TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/31 L521 2197754-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.07.2020
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Entscheidungsdatum

31.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

L521 2197754-1/16E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 03.07.2020 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.04.2018, Zl. 1084911602-151221229, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 03.07.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte nach unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 29.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 30.08.2015 legte der Beschwerdeführer dar, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in Bagdad geboren und habe dort vor der Ausreise auch gelebt, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, bekenne sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung und sei ledig.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak etwa 10 Tage vor der Erstbefragung legal von Bagdad ausgehend im Luftweg in die Türkei verlassen zu haben. In der Folge sei er – teilweise schlepperunterstützt – über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich gelangt.

Zu den Gründen seiner Ausreise befragt führte der Beschwerdeführer aus, er habe den Irak aus Angst aufgrund der unsicheren Lage sowie des „Milizenkrieges“ verlassen.

3. Am 22.02.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache erstmals niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.

Eingangs der Befragung legte der Beschwerdeführer dar, der arabischen Sprache mächtig zu sein und der Einvernahme in gesundheitlicher Hinsicht folgen zu können. Zur Erstbefragung einvernommen führte der Beschwerdeführer aus, dass er vor einem Jahr und vier Monaten die Niederschriften erhalten habe und über den Inhalt „schockiert“ gewesen sein. Der Dolmetscher habe keine Rückübersetzung vorgenommen und seine Angaben zum Fluchtgrund falsch übersetzt.

Zur Person ergänzte der Beschwerdeführer, er habe zuletzt in Bagdad im Bezirk XXXX bei seinen Eltern gelebt. Die Schule habe er nach siebeneinhalb Jahren verlassen, da die Familie nach Syrien gezogen sei, wo er das Handwerk des Mechanikers erlernt habe. In den Jahren 2012 bis 2015 habe er alleine in der Türkei gelebt und dort als Tischler gearbeitet, da es „kein Leben im Irak gab“. Im Jahr 2015 sei er wegen Wasser in den Hoden operiert worden. Zuletzt habe er zwei Monate als Security gearbeitet. Auf Nachfrage zum Aufenthalt in der Türkei legte der Beschwerdeführer dar, dass er dort einen Asylantrag gestellt habe und dermaßen legal in der Türkei aufhältig war.

Befragt nach dem Grund für das Verlassen des Heimatstaates führte der Beschwerdeführer aus, dass während seiner Tätigkeit als Security zwei Fahrzeuge „zu dem Hotel“ vorgefahren wären und von den insgesamt acht Insassen verlangt worden sei, den Direktor zu sprechen. Dieser habe den Beschwerdeführer zur Kontrolle der Personalausweise veranlasst und – da er keine Besucher erwartete habe – im Wege des Beschwerdeführers die Vorlage des „Befehls“ verlangt. Da der Beschwerdeführer nichts erhalten habe, habe der den Personen den Zutritt verweigert. Eine Person habe ihm dann mitgeteilt, „dass wir sehen würden“. Die Wortfolge stelle eine Drohung dar.

Sechs Tage später habe eine Reinigungskraft einen Drohbrief in der Garage des Hotels gefunden, den er zur Polizei gebracht habe. Sein Vater habe ihn daraufhin aufgefordert, nicht nach Hause zu komme, da er beobachtet werden könnte. Er habe sich deshalb bis zur Ausreise im Kaffeehaus eines Freundes aufgehalten, wobei es aufgrund eines islamischen Festes zehn Tage gedauert habe, bis er ein Flugticket erhalten habe.

Auf Nachfrage legte der Beschwerdeführer zunächst dar, dass er im Hotel XXXX in Bagdad gearbeitet habe. Im von ihm vorgelegten Drohbrief werde er als Sunnite bezeichnet, der den Personen nicht geholfen habe. Er müsse deshalb das Gebiet und die Arbeit verlassen, da er ein Verräter sei. Welche Gruppierung ihn bedrohen würde wisse er nicht. Die Polizei habe ihm zugesagt, Ermittlungen durchzuführen. Er habe den Irak aber dennoch verlassen müssen, da er wisse, dass die Polizei nichts unternehmen und selbst „zu einer Miliz“ gehören würde. Seit der Ausreise würden gelegentlich unbekannte Personen bei seinen Eltern nach ihm fragen.

4. Am 09.03.2018 brachte der Beschwerdeführer seinen irakischen Reisepass im Original in Vorlage.

5. Mit dem hier angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.04.2018, Zl. 1084911602-151221229, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer von unbekannten Personen aus religiösen oder beruflichen Gründen bedroht worden sei. Ihm drohe auch keine anderweitige asylrelevante Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Nationalität, der Religion, der politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder im Kontext der unsicheren Lage sowie der bewaffneten Auseinandersetzungen im Irak.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers habe sich bei der Einvernahme gegenüber den Angaben bei der Erstbefragung als steigernd dargestellt, darüber hinaus habe der Beschwerdeführer sich in Widersprüche hinsichtlich des Verbleibs persönlicher Dokumente verwickelt. Eine Bedrohung durch Milizen stehe entgegen, dass die Familie des Beschwerdeführers unbehelligt in Bagdad leben könne und keinen Übergriffen ausgesetzt sein, obwohl unbekannte Personen nach dem Beschwerdeführer fragen würden. Die vorgelegten Beweismittel könnten an diesem Ergebnis in Anbetracht der mangelnden Überprüfbarkeit nichts ändern.

Eine Rückkehr in den Irak sei dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar, zumal er dort über familiäre Anknüpfungspunkte in Gestalt seiner in Bagdad lebenden Angehörigen verfügen würde und hinsichtlich der Angehörigen eben keine Schwierigkeiten mit Milizen oder Schwierigkeiten aufgrund des sunnitischen Religionsbekenntnisses in den Raum gestellt worden wären.

6. Mit Verfahrensanordnung vom 04.05.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

7. Gegen den dem Beschwerdeführer am 07.05.2018 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der dem Beschwerdeführer beigegebenen und von ihm bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen bzw. festzustellen, dass die erlassene Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung oder einer Aufenthaltsberechtigung plus gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 vorliegen und dem Beschwerdeführer daher gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 ein solcher Aufenthalte Titel amtswegig zu erteilen sein. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer vor, er erachte sich im Irak aufgrund seines sunnitischen Religionsbekenntnisses sowie aufgrund der Verweigerung einer Zusammenarbeit mit schiitischen Milizen als verfolgt. Die sein Vorbringen als unglaubwürdig qualifizierende Beweiswürdigung sei mangelhaft, da die Behauptungen des Asylwerbers nicht durch Behauptungen und Vermutungen der Behörde widerlegt werden dürften. Hinsichtlich der Erstbefragung habe der Beschwerdeführer darüber hinaus dargelegt, dass es zu Verständigungsschwierigkeiten mit dem Dolmetscher gekommen sei. Den von ihm vorgelegten Beweismitteln habe das belangte Bundesamt mit einer pauschalen Begründung jeden Beweiswert abgesprochen, was Willkür darstellen würde. Die „Vornahme der gebotenen Ermittlungen vor Ort“ hätte die Befürchtungen des Beschwerdeführers bestätigt, da der Drohbrief bei der Polizei zur Anzeige gebracht wurde. Ihm sei die Flüchtlingseigenschaft aus politischen und religiösen Gründen zuzuerkennen.

