtsaktivisten oder der LGBT-Gemeinschaft wurden regelmäßig von Mitgliedern gewalttätiger radikaler Gruppen gestört (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Zu den Pflichten des Veranstalters von friedlichen Versammlungen zählt unter anderem die Anmeldung der Veranstaltung im Vorfeld bei den örtlich zuständigen Behörden. Die Fristen, die in diesem Zusammenhang anzuwenden sind, sind jedoch nicht klar geregelt und variieren je nach vertretener Auffassung zwischen drei und zehn Tagen. Diese Unklarheit lässt den öffentlichen Behörden einen relativ großen Freiraum, Versammlungen zu untersagen (ÖB 2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Tatsächlich wird die Abhaltung von friedlichen Versammlungen von den Behörden regelmäßig abgelehnt. Als gängige Begründungen dienen die zu späte Ankündigung der Demonstration, der Mangel an verfügbaren Polizisten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der gleichzeitige Besuch einer offiziellen ausländischen Delegation oder das gleichzeitige Stattfinden einer anderen Veranstaltung am gleichen Ort. Auch die Definition der „Friedlichkeit“ einer Versammlung ist nicht immer unstrittig (ÖB 2.2019).
Die Verfassung und das Gesetz sehen die Vereinigungsfreiheit vor und die Regierung respektiert dieses Recht im Allgemeinen. Menschenrechtsorganisationen berichten für 2019 über einen Rückgang der Angriffe auf Aktivisten, nachdem die Zahl der Angriffe 2018 sprunghaft angestiegen war (37 Angriffe 2019, gegenüber 66 im Jahr 2018). Einige zivilgesellschaftliche Organisationen geben jedoch an, dass dies aufgrund von mangelnder Berichterstattung sei, und dass sich Aktivisten gegen eine Beschwerde entscheiden würden, da sie Verfolgung fürchten. Menschenrechts-NGOs sind nach wie vor besorgt über die mangelnde Rechenschaftspflicht bei Angriffen auf Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen (USDOS 11.3.2020). Angriffe auf Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft und Angehörige von Minderheitengruppen sind häufig, und die Reaktion der Polizei ist oft unzureichend (FH 4.3.2020). Sowohl natürliche als auch juristische Personen können einen Verein gründen. Die Vereinsgründung kann nur aus im Gesetz eng definierten Gründen untersagt werden (ÖB 2.2019). Mit Ausnahme eines Verbots der Kommunistischen Partei gibt es keine formellen Hindernisse für die Gründung und den Betrieb politischer Parteien. In den letzten Jahren entstanden mehrere politische Parteien. Ein Gesetz aus dem Jahr 2016 regelt die staatliche Finanzierung im Parlament vertretener Parteien; die Regelung begünstigt etablierte Parteien gegenüber neu entstandenen. Oppositionsgruppen sind im Parla-ment vertreten und ihre politischen Aktivitäten werden im Allgemeinen nicht durch administrative Beschränkungen behindert. Neue Kleinparteien haben Schwierigkeiten mit etablierten Parteien zu konkurrieren, welche die Unterstützung politisch vernetzter Oligarchen genießen (FH 4.3.2020).
Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und der ungestörten Religionsausübung wird von der Verfassung garantiert und von der Regierung in ihrer Politik gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften respektiert (AA 29.2.2020). Laut Befragungen sind 67,3% der Ukrainer christlich-orthodox. Davon gehören 28,7% zur ukrainisch-orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats (UOC-KP), 12,8% zur ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOC-MP), 0,3% zur ukrainisch-autokephalen Kirche (UAOC) und 23,4% bezeichnen sich als „schlicht orthodox“. 9,4% der Ukrainer sind griechisch-katholisch, 0,4% jüdisch, 0,8% römisch-katholisch, 2,2% protestantisch und 0,2% muslimisch. Weitere 7,7% identifizieren sich als „Christen“ und 11% geben an, dass sie keiner religiösen Gruppe angehören (USDOS 21.6.2019). Kleinere religiöse Gruppen berichten jedoch weiterhin von einer gewissen Diskriminierung. So werfen Gläubige der russisch-orthodoxen Kirche dem ukrainischen Staat vereinzelt Verletzungen der Religionsfreiheit vor. Im Oktober 2018 erhielten ukrainisch-orthodoxe Kleriker die Erlaubnis der religiösen Behörden in Istanbul, dem historischen Sitz der östlichen orthodoxen Kirche, zur Errichtung einer eigenen autokephalen Kirche außerhalb der kanonischen Gerichtsbarkeit der russisch-orthodoxen Kirche. Im Dezember 2018 wurde diese neue orthodoxe Kirche der Ukraine gegründet, um die bestehenden Denominationen zu vereinigen. Der Kreml und die Kirchenführer in Moskau lehnen diesen Schritt entschieden ab (FH 4.3.2020). Die Gründung der orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) hat zwar zu heftigen kircheninternen Auseinandersetzungen geführt, verlief insgesamt aber weitestgehend friedlich. Die OKU wurde inzwischen durch die Patriarchen von Konstantinopel und Alexandrien sowie durch die orthodoxe Kirche Griechenlands formal anerkannt (AA 29.2.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/ukraine/geschichte-staat/#c4037, Zugriff 22.5.2020
- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
- USDOS – US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2011020.html, Zugriff 22.5.2020
Korruption
Die Ukraine wird im 2019 Corruption Perceptions Index von Transparency International mit 30 (von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) (TI 2019). Die Gesetze sehen strafrechtliche Sanktionen für Korruption vor, aber die Behörden setzen diese nicht effektiv um, und viele Beamte sind ungestraft korrupt, weniger in der Regierung, aber auf allen Ebenen der Exekutive, Legislative und der Justizbehörden. Trotz Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption durch die Regierung, bleibt diese ein Problem für Bürger und Unternehmen (USDOS 13.3.2019).
Korruption ist in der Ukraine weit verbreitet und stellt seit vielen Jahren ein inhärentes Problem dar. Korruption war ein zentrales Thema während der Proteste in Kiew im Herbst/Winter 2013/2014, die im Februar 2014 mit einem Regimewechsel endeten. In den Jahren 2014 und 2015 wurden im Rahmen einer nationalen Antikorruptionsstrategie mehrere neue Gremien zur Bekämpfung der Korruption auf verschiedenen Ebenen des Regierungsapparats eingerichtet. Darüber hinaus wurden Reformen in Polizei und Justiz eingeleitet, die beide stark von Korruption betroffen sind. Bis heute gibt es je nach Zuständigkeitsbereich eine Reihe von Stellen, die Korruptionsfälle untersuchen und strafrechtlich verfolgen. Es kam jedoch, wenn überhaupt, nur zu sehr wenigen Verurteilungen (Landinfo 2.3.2020). Bis vor kurzem gab es keine separaten Gesetze zum Schutz von Informanten, weshalb viele Bürger Korruption nicht anzeigen wollten. Im Jänner 2020 trat ein neues bzw. geändertes Gesetz zum Schutz von Informanten bezüglich Korruption in Kraft (Landinfo 2.3.2020; vgl. RFE/RL 14.11.2019).
Im Juni 2018 unterzeichnete der Präsident das Gesetz über das Hohe Antikorruptionsgericht (HACC) (USDOS 13.3.2019). Das HACC nahm im September 2019 seine Arbeit auf. Mit der Schaffung des HACC wurde das System der Organe des Landes zur Bekämpfung der Korruption auf hoher Ebene vervollständigt und zwei zuvor geschaffene Antikorruptionsbehörden, das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung, ergänzt. Die neuen unabhängigen Antikorruptionsbehörden sehen sich politischem Druck ausgesetzt, der das Vertrauen der Öffentlichkeit untergräbt, Bedenken hinsichtlich des Engagements der Regierung im Kampf gegen die Korruption aufkommen ließ und die Zukunftsfähigkeit der Institutionen bedroht (USDOS 11.3.2020). Mit der Errichtung des Hohen Antikorruptionsgerichts wurde der Aufbau des institutionellen Rahmens für die Bekämpfung der endemischen Korruption abgeschlossen (AA 29.2.2020). Das HACC hat jedoch bisher noch keine Ergebnisse erzielt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Ende Februar 2019 hat das ukrainische Verfassungsgericht Artikel 368-2 des ukrainischen Strafgesetzbuches, welcher illegale Bereicherung durch ukrainische Amtsträger kriminalisierte, aufgehoben, weil er gegen die Unschuldsvermutung verstoßen habe. In der Folge musste NABU 65 anhängige Ermittlungen gegen Parlamentarier, Richter, Staatsanwälte und andere Beamte einstellen, die teilweise schon vor Gericht gekommen waren. Die EU zeigte sich über diese Entscheidung besorgt (Hi 3.3.2019). Am 26. November 2019 unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Gesetz, das die strafrechtliche Verantwortung für die unrechtmäßige Bereicherung von Regierungsbeamten wieder einführte (USDOS 11.3.2020).
