Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 1997 §1 Z4Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revisionen 1. des A M, und 2. der L O, beide vertreten durch Dr. Wolfgang Reiser, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Am Schillerpark, Rainerstraße 6-8, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 2019, 1. W226 2185233-1/16E und 2. W226 2185235-1/13E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revisionen werden, insoweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richten, zurückgewiesen.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen werden die angefochtenen Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerbern jeweils Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerber stellten am 19. April 2015 Anträge auf internationalen Schutz. Begründend brachten sie vor, sie hätten in der Ukraine gelebt, wo Krieg herrsche. Sie seien auch von der Polizei geschlagen und bedroht worden.
2 Der Erstrevisionswerber gab an, er sei in Aserbaidschan geboren und sowjetischer Staatsangehöriger. In der Ukraine, wo sie sich zuletzt aufgehalten hätten, hätten sie mit einem sowjetischen Inlandspass gelebt. Seine Mutter sei Armenierin und sein Vater Aserbaidschaner. Er gehöre der Volksgruppe der Aserbaidschaner an.
3 Die Zweitrevisionswerberin gab an, in Syrien geboren und sowjetische Staatsangehörige zu sein. Sie sei mit vier Jahren nach Armenien übersiedelt, dort in die Schule gegangen und gehöre der armenischen Volksgruppe an. Ihre Muttersprache sei armenisch.
4 Mit Bescheiden jeweils vom 27. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerber hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkte I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine ab (Spruchpunkte II.), erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkte III.), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkte IV.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkte V.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkte VI.).
5 Das BFA stellte - soweit für den Revisionsfall maßgeblich - fest, die Revisionswerber seien ukrainische Staatsbürger, da sie als ehemalige UdSSR-Bürger zum Zeitpunkt der Erklärung der Unabhängigkeit der Ukraine ständig dort wohnhaft gewesen seien. Begründend zitierte das BFA eine - weder in den Bescheiden wiedergegebene noch in den Verwaltungsakten enthaltene - Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 25. November 2010.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt A.I.) und hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 6 AsylG 2005 als unbegründet ab (Spruchpunkt A.II.). Die Beschwerden gegen die übrigen Spruchpunkte der angefochtenen Bescheide wies das BVwG mit der Maßgabe ab, dass die Feststellungen gemäß § 52 Abs. 9 FPG über die Zulässigkeit der Abschiebung in die Ukraine entfallen (Spruchpunkt A.III.). Unter einem sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).
7 Das BVwG führte - soweit für den Revisionsfall maßgeblich - begründend aus, die Identität der Revisionswerber, ihre Staatsangehörigkeit bzw. ihr Herkunftsstaat, ihre Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit könnten nicht festgestellt werden, ebenso wenig ihre „genauen Aufenthaltsorte“. Es sei nicht glaubwürdig, dass die Revisionswerber zuletzt etwa 30 Jahre lang in der Ukraine gelebt hätten.
8 Beweiswürdigend führte das BVwG aus, die Revisionswerber hätten lediglich die Kopien einer Heiratsurkunde und einer Geburtsurkunde des Erstrevisionswerbers vorgelegt, die jedoch keine Lichtbilder enthielten. Die Revisionswerber hätten zwar „ihre Aufenthaltsorte“ (gemeint: in der Ukraine) gleichartig schildern können, es sei aber aus diesen Angaben nicht zu eruieren, welche Staatsangehörigkeit sie besäßen. Ihr Aufenthalt in der Ukraine sei nicht glaubwürdig. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung habe sich gezeigt, dass den Revisionswerbern jeweils grundlegendes Wissen zu ihren behaupteten Aufenthaltsorten in der Ukraine fehle. Überdies hätten die Revisionswerber ihre genaue Reiseroute aus der Ukraine nach Österreich nicht angeben können. Auch das Vorbringen, wonach sie in der Ukraine jahrelang mit sowjetischen Papieren gelebt hätten, sei nicht glaubwürdig. Es wäre vielmehr zu erwarten gewesen, dass die über Schulbildung verfügenden Revisionswerber nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 bzw. in den Jahren danach bei den staatlichen Behörden um neue Papiere vorstellig geworden wären. Die Revisionswerber hätten hingegen in unglaubwürdiger Weise stets darauf beharrt, sie hätten im Jahr 2008 einem Polizisten ihre sowjetischen Pässe und 1.000 USD gegeben, damit er ihnen ukrainische Papiere besorge, seien aber von diesem betrogen worden und hätten keine Papiere erhalten. Die Revisionswerber hätten sich in der detaillierten Schilderung diesen Polizisten betreffend in Ungereimtheiten verwickelt. Auch der behauptete fluchtauslösende Vorfall, wonach die Revisionswerber im April 2015 in Donezk von drei Militärpersonen angegriffen und bedroht worden wären, sei nicht glaubwürdig und widersprüchlich.