8. Die Beschwerdevorlage langte am 08.06.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

9. Am 03.03.2019 wurde dem Bundesverwaltungsgericht eine wider den Beschwerdeführer ergangene Strafverfügung wegen der Teilnahme an einer tätlichen Auseinandersetzung in der Altstadt in Linz zur Kenntnis gebracht.

10. Am 20.04.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht eine wider den Beschwerdeführer ergangene Anzeige wegen einer Übertretung der Verordnung gemäß § 2 Z. 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes zur Kenntnis gebracht.

11. Zur Vorbereitung der für den 03.07.2020 anberaumten mündlichen Verhandlung wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.06.2020 aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich oder im Rahmen der Verhandlung mündlich Stellung zu nehmen

12. Am 03.07.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung, eines Vertreters des belangten Bundesamtes sowie eines Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf der Verhandlung wurde die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand der dem Beschwerdeführer im Vorfeld übermittelten Länderdokumentationsunterlagen erörtert und dem Beschwerdeführer neuerlich die Gelegenheit eingeräumt, seine Ausreisegründe und seine Rückkehrbefürchtungen umfassend darzulegen. Der Beschwerdeführer brachte im Rahmen der mündlichen Verhandlung mehrere Empfehlungsschreiben in Vorlage.

Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet und seitens des Beschwerdeführers mit Eingabe seiner rechtsfreundlichen Vertretung vom 17.07.2020 noch fristgerecht die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , er ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Bagdad geboren und lebte dort vor der Ausreise im Bezirk XXXX in Bagdad in einem von seiner Familie gemieteten Haus. Der Beschwerdeführer ist Moslem und bekennt sich eigenen, vom Bundesverwaltungsgericht nicht überprüften Angaben zufolge zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

Der Beschwerdeführer besuchte in Bagdad die Grundschule und eine weiterführende Schule Ausmaß von etwa elf Jahren. Die Matura legte der Beschwerdeführer nicht ab, da er im Jahr 2007 gemeinsam mit seiner Familie aufgrund der seinerzeit in Bagdad vorherrschenden konfessionellen Konflikte nach Syrien emigrierte und dort bis in das Jahr 2012 lebte. In Syrien erlernte der Beschwerdeführer das Handwerk des Tischlers und war in einer Tischlerei erwerbstätig. Nachdem seine Familie im Jahr 2011 in den Irak zurückkehrte hielt sich der Beschwerdeführer ebenfalls für etwa sechs Monate in Bagdad auf und arbeitete in einem Restaurant. Im Anschluss daran begab er sich am 11.06.2012 in die Türkei, wo er drei Jahre als Tischler erwerbstätig war. Zur Legalisierung seines Aufenthaltes in der Türkei stellte der Beschwerdeführer einen Asylantrag, ohne seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen zu haben. Am 11.03.2015 kehrte der Beschwerdeführer in den Irak zurück, um sich einer Operation an einem Geschlechtsteil zu unterziehen. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer vor der Ausreise als Wachmann im XXXX beruflich tätig war.

Die Eltern des Beschwerdeführers leben derzeit im Bezirk XXXX in Bagdad in einem gemieteten Haus. Der Vater des Beschwerdeführers ist derzeit ebenso wie ein Bruder des Beschwerdeführers erwerbslos. Die Mutter des Beschwerdeführers führt den Haushalt. Ein weiterer Bruder sowie eine Schwester des Beschwerdeführers leben bei den Eltern und sind Schüler. Eine weitere Schwester des Beschwerdeführers ist verheiratet und lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern ebenfalls im Bezirk XXXX .

Am 20.08.2015 verließ der Beschwerdeführer den Irak legal vom Internationalen Flughafen Bagdad ausgehend im Luftweg in die Türkei und gelangte in der Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er bereits am 29.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2. Der Beschwerdeführer gehörte in seinem Herkunftsstaat keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an hatte vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten aufgrund seiner arabischen Volksgruppenzugehörigkeit und seines islamich-sunnitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer hatte außerdem vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.

Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2015 vor seiner Ausreise weder mündlich noch schriftlich von Milizionären einer unbekannten Miliz oder einer anderen Gruppierung bedroht. Der Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat auch keiner anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe, Kämpfer schiitischer Milizen oder Privatpersonen ausgesetzt und wird im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsregion Bagdad einer solchen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein.

Der Beschwerdeführer ist im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion Bagdad nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund seines Bekenntnisses zum sunnitischen Islam ausgesetzt. Er hat auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit physischer Gewalt aufgrund einer allfälligen Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen zu rechnen.

1.3. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge im Irak.

Die irakische Hauptstadt Bagdad ist im Luftweg mit Linienflügen (Schwechat-Istanbul/Dubai-Bagdad) direkt und gefahrlos erreichbar.

1.4. Der Beschwerdeführer ist ein junger, gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit im Herkunftsstaat erworbener grundlegender Schulbildung und (beruflicher) Erfahrung als Tischler. Der Beschwerdeführer verfügt über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Herkunftsregion in Gestalt seiner dort lebenden Eltern und Geschwister. Dem Beschwerdeführer ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar. Er verfügt über eine unentgeltliche Wohnmöglichkeit im Haus seines Vaters in Bagdad.

1.5. Der Beschwerdeführer verfügt über irakische Ausweisdokumente (Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis) im Original sowie über ein am 20.06.2019 abgelaufenes irakisches Reisedokument im Original.

1.6. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 29.08.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in das Bundesgebiet ein, ist seither durchgehend im Bundesgebiet als Asylwerber aufhältig und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung (mit Unterbrechungen aufgrund eines nicht bewilligten Privatverzugs) Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Zur Bestreitung seiner Ausgaben wurde er außerdem von seiner Familie im Irak fallweise finanziell unterstützt.

Nach der Einreise war der Beschwerdeführer zunächst in Not- und Übergangsquartieren des Bundes und anschließend vom 01.10.2015 an in einer Unterkunft für Asylwerber in der Gemeinde XXXX untergebracht. Am 16.11.2016 verließ er diese Unterkunft und begründete – in Erwartung einer rascheren Bearbeitung seines Asylantrages im Bundesland Niederösterreich – am selben Tage einen Wohnsitz in der Stadtgemeinde XXXX , woraufhin die Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber eingestellt wurde. Nachdem der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 06.02.2017 darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dass sein Asylverfahren weiterhin von der Regionaldirektion Oberösterreich des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl bearbeitet wird, kehrte er nach Oberösterreich zurück und bewohnte vom 09.02.2017 an bis zur Schließung am 02.06.2020 eine Unterkunft für Asylwerber in der Stadt XXXX .

Mit 29.05.2020 wurde dem Beschwerdeführer die Unterkunftnahme in einem privaten Quartier bewilligt. Das Angebot einer Verlegung in eine Unterkunft für Asylwerber in der Gemeinde Feldkirchen nahm er deshalb zuletzt nicht in Anspruch, weshalb die Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber mit 02.06.2020 eingestellt wurden. Der Beschwerdeführer begründete am 02.06.2020 einen Wohnsitz in einer privaten Unterkunft in XXXX , wo er ein Zimmer angemietet hat. Nachdem ein erster Antrag auf weitere Gewährung von Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber aufgrund der Höhe der Miete und einer unzureichenden Unterstützungserklärung seiner Freundin abgelehnt wurde, geht der Beschwerdeführer davon aus, aufgrund der Unterstützungserklärung eines Freundes weiterhin Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber zu erhalten.