Das Gesetz schreibt vor, dass hohe Amtsträger Einkommens- und Ausgabenerklärungen vorlegen müssen und diese durch die Nationale Agentur für Korruptionsprävention (NAPC) geprüft werden. Die NAPC überprüft neben diesen Finanzerklärungen auch die Parteienfinanzierung. Beobachter stellen jedoch zunehmend infrage, ob die NAPC die Fähigkeit und Unabhängigkeit besitzt, diese Funktion zu erfüllen (USDOS 11.5.2020; vgl. ÖB 2.2019).
Durch den Reformkurs der letzten Jahre wurden mehr Transparenz und gesellschaftliches Bewusstsein für Korruption erreicht. Dennoch sind Korruption, Oligarchie und teilweise mafiöse Strukturen weiterhin Teil des Alltags der Menschen in der Ukraine, ob im Gesundheits- oder Bildungsbereich, in der Wirtschaft, im Zollwesen sowie in der Medienlandschaft (KAS 2019). Korruption ist nach wie vor ein ernstes Problem und trotz des starken Drucks der Zivilgesellschaft ist der politische Wille gering, dagegen anzugehen. Antikorruptionsagenturen wurden wiederholt in politisch belastete Konflikte mit anderen staatlichen Stellen und gewählten Vertretern verwickelt (FH 4.3.2020). Im Mai 2020 wurde bekannt, dass die Spezialstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung gegen den ehemaligen ukrainischen Generalstaatsanwalt Ruslan Ryaboshapka, der zwei Monate zuvor in einem parlamentarischen Misstrauensvotum aus dem Amt gezwungen wurde, ermittelt (RFE/RL 6.5.2020).
Die Ukraine hat einige Fortschritte bei der Förderung der Transparenz erzielt, zum Beispiel durch die Verpflichtung der Banken, die Identität ihrer Eigentümer zu veröffentlichen, und indem 2016 ein Gesetz verabschiedet wurde, das Politiker und Beamte dazu verpflichtet, elektronische Vermögenserklärungen abzugeben. Es ist jedoch möglich, einige Vorschriften zu umgehen, zum Teil, weil unterentwickelte Institutionen nicht in der Lage sind, Verstöße zu erkennen und zu bestrafen (FH 4.3.2020). Trotz der Bemühungen um eine Reform des Justizwesens und der Generalstaatsanwaltschaft bleibt Korruption unter Richtern und Staatsanwälten weit verbreitet (USDOS 11.3.2020).
