TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/4 L521 2146495-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.08.2020
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Entscheidungsdatum

04.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AVG §68
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

L521 2146495-3/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , staatenlos (Herkunftsstaat Republik Irak), vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.07.2020, Zl. 1083617801-191191159, betreffend Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz und Erlassung einer Rückkehrentscheidung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 20.08.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen ersten Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung am 22.08.2015 legte der Beschwerdeführer zu den Gründen seiner Ausreise befragt dar, er sei im Irak von Milizen bedroht worden, da er Palästinenser sei und deshalb als Verräter angesehen werde. Er habe im Irak keine Rechte und niemanden, der ihn beschütze.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 16.08.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter niederschriftlich einvernommen.

Zum Ausreisegrund befragt führte der Beschwerdeführer aus, die schiitische Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq lasse die Palästinenser im Irak „nicht in Ruhe“ und nehme Personen willkürlich fest. Er selbst sei gefragt worden, warum er Tätowierungen trage und ihm sie mitgeteilt worden, dass er nach Palästina zurückkehren solle. Die Palästinenser würden von Milizionären beschimpft werden und ihren Kindern erlauben, Palästinensern Ohrfeigen zu geben. Andere Ausreisegründe habe er nicht.

Auf Nachfrage legte der Beschwerdeführer ergänzend dar, im Januar 2015 habe „einer von den Milizen“ mit einem palästinensischen Kunden in einem Kaffeehaus gestritten. Er selbst habe sich in den Streit eingemischt und den Versuch unternommen, den Milizangehörigen wegzuweisen. Die Person habe ihn darauf mit dem Tod bedroht und dabei in die Luft geschossen sowie außerdem angekündigt, die Schwester des Beschwerdeführers zu vergewaltigen. Nach diesem Vorfall habe er sich etwa zwei Monate zu Hause aufgehalten und der Person Geld bezahlt, woraufhin er in Ruhe gelassen worden sei. Seine Schwester sie ebenfalls unbehelligt gebieten. Das Geld habe er bezahlt, da der Verfolger nach ihm gefragt und ihn gesucht habe.

3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.01.2017, Zl. 1083617801-151140954, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak ebenso abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer vielmehr eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

4. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 22.01.2019, L524 2146495-1/18E, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Fluchtgrund werde der Entscheidung mangels Glaubhaftigkeit nicht zugrunde gelegt. Der Beschwerdeführer habe sich widersprüchlich verantwortet und insbesondere sein Vorbringen in der mündlichen Verhandlung maßgeblich gesteigert, indem er erstmals behauptet habe, einen Drohbrief erhalten zu haben. Es bestünden ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer als staatenloser Palästinenser sunnitischen Glaubens im Irak von Gruppenverfolgung bedroht wäre. Hinsichtlich der Ausreise ergebe sich aus dem vorliegenden Reisedokument der palästinensischen Autonomiebehörde, dass der Beschwerdeführer am 11.08.2015 legal den Irak verlassen habe und ihm dafür ein Ausreise- und Einreisevisum ausgestellt worden sei.

Eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Bagdad sein möglich und zumutbar. Beim Beschwerdeführer handle es sich um einen arbeitsfähigen jungen Mann mit mehrjähriger Schulbildung bis hin zur Matura. Der Beschwerdeführer habe vom Jahr 2009 an zu seiner Ausreise aus dem Irak als Kellner in verschiedenen Restaurants in Bagdad gearbeitet, er verfüge außerdem über familiäre Anknüpfungspunkte in Bagdad in Gestalt seiner dort lebenden Mutter, seiner Schwester und zumindest eines Onkels.

5. Der Beschwerdeführer erhob gegen dieses Erkenntnis weder Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, noch Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Seine bei den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts eingebrachten Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe blieben erfolglos.

6. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2019, Zl. 1083617801-170308240, wurde der Beschwerdeführer zur Mitwirkung bei der Beschaffung eines Heimreisezertifikates im Wege einer Vorsprache bei der Vertretung des Staates Palästina in Wien verhalten.

Der Beschwerdeführer nahm den Termin bei der Vertretung des Staates Palästina in Wien wahr und legte gegenüber dem Konsul dar, nicht in den Irak zurückkehren zu wollen und einen weiteren Verbleib in Österreich anzustreben. Seitens der Vertretung des Staates Palästina wurde zugesichert, die Erneuerung des Reisedokumentes für den Beschwerdeführer zu prüfen.

7. Am 11.07.2019 legte der mittlerweile im Rückkehrberatungszentrum Fieberbrunn untergebrachte Beschwerdeführer im Rahmen zumindest eines Rückkehrberatungsgespräches dar, nicht rückkehrwillig zu sein.