Der Beschwerdeführer war im Bundesgebiet bislang nicht legal erwerbstätig. Der Beschwerdeführer brachte im Verfahren keine Einstellungszusage und auch keinen Arbeitsvorvertrag in Vorlage, er geht jedoch davon aus, in der Druckerei der XXXX einen Arbeitsplatz zu erhalten, da ihm Freunde eine Anstellung in Aussicht gestellt hätten. Wie sich die Arbeitszeiten und die Entlohnung gestalten würden, ist dem Beschwerdeführer nicht bekannt.

Der Beschwerdeführer verrichtete in der Gemeinde XXXX im April 2016 und im Juni 2016 eine Remunerantentätigkeit und brachte dabei insgesamt EUR 35,00 ins Verdienen. Darüber hinaus erbrachte er während seines Aufenthaltes in der Gemeinde XXXX ehrenamtliche Hilfstätigkeiten in der Landwirtschaft und privaten Gärten.

Der Beschwerdeführer besuchte Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache und legte am 08.10.2016 die Prüfung auf dem Niveau A1 und am 01.08.2017 die Prüfung auf dem Niveau A2 ab. Er verfügt über fortgeschrittene Kenntnisse der deutschen Sprache, die eine Verständigung in alltäglichen Situationen ermöglichen. Zuletzt besuchte er einen Deutschkurs auf dem Niveau B1 vom 06.11.2017 an bis zum 21.12.2017 und legte die Prüfung auf dem Niveau B1 ab. Am 11.08.2017 besuchte der Beschwerdeführer außerdem einen Werte- und Orientierungskurs.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten und ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig. Er ist seit etwa Mitte des Jahres 2018 mit der österreichischen Staatsangehörigen XXXX (laut Beschwerdeführer Sabine Babie), geb. XXXX , bekannt und unterhält mit ihr seit etwa Mitte des Jahres 2019 eine Beziehung. Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Freundin nicht im gemeinsamen Haushalt. Das Geburtsdatum sowie die Wohnanschrift seiner Freundin sind dem Beschwerdeführer nicht bekannt, wobei er eigenen Angaben zufolge selbständig zur Wohnanschrift seiner Freundin gelangen kann. Der Beschwerdeführer unterhält mit seiner Freundin täglich telefonischen Kontakt und alle zwei Tage – allenfalls auch in längeren Abständen – persönlichen Kontakt. Die drei Kinder seiner Freundin aus vorangehenden Beziehungen sprechen den Beschwerdeführer als „Papa“ an. XXXX bezieht Kinderbetreuungsgeld und ist teilzeiterwerbstätig, für ihre Kinder aus vorangehenden Beziehungen erhält sie Unterhalt. Der Beschwerdeführer ist an einer Eheschließung interessiert, hat aber keine dahingehenden Schritte unternommen. Die Schwester und die Mutter seiner Freundin beschreiben den Beschwerdeführer als ihnen aufgrund der Beziehung nahestehende Person, als „Gutmütig und Schamant“ (!) sowie als freundlich und hilfsbereit.

Darüber hinaus pflegt der Beschwerdeführer normale soziale Kontakte zu seinem Freundeskreis. Ein vereinsmäßiges Engagement des Beschwerdeführers ist nicht feststellbar. Der Arbeiter-Samariter-Bund attestiert dem Beschwerdeführer als Quartiergeber der Unterkunft für Asylwerber in der Stadt XXXX Arbeits- und Integrationswillen sowie die Kenntnis grundlegender Rechte und Pflichten, wobei der Beschwerdeführer als fleißig und engagiert beschrieben wird. Unterstützer aus der Gemeinde XXXX bezeichnen den Beschwerdeführer in im Verfahren erster Instanz vorgelegten Schreiben als liebenswerten, lebensfrohen und freundlichen Menschen, als hilfsbereit, als bei der Organisation islamischer Trauerfeierlichkeiten behilflich, als lernwillig sowie als guten Koch. Einer weiteren Unterstützerin hilft der Beschwerdeführer gelegentlich beim Einkaufen und im Haushalt.

1.7. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.8. Zur gegenwärtigen Lage im Gouvernement Bagdad werden folgende Feststellungen getroffen:

Das Gouvernement Bagdad ist das mit ca. 4.555 km² flächenmäßig kleinste Gouvernement des Landes und beherbergt die gleichnamige irakische Hauptstadt Bagdad. In Bagdad lebten 2018 offiziell schätzungsweise 8,1 Millionen Menschen. Obwohl Bagdad das kleinste Gouvernement im Irak ist, hat es die höchste Einwohnerzahl von allen Gouvernements. 87% der Bevölkerung des Gouvernements leben in der Stadt Bagdad selbst. Die Hauptstadt ist das wichtigste Wirtschaftszentrum des Landes und beherbergt die stark geschützte grüne Zone.

Die Stadt Bagdad ist in neun Verwaltungsbezirke gegliedert: Adhamiyah, Karkh, Karada, Khadimiyah, Mansour, Sadr City, Al Rashid, Rasafa und 9 Nissan (‘new Baghdad’). Die restliche Fläche des Gouvernements beherbergt die Verwaltungsbezirke Al Madain, Taji, Tarmiyah, Mahmudiyah und Abu Ghraib, die den sogenannten „Bagdad Belt“ bilden und die Vororte beherbergen.

Gouvernement und Stadt Bagdad weisen eine gemischte Bevölkerung aus Schiiten und Sunniten mit einer geringeren Anzahl christlicher Gemeinschaften auf. Während die meisten Stadtteile in Bagdad in der Vergangenheit von einer Mischung aus Sunniten und Schiiten bewohnt waren, führte die gewaltsame Säuberung im Zuge der konfessionellen Konflikte insbesondere in den Jahren 2006 und 2007 dazu, dass die Stadt viel stärker religiös geteilt und von den Schiiten dominiert zu sein scheint (siehe dazu im Detail unten 1.10 „Lage von sunnitischen Arabern in Bagdad“).

Die Einheiten der irakischen Armee in Bagdad unterstehen Führung des Baghdad Operations Command (BOC), das in zwei Gebiete unterteilt ist, das Karkh Area Command und das Rusafa Area Command. Die Special Forces Division (SFD) des Premierministers ist für die Sicherheit in der grünen Zone und den Schutz des Premierministers verantwortlich und kann vom Verteidigungsministerium, dem BOC, dem Joint Operations Command (JOC) sowie dem Premierminister selbst eingesetzt werden. Die SDF wird auch für Sicherungsaufgaben in Bagdad herangezogen, insbesondere während der schiitischen Pilgerreisen.