9 Da sich der Aufenthalt der Revisionswerber in der Ukraine und das Fluchtvorbringen betreffend die Ukraine als unglaubwürdig herausgestellt hätten, lägen auch keine Hinweise dafür vor, dass die Revisionswerber die ukrainische Staatsbürgerschaft besäßen. Mangels irgendwelcher verifizierbarer und originaler Identitätsdokumente habe zu Identität, Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit nur eine Negativfeststellung getroffen werden können. Da der Herkunftsstaat nicht festgestellt habe werden können, seien auch keine Länderfeststellungen zu treffen gewesen.
10 Rechtlich folgerte das BVwG, die Revisionswerber hätten keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Der Herkunftsstaat der Revisionswerber sei nicht feststellbar und seien diese offenbar nicht bereit, umfassend wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Konkrete Anhaltspunkte, die es erlaubten, mit hinreichender Sicherheit die Ukraine als Herkunftsstaat festzustellen, wovon das BFA ausgegangen sei, seien im gegenständlichen Verfahren nicht hervorgekommen. Vielmehr habe sich herausgestellt, dass die Revisionswerber hinsichtlich ihres Aufenthaltes in der Ukraine unwahre Angaben gemacht hätten. Es seien daher die Anträge auf Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 8 Abs. 6 AsylG 2005 abzuweisen gewesen, weil der Herkunftsstaat nicht festgestellt habe werden können.
11 Die Feststellungen nach § 52 Abs. 9 FPG seien aufzuheben, weil aus von den Revisionswerbern zu vertretenden Gründen die Feststellung ihres Herkunftsstaates nicht möglich sei.
12 Gegen dieses Erkenntnis richten sich die vorliegenden (außerordentlichen) Revisionen, die das BVwG unter Anschluss der Verwaltungsakten vorgelegt hat.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Zu Spruchpunkt I.:
14 Die Revisionen wenden sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung ausschließlich gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten. Die Revisionen waren daher, insoweit sie sich auch gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richten, mangels Darlegung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd. Art. 133 Abs. 4 B-VG gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Zu Spruchpunkt II.:
15 Zulässig und auch begründet sind die Revisionen jedoch insoweit, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten richten, weil sie zutreffend vorbringen, das BVwG habe gegen die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Ermittlungspflichten bei der Feststellung des Herkunftsstaates verstoßen.
16 Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden unter den in den Z 1 oder 2 genannten Voraussetzungen der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung näher genannter Rechte bedeuten oder für ihn eine näher beschriebene Bedrohung mit sich bringen würde. Gemäß § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005 ist der Herkunftsstaat jener Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Fremde besitzt, oder - im Falle der Staatenlosigkeit - der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthaltes. Dementsprechend erkennt der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass „Herkunftsstaat“ jener Staat ist, zu dem ein formelles Band der Staatsbürgerschaft besteht; nur wenn ein solcher Staat nicht existiert, wird subsidiär auf sonstige feste Bindungen zu einem Staat in Form eines dauernden (gewöhnlichen) Aufenthalts zurückgegriffen (vgl. VwGH 19.4.2016, Ra 2014/01/0214; 3.5.2016, Ra 2016/18/0062; jeweils mwN).