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, der seit 2019 im Amt ist, hat sich vor allem den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben (UA 27.2.2019; vgl. AA 29.2.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
- Hi – Hromadske international (3.3.2019): You Can Now Get Rich Illegally in Ukraine. What Does This Mean?, https://en.hromadske.ua/posts/ukraine-legalizes-illegal-enrichment, Zugriff 20.5.2020
- KAS – Konrad Adenauer Stiftung (2019): Die Ukraine – Transparent, aber korrupt?, KAS Auslandseinformationen 4/2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2026806/Die+Ukraine+%E2%80%93++transparent%2C+aber++korrupt.pdf, Zugriff 20.5.2020
- Landinfo (2.3.2020): Ukraina, Korrupsjonsbekjempelse og beskyttelse for varslere av korrupsjon, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025536/Temanotat-Ukraina-Korrupsjonsbekjempelse-og-varslere-02032020.pdf, Zugriff 20.5.2020
- RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (11.4.2019): Ukraine's President Creates Anti-Corruption Court, https://www.rferl.org/a/ukraine-s-president-poroshenko-creates-anti-corruption-court/29875480.html?ltflags=mailer, Zugriff 20.5.2020
- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (14.11.2019): Ukraine's Zelenskiy Signs Law On Corruption Whistle-Blowers, https://www.rferl.org/a/ukraine-s-zelenskiy-signs-into-force-law-on-corruption-whistle-blowers/30270529.html, Zugriff 20.5.2020
- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (6.5.2020): Ukrainian Ex-Prosecutor Ryaboshapka Under Investigation, https://www.rferl.org/a/ukrainian-ex-prosecutor-ryaboshapka-under-investigation/30597499.html, Zugriff 20.5.2020
- TI – Transparency International (2019): Corruption Perceptions Index 2019, Ukraine, https://www.transparency.org/en/cpi, Zugriff 20.5.2020
- UA - Ukraine Analysen (27.2.2019): Präsidentschaftswahlen 2019, per E-Mail
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
- USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 20.5.2020
Bewegungsfreiheit
In Gebieten unter Regierungskontrolle ist die Bewegungsfreiheit im Allgemeinen nicht eingeschränkt. Das komplizierte ukrainische System, das von Einzelpersonen verlangt, dass sie sich rechtmäßig an einer Adresse registrieren lassen müssen, um wählen und bestimmte Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können, stellt jedoch ein Hindernis für die volle Bewegungsfreiheit dar, insbesondere für Vertriebene und Personen ohne offizielle Adresse, wo sie für offizielle Zwecke registriert werden könnten (FH 4.3.2020).
Verfassung und Gesetz gewähren den Bürgern Bewegungsfreiheit im Inland, Auslandsreisen, Auswanderung und Rückkehr. Die Regierung schränkt diese Rechte jedoch ein, insbesondere im östlichen Teil des Landes in der Nähe der Konfliktzone. Die Regierung und die von Russland geführten Kräfte kontrollieren die Bewegungen zwischen den von der Regierung kontrollierten Gebieten und den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten in der Region Donbas streng. Das Überschreiten der Kontaktlinie ist weiterhin mühsam. Am 17. Juli 2019 verabschiedete die Regierung neue Bestimmungen, die den Menschen mehr Flexibilität beim Transport von Gegenständen über die Kontaktlinie bieten sollten. Der öffentliche Personentransport über die Grenze bleibt verboten; private Beförderungsmittel sind zu hohen Preisen verfügbar und für die Mehrheit der Reisenden im Allgemeinen unbezahlbar. Obwohl es fünf Grenzübergänge gibt, waren während eines Großteils des Jahres 2019 nur vier in Betrieb. Nach Angaben des HRMMU überquerten zwischen Mai und August 2019 täglich durchschnittlich 39.000 Personen die Kontaktlinie. Das Pass-System, welches die ukrainische Regierung für den Übertritt vorsieht, bringt erhebliche Härten für Personen mit sich, die in das von der Regierung kontrollierte Gebiet einreisen, besonders für diejenigen, die Renten und staatliche Leistungen erhalten wollen (USDOS 11.3.2020). Rentner mit eingeschränkter Mobilität aufgrund von Krankheit, Behinderung oder fortschreitendem Alter, die in nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine leben, sehen sich überwältigenden Schwierigkeiten beim Zugang zu ihren Renten gegenüber oder erhalten diese überhaupt nicht (HRW 24.1.2020). Die Regierung versuchte, das Pass-System zu reformieren, und führte ein Online-Antragsverfahren zur Kontrolle der Einreise in das von der Regierung kontrollierte Gebiet ein, wobei die Maßnahme jedoch wenig Verbesserung brachte. Viele Personen in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten haben keinen Zugang zum Internet, um solche Pässe zu erhalten (USDOS 11.3.2020).
Die Ausreisefreiheit wird (vorbehaltlich gesetzlicher Einschränkungen) von der Verfassung garantiert. Ausreisewillige ukrainische Staatsangehörige müssen über einen Reisepass verfügen,