Dem Karkh Area Command untersteht die 6. irakische Armeedivision mit verschiedenen Brigaden, die in und außerhalb der Stadt stationiert sind. Die dem Rusafa Area Command unterstehende 9. Irakische Armeedivision ist derzeit nicht in Bagdad stationiert. Die Bundespolizei des irakischen Innenministeriums ist in Bagdad durch drei Bundespolizeidivisionen vertreten. Die 1. Federal Police Division sichert die südwestliche, westliche und südöstliche Kanalzone von Bagdad. Die 2. Federal Police Division, die einzige mechanisierte Division der Bundespolizei in Bagdad, wird hauptsächlich zur Terrorismusbekämpfung in Bagdad und den Bagdad-Belts, zur Sicherung von Pilgerwegen und zu Aufgaben in Zusammenhang mit der Strafverfolgung herangezogen. Die 4. Federal Police Division deckte das südliche Bagdad und Gebiete südlich der Hauptstadt ab und betreibt das Gefängnis in Karkh. Ergänzend steht westlich von Bagdad die 3. Brigade der Emergency Response Division (ERD) zur Verfügung. Die Stadt Bagdad und die Vororte werden grundsätzlich von den irakischen Behörden kontrolliert. In der Praxis teilen sich die Behörden jedoch die Verteidigungs- und Strafverfolgungsaufgaben mit den schiitisch dominierten Milizen der Volksmobilisierungseinheiten (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF), was zu einer „unvollständigen“ oder überlappenden Kontrolle mit diesen Milizen führt. Für die Jahre 2014 und 2015 liegen Berichte vor, wonach Einheiten der PMF an Misshandlungen und Morden an Zivilisten und Sunniten im Zusammenhang mit Operationen gegen den Islamischen Staat in den Bagdad-Belts beteiligt waren.

Seit dem Eintritt der militärischen Niederlage des Islamischen Staates im Dezember 2017 gibt es in Bagdad und anderen Landesteilen weniger Angriffe des Islamischen Staates mit großer Breitenwirkung. Der Islamische Staat verfügt weiterhin über aktive Zellen im nördlichen und westlichen Bagdad-Belt, diese befinden sich jedoch erheblichen Verlusten im Jahr 2017 in einem inaktiven Zustand. Seit dem Jahr 2018 sind Bagdad und die Bagdad-Belts kein prioritäres Operationsgebiet des Islamischen Staates mehr und ist der Islamische Staat nicht mehr für den überwiegenden Teil der Gewalttätigkeiten in der irakischen Hauptstadt verantwortlich. Die Möglichkeit, Anschläge auch im Zentrum der irakischen Hauptstadt zu verüben, dürfte nach wie vor gegeben sein, allerdings befindet sich die verbliebenen Anhänger des Islamischen Staates in einer Phase der Neuaufstellung.

Wenn der Islamische Staat die Verantwortung für Angriffe übernimmt, werden die Opfer entweder als „Abtrünnige“ oder „Rafida“ (eine abfällige Bezeichnung für schiitische Muslime) oder als bewaffnete Akteure bezeichnet, obwohl die Opfer möglicherweise Zivilisten sind. Der Islamische Staat übertreibt das häufig die Verluste, die seine Anschläge nach sich ziehen.

Die nachstehende Grafik zeigt, dass die Anzahl der zivilen Opfer von Gewaltakten in Bagdad in den Jahren 2017 und 2018 gegenüber den Vorjahren signifikant gesunken ist und wieder das Niveau vor dem Erstarkten des Islamischen Staates erreicht hat (Anmerkung: Die Datenbank Iraq Body Count kommt zu abweichenden Werten, siehe dazu die weitere Grafik).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Entwicklung der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Gouvernement Bagdad und Anzahl der Opfer nach der Datenbank Iraq Body Count, wobei die Darstellung jedwede Art von Gewaltanwendung (insbesondere Bombenanschläge, Selbstmordattentate, Attacken mit Schusswaffen und außergerichtliche Tötungen) umfasst.

Die Verwaltungsbezirke mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu zivilen Todesfällen führten, waren im Jahr 2018 Adhamiya mit 78 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 94 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von Resafa (einschließlich Thawra 1 & 2) mit 77 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 161 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von und Mada'In mit 63 sicherheitsrelevanten Vorfällen, bei denen 69 Zivilisten ums Leben kamen. Die höchste Rate an Todesfällen pro 100.000 Einwohner) wurden im Vorort Tarmia (35,80) verzeichnet, gefolgt von Mada'in (15,91) und Adhamiya (8,25). Die meisten von der Iraq Body Count im Jahr 2018 im Gouvernement Bagdad erfassten Vorfälle betrafen Schießereien (46,4%), gefolgt von Morden („executions“) (30,6%) und die Verwendung improvisierter Sprengsätze (20,7%).

Dem Experten Michael Knights zufolge ereigneten sich in Bagdad 2018 die wenigsten Terroranschläge von –Jihadisten seit dem Jahr 2003. Anschläge des Islamischen Staates sind in der Stadt selbst „mehr oder weniger verschwunden“, in den Bagdad-Belts sind die Anschläge des islamischen Staates zurückgegangen. Derzeit verhält sich der Islamische Staate in Bagdad und den Bagdad-Belts unauffällig und hat 2018 nicht viele Operationen durchgeführt. Wenn Angriffe verübt werden, handelt es sich meistens um Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen. Der Islamische Staat ist wahrscheinlich nicht für den Großteil der Gewalt in Bagdad verantwortlich. Das Institute for the Study of War geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass die derzeit registrierten Gewaltakte in Bagdad im Zusammenhang mit kriminellen und politischen Auseinandersetzungen (unter letztes fallen politische Einschüchterung, gezielte Attentate usw.) und nicht mit dem Islamischen Staat stehen. Auch der Experte Michael Knights geht davon aus, dass meisten Gewalttaten in Bagdad nicht dem Islamischen Staat zuzuschreiben sind. Quellen besagen, dass der Islamische Staat seine Aktivitäten derzeit nur im Bagdad-Belt und in den Randgebieten der angrenzenden Gouvernements entfaltet, anstatt in der Stadt selbst. Der Experte Joel Wing gab an, dass die gewalttätigsten Vorfälle mit improvisierten Sprengsätzen und Schießereien, die er aufzeichnete, Medienberichten zufolge im äußersten Norden und Süden von Bagdad und in geringerem Maße im Westen vorkommen. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass die intensiveren Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen im nördlichen und nordwestlichen Teil der Stadt Bagdad (Kadhimiyah, Adahamyah) und im Vorort Tarmia (nördlich von Bagdad) verübt werden. Nur einige Vorfälle ereigneten sich in Bagdad westlich des Tigris - Karadah und Neu-Bagdad / al-Nissan und östlich des Tigris (Rusafa, Karkh, Rasheed und Mansour) sowie in Doura, jedoch in geringerer Intensität.

Das Institute for the Study of War kommt in seiner Analyse zum Ergebnis, dass „überwiegende Mehrheit“ der Gewaltakte in Bagdad im Jahr 2018 „politische Gewalt“ darstellte, die im Allgemeinen politische Einschüchterungen, bewaffnete Scharmützel und gezielte Morde unter Schiiten vor dem Hintergrund des anhaltenden politischen Wettbewerbs und der Regierungsbildung nach den Wahlen im Mai 2018 umfasste. In ähnlicher Weise erklärt der Experte Michael Knights, dass der Haupttrend bei der Gewalt in Bagdad darin besteht, dass es sich fast ausschließlich um persönliche, gezielte oder kriminelle Gewalt handelt, die in erster Linie den Einsatz von Kleinwaffen, Erpressung, Einschüchterung, improvisierte Sprengsätze oder Granaten, Schießereien, Raubüberfälle und andere Erscheinungsformen organisierter Kriminalität umfasst. Diese Aktivitäten dienen dem Experten zufolge in erster Linie der Einschüchterung und Gewalt gegen Zivilisten, um Geld zu verdienen, Zivilisten zu vertreiben, die als Außenseiter angesehen werden, oder um politische Gegner oder Menschen mit einer anderen ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu vertreiben oder ist gegen Personen gerichtet, die aufgrund ihres Lebensstils oder ihrer vorherigen Beteiligung an Verbrechen oder bewaffneten Konflikten exponiert sind. Er erwähnte auch, dass die politischen Spaltungen unter den Schiiten derzeit einen Großteil der Gewalt in den schiitischen Gebieten von Bagdad und Basrah ausmachen.