17 Mit dem AsylG 2005 wurde die Bestimmung des § 8 Abs. 6 erlassen, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ohne jegliche Refoulement-Prüfung abzuweisen ist, sofern der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann. Nach dem Willen des Gesetzgebers wird für die Anwendung dieser Bestimmung darauf abgestellt, dass der Asylwerber nicht am Verfahren mitwirkt und offensichtlich einen unrichtigen Herkunftsstaat angibt, indem er seine Staatsangehörigkeit verschleiert. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung darf sich die Asylbehörde nicht in jedem Fall auf diese Voraussetzungen zurückziehen. Sie hat vielmehr den wahren Herkunftsstaat des Asylwerbers von Amts wegen festzustellen, wenn ihr dies auf Grund konkreter Anhaltspunkte im Verfahren auch ohne Mitwirkung des Asylwerbers möglich ist (vgl. VwGH 19.3.2009, 2008/01/0020, und VwGH 15.1.2009, 2007/01/0443, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird).
18 Um welche Anhaltspunkte für die Ermittlung der Staatsangehörigkeit bzw. des Herkunftsstaates es sich dabei handeln kann, richtet sich vor dem Hintergrund der jeweils einschlägigen völkerrechtlichen und nationalstaatlichen staatsbürgerschaftsrechtlichen Regelungen nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls, wobei neben Personaldokumenten, die einen Aufschluss über die Staatsangehörigkeit geben, insbesondere der Geburtsort und die Abstammung in Betracht kommen (vgl. zu diesen Merkmalen als typische Anknüpfungspunkte für die Staatsangehörigkeit Thienel, Österreichisches Staatsbürgerschaftsrecht I, 1989, 114 f).
19 Im Revisionsfall hat sich das BVwG, ausgehend vom Vorbringen der Revisionswerber, sie hätten die letzten 30 Jahre in der Ukraine verbracht, ausschließlich damit auseinandergesetzt, ob die Ukraine ihr Herkunftsstaat sei. Das BVwG legt aber gar nicht dar, auf Grund welcher rechtlicher Annahmen es für die ukrainische Staatsangehörigkeit der Revisionswerber auf deren dortigen Aufenthalt ankommen sollte. Eine in der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 17. September 2019 und im angefochtenen Erkenntnis erwähnte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 16. Jänner 2018 betreffend die Staatsbürgerschaft der Ukraine ist weder im Erkenntnis wiedergegeben noch in den Verfahrensakten enthalten.
20 Nach der zuvor dargestellten Rechtsprechung hätte sich das BVwG vielmehr damit auseinandersetzen müssen, welche Staatsangehörigkeit die Revisionswerber besitzen, oder ob diese etwa staatenlos sind, wofür allfälligen konkreten Anhaltspunkten im Verfahren nachzugehen gewesen wäre. So haben die Revisionswerber im verwaltungsbehördlichen Verfahren angegeben, sie seien sowjetische Staatsangehörige und hätten über sowjetische Inlandspässe verfügt. Der Erstrevisionswerber gab an, er sei in Aserbaidschan geboren worden und gehöre der aserbaidschanischen Volksgruppe an. Die Zweitrevisionswerberin gab an, sie sei in Syrien geboren, habe in Armenien die Schule besucht und gehöre der armenischen Volksgruppe an.
21 Ausgehend davon hätte sich das BVwG, wenn es diese Angaben für glaubwürdig erachtete, damit auseinandersetzen müssen, ob die Revisionswerber als ehemalige sowjetische Staatsangehörige und Angehörige der aserbaidschanischen bzw. armenischen Volksgruppe (bzw. beim Erstrevisionswerber im Hinblick auf dessen Geburtsort) etwa Staatsangehörige Aserbaidschans oder Armeniens geworden sind (vgl. VfGH 6.6.2014, U 12/2013 ua), oder zumindest darlegen müssen, warum ihm das nicht möglich war.
22 Das angefochtene Erkenntnis war daher, insoweit damit die Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Aussprüche betreffend die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung von Rückkehrentscheidungen und die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurden, einschließlich der Aufhebung der Feststellungen gemäß § 52 Abs. 9 FPG betreffend die Zulässigkeit der Abschiebung in die Ukraine, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
23 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. Dezember 2020
Schlagworte
Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Mitwirkungspflicht Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung VerfahrensmangelEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190030.L00Im RIS seit
02.02.2021Zuletzt aktualisiert am
02.02.2021