Die Expertin Geraldine Chatelard hebt hervor, dass Milizen in Bagdad häufig von Sunniten und Minderheiten der Gewalt beschuldigt werden, Morddrohungen, Entführungen, gezielte Attentate oder die Übernahme von Gebäuden von rechtmäßigen Eigentümern verübt zu haben, dies unter Hinweis darauf, dass sogar Schiiten Opfer von Erpressung und Tötung geworden sind. Der Expterte Michael Knights weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Sunniten und Christen in erster Linie befürchten, von schiitischen Milizen in Bagdad erpresst oder entführt zu werden, jedoch Quellen davon berichteten, dass die Zuweisung der Verantwortung für bestimmte Angriffe zu bestimmten Täter in Bagdad schwierig ist und insbesondere Sprengstoff sowohl zu politischen als auch zu kriminellen Zwecken eingesetzt wird, um Ziele anzugreifen und einzuschüchtern. Den PMF-Milizen werden dabei „enge Verbindungen zu kriminellen Banden“ zugeschrieben, die Unterscheidung zwischen beiden ist nicht immer klar.

Der Experte Michael Knights vertritt zur Sicherheitslage allgemein die Ansicht, dass in der Stadt Bagdad die Gebiete sicherer sind und weniger Raum für offene Gewalt wie z.B. improvisierte Sprengsätze oder Raubüberfälle bieten, in denen sich die irakischen Streitkräfte auf die Bewachung wichtiger Standorte konzentrieren – etwa die Verwaltungsbezirke Karkh, Doura und Mansour. Dort wo die irakischen Streitkräfte weniger dominant ist und bewaffnete Akteure wie kriminelle Banden und Milizen Revierkämpfe führen und um Einfluss konkrurrieren, ist die Sicherheitslage entsprechend angespannter, wie in Kadhimiyah, Jihad, Bayaa und Karadah. Er vertrat die Ansicht, dass die "schlimmsten Sicherheitsbereiche" in der Stadt Adhamiyah, New Bagdad und Sadr City seien.

Milizen sind auch in bewaffnete Zusammenstöße zwischen ihnen selbst und den regulären Sicherheitskräften verwickelt, die laut Michael Knights im Jahr 2018 im Zentrum der Hauptstadt und in östlich gelegenen Gebieten mehrmals stattfanden. Ein Vorfall zog mediale Aufmerksamkeit nach sich: Am 20. Juni 2018 stoppte die irakische Polizei ein Auto in der Innenstadt von Bagdad, das Angehörigen der von Iran unterstützten Miliz Kataib Hezbollah („Hisbollah-Brigaden“) gehörte. Ein Hisbollah-Konvoi mit fünf Fahrzeugen traf ein und begann auf die Polizei zu schießen, was zu einem Feuergefecht führte, bei dem zwei Offiziere und ein Milizionär verletzt wurden. Die Polizei umzingelte daraufhin das Hauptquartier der Kataib Hezbollah, bis der Schütze der Polizei übergeben wurde. Der Vorfall spiegelt den möglichen Machtkampf zwischen irakischen Sicherheitskräften (Armee, Bundespolizei, örtliche Polizei) und PMF-Milizen wider.

EASO hat die folgenden sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2018 exemplarisch identifiziert:

Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Bomben

Bagdad wurde in der Vergangenheit vom Islamischen Staat wegen der Bevölkerungskonzentration bevorzugt angegriffen, da die großen Menschenansammlungen die Möglichkeit geboten haben, mit einem Bombenanschlag eine große Anzahl von Opfern zu treffen. 2018 sind solche Anschläge jedoch zurückgegangen. Noch im Jahr 2017 verfolgte der Experte Michael Knights eine hohe Anzahl von Angriffen mit Hilfe von improvisierten Sprengsätzen auf Märkte und Geschäfte in Bagdad. Die Anzahl der Angriffe dieser Art ging jedoch im weiteren Verlauf des Jahres 2018 zurück. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass ein in Bagdad im Jahr 2018 festgestellter charakteristischer Angriff des Islamischen Staates darin bestand, Sprengsätze gegen kleine Personenbusse einzusetzen, die jeweils etwa zehn Personen befördern und die in ganz Bagdad zum Straßenbild gehören. Diese Busse wurden im Islamischen Staat im Jahr 2018 mehrmals mit improvisierten Sprengsätzen angegriffen, was zwar nur minimale Verluste, aber Einschüchterungen der Zivilbevölkerung zur Folge hatte.

Noch im Januar 2018 sprengten sich zwei Selbstmordattentäter auf dem überfüllten Tayran-Markt in Bagdad und töteten dabei mindestens 38 Menschen und verletzten bis zu 90 Menschen. Der Angriff schockierte die Bevölkerung von Bagdad, da er nach einem signifikanten Rückgang solcher Angriffe in Bagdad. Er wurde vom Guardian als der schwerste Angriff auf Bagdad seit der Erklärung des Sieges über den Islamischen Staat beschrieben. Beispiele für andere explosive Angriffe im Jahr 2018 sind die folgenden:

?        In Rashidiya explodierte im Januar 2018 eine Bombe, ein Milizionär der PFM wurde getötet und zwei weitere wurden verletzt wurden.

?        Am 23. Januar 2018 wurde ein Soldat getötet und zwei weitere verletzt, als eine irakische Militärpatrouille in Tarmiya nördlich von Bagdad von einer Straßenbombe getroffen wurde.

?        Am 16. Mai 2018 wurden 5 Menschen getötet und 10 verletzt, als ein Selbstmordattentäter ein schiitisches Begräbnis in Tarmiya angriff.

?        Am 23. Mai 2018 verübte der Islamische Staat einen Selbstmordanschlag in der Shula-Region, bei dem Angaben des Islamischen Staates zufolge 33 Menschen getötet und verletzt wurden. Die irakischen Medien berichteten demgegeneüber, dass vier Menschen getötet und 15 verletzt wurden.

?        Der Islamische Staat meldete im August 2018 5 Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen auf Kleinbusse in Bagdad in den Distrikten Amil, Shula, Turath und Baladiyat. 669 Zwei dieser Angriffe töteten und verletzten 12 schiitische Muslime.

?        Im Juni 2018 wurden 17 Menschen bei einer Explosion eines Waffenlagers der Miliz von Muqtada al Sadr getötet und 80 verletzt. Berichten zufolge wurden die Waffen in einer Moschee aufbewahrt, die von Sadr-Anhängern benutzt wurde.

?        Eine Explosion auf einem Markt in Sadr City am 14. August 2018 wurde von einer Quelle im Sicherheitsapparat auf kriminelle Gründe zurückgeführt. Dabei wurden drei Menschen getötet und vier verletzt.

?        Ein improvisierter Sprengsatz, der auf Schiiten im Bezirk Jihad (West-Bagdad) abzielt, tötete Berichten zufolge im September 2018 vier Menschen in der Nähe eines Einkaufszentrums.

?        Am 25. September 2018 wurde in den folgenden Bezirken eine Reihe von Explosionen gemeldet, die zu Opfern führten: Al Jadid (New Bagdad) östlich von Bagdad (1 Tote, 2 Verletzte), al Shaab nördlich von Bagdad (2 Tote) und al-Baayaa westlich von Bagdad (2 Tote) .Der Islamische Staat übernahm am 25. September 2018 die Verantwortung für fünf improvisierte Sprengsätze gegen Shula, Kadhimiyah (Nord-Bagdad), Shaab und Bataween (Rusafa), und den Bezirk Bayaa (Zentral-Bagdad), dabei wurden 3 Zivilisten getötet.

?        Am 1. und 2. Oktober 2018 forderten zwei improvisierte Sprengsätze in Shaab und Al Jadid einen Toten und mehrere Verwundete. Dem Islamischen Staat zufolge sei die Zahl der Opfer bei diesen beiden Angriffen viel höher gewesen und habe mehr als 50 Tote und Verwundete betragen.

?        Am 7. Oktober 2018 wurden bei einer Reihe von Angriffen auf verschiedene Vororte in Bagdad (Abu Dshir, 17 km südlich von Bagdad, Abu Ghraib, 44 km westlich von Bagdad und im Norden von Bagdad) vier Personen getötet und fünf verletzt.

?        Am 4. November 2018 wurden bei einer Serie von fünf improvisiertem Sprengsätzen in verschiedenen Gebieten des Gouvernements 8 Personen getötet und 14 verletzt. Eine andere Quelle berichtete von 7 Toten und 16 Verletzten. Der Islamische Staat behauptete jedoch, es seien bei den von ihm verübten Anschlägen mehr als 50 Opfer zu beklagen gewesen.

Beispiele für bewaffnete Zusammenstöße im Jahr 2018 sind die folgenden:

?        Unbekannte bewaffnete Personen eröffneten das Feuer im Stadtteil Jihad im Westen von Bagdad und töteten im Januar 2018 einen lokalen Bürgermeister.

?        Der Islamische Staat ermordete 8 Zivilisten bei einem Angriff auf den Vorort Tarmia im Mai 2018; die Opfer stellten Werbung für die Parlamentswahl auf; der Islamische Staat bezeichnete sie als Mitglieder einer Stammesmiliz.

?        Bei einem weiteren, nächtlichen Angriff des Islamischen Staates auf den Vorort Tarmia Anfang Mai 2018 wurden 21 Mitglieder eines lokalen Stammes (18 Männer, 2 Frauen und ein Kind) getötet. Sämtliche Opfer waren Mitglieder des Albu-Faraj-Stammes, der ein überzeugter Gegner des Islamische Staates in der Region ist. Die Mitglieder sind Teil der lokalen sunnitischen Miliz und der PMF, die zur Verteidigung gegen des Islamischen Staat gegründet wurden. Die Angreifer des Islamischen Staates trugen Armeeuniformen und gingen zunächst gegen einen Anwalt vor, von dem bekannt war, dass er Opfern des Islamischen Staates half, und töteten ihn in seinem Haus. Als andere Dorfbewohner kamen, um zu helfen, eröffneten sie das Feuer, töteten und verletzten sie und zogen sich zurück, bevor die Armee eintraf, um sie zu fassen.

In Bagdad gab es mehrere Morde an Persönlichkeiten, die in sozialen Medien bekannt geworden waren, ohne dass die Täter identifiziert und einer bestimmten Gruppierung zugeordnet werden konnten.

?        Tara Fares, bekannt aus Instagram, die in den sozialen Medien über persönliche Freiheit berichtet, wurde am 27. September 2018. in Bagdad erschossen, als sie in ihrem Porsche fuhr.

?        Im Jahr 2017 wurde Karar Nushi, ein männliches Model, das Morddrohungen wegen seiner langen Haare und seiner engen Kleidung erhalten hatte, in der Palästina-Straße erstochen aufgefunden, wobei sein Körper Anzeichen von Folter zeigte.

?        Hammoudi al-Meteiry, ein 15-jähriger und als „König von Instagram“ bezeichneter Jugendlicher, der Berichten zufolge wegen seiner Homosexualität von unbekannten Tätern getötet wurde.

Der Islamische Staat gab bekannt, Scheichs und Stammesführer angegriffen zu haben, die die Parlamentswahlen im Mai 2018 unterstützten. Im Mai 2018 behauptete der Islamische Staat, er habe das Haus eines wahlfördernden Stammesführers mit einer Bombe angegriffen zu haben; es ist unklar, ob diese dabei getötet wurde. Folgende weiteren Angriffe wurden dem Islamischen Staat zugeschrieben:

?        Am 27. Februar 2018 wurden vier Mitglieder der Sahwa-Bewegung von unbekannten Tätern im Norden Bagdads erschossen. Einer wurde getötet, die anderen drei verwundet.

?        Am 1. März 2018 wurde ein ehemaliger Beamter der Sahwa-Bewegung durch eine Bombe in Bagdad getötet.

?        Am 29. April 2018 wurde ein Führer der PMF, Qassim Al-Zubaidi, bei einem Attentat in der Innenstadt von Bagdad verletzt. Stunden zuvor wurde ein Wahlkandidat der Rechtsstaat-Koalition nördlich von Bagdad getötet.

?        Am 22. Juni 2018 gab der Islamische Staat bekannt, einen Stammesführer in al-Zour in der Nähe von Tarmia nördlich der Hauptstadt getötet zu haben, weil er die Parlamentswahlen unterstützt hatte.

?        Am 8. Juli 2018 wurden ein Kommandeur der Stammesmiliz und einer seiner Begleiter bei einem Bombenangriff in Nordbagdad verwundet.

?        Am 19. Juli 2018 wurde ein Angehöriger der Sicherheitskräfte bei einem Angriff mit einer auf der Straße platzierten Bombe auf ihn in Tarmia im Norden von Bagdad verwundet.

?        Am 2. August 2018 wurde mit einer am Straßenrand platzierten Bombe ein Fahrzeug der Sicherheitskräfte in der Region Sabaa al-Bour nördlich von Bagdad angegriffen. Eine Person wurde getötet, eine andere verletzt.

Im Januar 2018 erklärte der Direktor des Medienbüros des BOC, dass die Sicherheitskräfte in der Hauptstadt Fortschritte in Bezug auf das Sammeln von Informationen über den Islamischen Staat gemacht hätten und dass sich Militäreinsätze im Bagdader Gürtel positiv auf die Sicherheitslage ausgewirkt hätten. Der Direktor kündigte ferner den Bau eines Sicherheitszauns um Bagdad mit Sicherheitstoren an, um Aufständische daran zu hindern, in die Stadt einzusickern.

Dem Institute für the Study of War zufolge hat sich BOC im vergangenen Jahr auf die Bagdad-Belts konzentriert, was zu dem Rückgang der Angriffe in Bagdad beigetragen hat. Im Allgemeinen sei es den Sicherheitskräften gelungen, die Rückkehr weitverbreiteter Gewalt nach Bagdad im Jahr 2018 zu verhindern. Dieser Erfolg zeigt sich in der allgemeinen Abnahme von Gewaltereignissen im vergangenen Jahr. Politische Gewalt stelle nach wie vor die größte Herausforderung dar, dazu komme Destabilisierung angesichts der anhaltenden Blockade der neuen irakischen Regierung unter dem irakischen Premierminister Adel Abdul-Mahdi. Die PMF und andere lokale Sicherheitskräfte in Bagdad würden häufig eher auf politische Akteure reagieren, als auf den institutionellen staatlichen Sicherheitsapparat.

Die Expertin Geraldine Chatelard erklärt, dass die Wirksamkeit des Schutzes der Zivilbevölkerung vor verschiedenen Formen von Gewalt vom politischen Willen der beteiligten Akteure abhängen kann. Schutzbemühungen werden durch die Situation vor Ort untergraben, in der PMF-Milizen auf Befehl ihrer eigenen Kommandos handeln und nicht der irakischen Regierung, weil sie verschiedenen politischen Anwärtern oder iranischen Gönnern gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Die Regierung könne Erscheinungen von „Gesetzlosigkeit und Kriminalität“ seitens der Milizen derzeit nicht wirksam begegnen. Der Experte Michael Knights geht davon aus, dass Gesetzesverstöße von Milizen auch derzeit folgenlos bleiben. Landinfo schätzt die Lage in Bagdad so ein, dass Milizen weiterhin Bewegungsfreiheit zukommt und sie über Verbindungen zur Polizei verfügen und an Kontrolle, Verhaftung, Bestrafung bzw. Entführung von Personen ebenso beteiligt sind, wie an anderweitigen an kriminellen Aktivitäten. In den Bagdad-Belts haben die Milizen mehr Handlungsspielraum, dort können sie den Einheimischen das Recht verweigern, in ihre Häuser zurückzukehren. Die PMF-Milizen sind dessen ungeachtet populär und haben sowohl formelle als auch informelle Macht. Sie konzentrieren sich auch auf den Wiederaufbau. In Bagdad wurde etwa ihre Rolle beim Wiederaufbau einer medizinischen Klinik beworben. Manchmal wenden sich die Einheimischen, auch in Bagdad, an die Milizen der Nachbarschaft, anstatt an die Polizei, um Gerechtigkeit zu suchen.

Michael Knights zufolge gibt es eine große Konzentration von Sicherheitskräften, einschließlich der in Bagdad stationierten Armee, die seiner Ansicht nach angemessen und aktiv geführt werden und über adäquate Beratung und nachrichtendienstliche Unterstützung verfügen. Die Androhung bzw. Zufügung von Gewalt in Bagdad erfolge derzeit eher „persönlich und gezielt“ und weniger „situativ“ (Anwesenheit am falschen Ort / zum falschen Zeitpunkt). Das Institute for the Study of War erklärte, dass Milizen in Bagdad in einem gewaltsamen Wettbewerb um territoriale Präsenz und Territorium, Bevölkerung und politischen Einfluss stehen. Viele ihrer politischen Machthaber wurden im Mai 2018 in das irakische Parlament bzw. die Regierung gewählt.

Checkpoints in Bagdad werden dazu verwendet, um sicherzustellen, dass Autobomben und Selbstmordattentäter nicht in die Stadt eindringen. Dem Experten Fanar Haddad zufolge betreiben PMF-Milizen keine regulären Checkpoints in der Stadt Bagdad, richten solche bei Zwischenfällen aber ad hoc ein. In den Bagdad-Belts gibt es demgegenüber sichtbare PMF-Präsenz und PMF-Kontrollpunkte Eine ähnliche Ansicht vertrat ein im Irak ansässiger Sicherheitsanalytiker, der erklärte, dass sich die von PMF-Milizen betriebenen Kontrollpunkte hauptsächlich am Stadtrand von Bagdad befinden und nicht in der Stadt selbst, wobei an Kontrollpunkten im Osten der Stadt PMF-Elemente gemeldet wurden. Es sei für die PMF-Milizen möglich, temporäre Kontrollpunkte einzurichten, um auf bestimmte Probleme in den Stadtteilen von Bagdad zu reagieren. Im Januar 2018 teilte der Mediendirektor der BOC der Zeitung Asharq Al-Awsat mit, dass 281 Kontrollpunkte in Bagdad aufgehoben wurden, mindestens 600 Hauptstraßen und Ausgänge und ihre Vororte wiedereröffnet und am 10. Dezember 2018 Tausende Betonblöcke entfernt wurden. Im Jahr 2018 wurde außerdem die befestigte Internationale Zone (grüne Zone) in der Innenstadt für die Öffentlichkeit geöffnet. Dies ist die erste Wiedereröffnung nach Jahren. Im Jahr 2015 hatte die Regierung die grüne Zone für ein paar Tage geöffnet, aber nach Widerstand von US-Beamten wieder geschlossen.

1.9. Zur aktuellen Lage im Irak werden schließlich folgende (allgemeinen) Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1.       Aktuelle Ereignisse

14.10.2019: Ein Ausschuss soll die mehr als 110 Todesfälle nach Massenprotesten gegen Korruption und Misswirtschaft in Irak untersuchen. Dies hatte Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi am 12.10.19 verkündet. Großajatollah Ali al-Sistani hatte die Einrichtung eines solchen Ausschusses gefordert.

Am 07.10.19 kam es in dem überwiegend schiitisch geprägten Stadtteil Sadr City erneut zu Demonstrationen. Die Demonstranten forderten neue Jobs und kritisierten den Tod mehrerer Demonstranten in der vorangegangenen Nacht. Bei den Ausschreitungen in der Nacht zum 07.10.19 waren mindestens acht Menschen gestorben.

28.10.2019: Die für den 25.10.19 angekündigten Proteste halten weiter an. Es handelt sich um die zweite Protestwelle in diesem Monat (vgl. BN v. 07.10.19). Seit dem 27.10.19 schließen sich lokalen Berichten zufolge vermehrt auch Schülerinnen, Schüler und Studierende in Bagdad und anderen Städten den Protesten an. Die Forderungen der Demonstranten enthalten u.a. Aufrufe zum Sturz des bestehenden politischen Systems (muhassassa), zur Absetzung der herrschenden politischen Elite und zur Reformierung des Wahlgesetzes. Demonstranten steckten mindestens 50 Regierungs-, Parteigebäude und Milizenbüros in Brand. Unbekannte Dritte eröffneten Human Rights Watch zufolge das Feuer auf Demonstranten, die versuchten Milizenbüros zu stürmen. Sicherheitskräfte nutzten u.a. Tränengas/-kanister, Gummigeschosse und Blendgranaten um die Demonstrati-onen aufzulösen. Anti-Terror-Einheiten wurden u.a. in Bagdad und Nasriyah entsandt, um Regierungsgebäude zu schützen und die Demonstrationen zu beenden.

Die Berichterstattung vor Ort bleibt weiterhin schwierig (vgl. BN v. 07.10.19). Am 27.10.19 veröffentlichte die irakischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte Namen von 13 in Nasriyah verhafteten Aktivisten. Am 22.10.19 veröffentlichte die irakische Regierung die Ergebnisse der Ermittlungen zu Toten und Verletzten während der vorangeganger Proteste (vgl. BN v. 07.10.19). Zwischen dem 01.10.19 und 09.10.19 wurden den Ermittlungen zufolge 157 Personen (inkl. acht Sicherheitskräfte) getötet und mehr als 3.000 Personen verletzt. Die häufigsten Verletzungs- und Todesursachen waren Schüsse in den Kopf oder die Brust. Der Einsatz von Scharfschützen und die Beschädigung von TV-Stationen (vgl. BN v. 07.10.19) wurden in den offiziellen Ermittlungen nicht aufgegriffen. Zwischen dem 25.10.19 und dem 27.10.19 kamen der irakischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge weitere73 Menschen ums Leben, mehr als 3.500 wurden verletzt.

IOM zufolge sind aufgrund der jüngsten Militäroperationen in Syrien im Zeitraum vom 14.-27.10.19 etwa rund 12.000 Menschen über verschiedene Grenzübergänge in den Irak geflohen. Der UN zufolge sind ca. 75% der registrierten Flüchtlinge Frauen und Kinder. Die Mehrheit der Geflüchteten wurde im Flüchtlingscamp Bardarash (Provinz Dohuk) untergebracht. Täglich kommen der UN zufolge zwischen 900 und 1.200 Personen im Lager Bardarash, welches kommende Woche seine Kapazität (max. 11.000 Personen) erreichen wird, an. Diejenigen mit Angehörigen in der Kurdischen Region-Irak (KR-I) sollen nach und nach aus dem Camp zu ihren Angehörigen entlassen werden. Kurdischen Medienberichten zufolge soll der Bau neuer Flüchtlingslager angesichts des Flüchtlingsstroms in Angriff genommen werden.

11.11.2019: Die Proteste in Irak halten an (vgl. BN v. 04.11.19). Die Demonstrationen konzentrierten sich weiterhin auf Bagdad und die südlichen und zentralen Provinzen, insbesondere Babil, Basra, Dhi Qar, Karbala, Missan, Muthana, Najaf, Qadisiyah und Wassit, auch wenn vereinzelte Demonstrationen in anderen Provinzen stattfanden. Studierende schlossen sich auch am 10.11.19 erneut den Demonstrationen an. Offiziellen irakischen Angaben zufolge sollen bei den regierungskritischen Massenprotesten in Irak seit Anfang Oktober mindestens 319 Menschen ums Leben gekommen sein. Präsident Barham Salih, Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi und der Parlamentsvorsitzende Mohammed al-Halbusi hätten am 10.11.19 in einer gemeinsamen Mitteilung versprochen, Korruption zu bekämpfen und auf eine Reform des Wahlrechts hinzuarbeiten. Das bestehende politische System und die Verfassung müssten überarbeitet werden.

Seit Beginn der zweiten Protestwelle (vgl. BN v. 28.10.19) setzen irakische Sicherheitskräfte militärische Tränengasgranaten ein. Menschenrechtsorganisationen zufolge werden sie wahllos in die Menschenmenge oder gezielt auf Demonstranten (Kopf-/Brusthöhe) geworfen. Zudem führt ihr Einsatz u.a. zu Atembeschwerden bis hin zum Ersticken und Verbrennungen auf der Haut.

Lt. dpa-Meldung vom 10.11.2019 sei der Organisation NetBlocks zufolge das Internet seit fast einer Woche nur noch teilweise zugänglich. Seit über einem Monat hätten nur 20 bis 35 Prozent der Nutzer über längere Zeiträume Zugang zum Internet gehabt.

Am 05.11.19 wurde eine Reihe von Aktivisten von irakischen Sicherheitskräften in mehreren Städten und Provinzen verhaftet, darunter in Bagdad, Basra, Dhi Qar, Karbala und Maysan. Berichten zufolge hätten die Sicherheitskräfte die Massenverhaftungen ohne entsprechende Haftbefehle durchgeführt. Bereits am 25.10.19 veröffentlichte der Hohe Richterliche Rat eine Stellungnahme, dass Artikel 2 des Anti-Terror-Gesetztes bei Zerstörung oder Beschädigung öffentlichen Eigentums oder Gewalt gegen Sicherheitskräfte zum Tragen kommt (UNAMI. 2. Bericht, S. 5).

UNAMI veröffentlichte am 05.11.19 einen weiteren Bericht zu den Demonstrationen im Zeitraum vom 25.10.-04.11.19, in dem ein Teil der Gewalt dokumentiert ist. Die ersten Untersuchungsergebnisse würden darauf hinweisen, dass zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche begangen wurden, einschließlich tödlicher Gewalt gegen Demonstranten, der unverhältnismäßige Einsatz von Tränengas und Blendgranaten, fortgesetzte Anstrengungen zur Begrenzung der Medienberichterstattung über die Demonstrationen, Entführungen und vielfache Festnahmen.

Nach den Protesten in Bagdad und mehreren Provinzen im Zentral- und Südirak vom 01.10.-09.10.19 sind Massendemonstrationen unter anderem gegen staatliche Korruption, Arbeitslosigkeit und mangelnde Grundversorgung am 25.10.19 wieder aufgeflammt. Die Demonstranten hätten sich auch sehr frustriert über die Todesfälle und Verletzten gezeigt, die sowohl auf den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch die Sicherheitskräfte als auch auf vorsätzliche Tötungen durch bewaffnete Gruppierungen während der früheren Demonstrationen zurückzuführen seien. Darüber hinaus hätten die Demonstranten begonnen, grundlegende Veränderungen des politischen Systems zu fordern. Im Vergleich zu den früheren Demonstrationen, an denen meist junge Männer der Arbeiterklasse und Aktivisten der Zivilgesellschaft beteiligt gewesen seien, hätte an diesen Demonstrationen eine zunehmende Zahl von Demonstranten aus demografisch unterschiedlichen Bevölkerungsschichten teilgenommen, darunter eine signifikante Zahl von Frauen, älteren Menschen, Schülern, Fachleuten, Studenten und Lehrern. Die Demonstrationen hätten sich weiterhin auf Bagdad und die südlichen und zentralen Provinzen, insbesondere Babil, Basra, Dhi Qar, Karbala, Missan, Muthana, Najaf, Qadisiyah und Wassit konzentriert, auch wenn vereinzelte Demonstrationen in anderen Provinzen stattgefunden hätten.

Am 04.11.19 und 05.11.19 führte die türkische Luftwaffe erneut Luftschläge im Gebiet Sinjar durch. Die US-Kommission für Religionsfreiheit verurteilte die Nähe der Luftschläge zu zivilen Wohngebieten.

25.11.2019: Seit Wochen kommt es immer wieder zu Protesten gegen die politische Führung. Vor allem in Bagdad und im Süden des Landes demonstrieren die Menschen. Die Demonstrationen richten sich insbesondere gegen die Korruption und die schlechte Wirtschaftslage. Die Demonstranten fordern einen Rücktritt der Regierung sowie ein neues politisches System. Bislang sind seit Beginn der Proteste mehr als 320 Menschen ums Leben gekommen und Tausende wurden verletzt. Menschenrechtsorganisationen werfen den Sicherheitskräften vor, mit großer Härte gegen die Proteste vorzugehen. Nach jüngsten Pressemeldungen kam es in Bagdad und anderen Provinzen im Süden erneut zu Zusammenstößen. Sicherheitskräfte sollen Tränengas eingesetzt und mit scharfer Munition geschossen haben. In Nasirija, Provinz Dhi Qar, im Süden des Landes, soll ebenfalls scharfe Munition und Tränengas eingesetzt worden sein, um eine Menschenmenge zu vertreiben, die drei Brücken in der Stadt besetzt hatte. Dabei sollen mindestens drei Menschen getötet und mehr als 50 weitere verletzt worden sein. Laut einer weiteren Pressemeldung sollen mehr als 70 Menschen verletzt worden sein. Auch in den Provinzen Kerbala, Najaf, Qadissiyah, Wassit, Maysan und Basra soll es zu Protesten mit Toten und Verletzten gekommen sein.

02.12.2019: Das irakische Parlament hat am 01.12.19 das Rücktrittsgesuch von Ministe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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