8. Mit Eingabe vom 23.07.2019 beantragte der Beschwerdeführer die Ausstellung einer Karte für Geduldete aus dem Grund des § 46a Abs. 1 Z. 3 FPG 2005 und brachte dazu vor, dass ihm seitens der irakischen Botschaft in Wien mitgeteilt worden sei, dass sein Aufenthaltsrecht im Irak erloschen wäre und er deshalb nicht mehr in den Irak zurückkehren könne.

9. Am 22.10.2019 beantragte der Beschwerdeführer die Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.01.2019, L524 2146495-1/18E, rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens. Begründend führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, dass länderkundlichen Informationen zur Situation von Palästinensern im Irak vom April 2018 zufolge Palästinenser das Recht hätten, wieder in den Irak einzureisen. Im Fall einer Abwesenheit von länger als sechs Monaten nach Ablauf des Ausreisevisums würde die Einreise allerdings verweigert. Dieser Umstand ergebe sich auch aus zwei Schreiben der irakischen Vertretungsbehörde in Stockholm.

10. Dem Antrag vom 22.10.2019 gab das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 05.11.2019, L524 2146495-2/3E, nicht statt. Begründend legte das Bundesverwaltungsgericht dar, dass die vom Beschwerdeführer aufgezeigten Berichte bereits im Verfahren berücksichtigt worden wäre und somit keine neu hervorgekommenen Tatsachen und Beweismittel darstellen würden, die eine Wiederaufnahme des Verfahren begründen könnten. Das vorgelegte Schreiben der irakischen Botschaft in Wien könne außerdem mangels Anführung seines Namens nicht dem Beschwerdeführer zugeordnet werden.

11. Der Beschwerdeführer erhob auch gegen diesen Beschluss weder Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, noch Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Er brachte auch keine Anträge auf Bewilligung der Verfahrenshilfe bei den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts ein.

12. Am 19.11.2019 entfernte sich der Beschwerdeführer eigenmächtig aus dem Rückkehrberatungszentrum Fieberbrunn und reiste nach Wien, wo er am 21.11.2019 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes den verfahrensgegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Im Gefolge der Erstbefragung legte der Beschwerdeführer zu den Gründen seiner neuerlichen Antragstellung befragt dar, im Irak geborener staatenloser Palästinenser zu sein. Er könne nicht in den Irak zurückkehren, da er von schiitischen Milizen getötet werde. Er habe „keine Nation“, die sein Leben schützen könne und könne und wolle deshalb nicht in den Irak zurückkehren.

Das Verfahren wurde in der Folge nicht zugelassen und dem Beschwerdeführer am 28.11.2019 mit Verfahrensanordnung gemäß § 29 Abs. 3 Z. 4 AsylG 2005 über die beabsichtige Zurückweisung seines neuerlichen Asylantrages wegen entschiedener Sache in Kenntnis gesetzt.

13. Am 13.12.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle Ort, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers sowie eines Rechtsberaters in arabischer Sprache vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter zu seinem neuerlichen Asylantrag niederschriftlich einvernommen.

Seitens des Beschwerdeführers wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass er „nicht zurück“ könne. Bei der Vertretung des Staates Palästina sei ihm kein Reisedokument ausgestellt worden, da er irakischer Palästinenser sei. Bei der Rückkehrberatung habe er dargelegt, dass er nur bereit sei, nach Palästina zurückzukehren. Dabei sei ihm erklärt worden, dass eine Ausreise nach Palästina „nicht erlaubt“ sei und er in den Irak zurückkehren müsse. Bei einer anschließenden Vorsprache bei der irakischen Botschaft habe er erfahren, dass er aufgrund der Rechtslage im Irak nicht mehr in den Irak einreisen dürfe. Darüber hinaus erhalte er bis zum heutigen Tag Drohungen der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq, die ihn töten wolle. Auf Nachfrage legte der Beschwerdeführer dar, dass seine Familie vor etwa fünf oder sechs Monaten den Kontakt mit ihm abgebrochen habe, da seine Familie im Irak bedroht worden sei. Weitere neue Asylgründe gäbe es nicht.

In der Folge legte der Beschwerdeführer auf Nachfrage noch dar, dass er im Irak selbst Flüchtling und als solcher vom Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge anerkannt wäre. In Österreich habe er nur Enttäuschungen erfahren, er könne aber nicht in den Irak zurück und wolle in Österreich bleiben. Er verfügte über ein Video, worauf seine Eltern bestätigen würden, dass er getötet würde, wenn er in den Irak zurückkehren würde. Dieses Video könne er innerhalb von drei Tagen vorlegen. Auf weitere Nachfragen antwortete der Beschwerdeführer mit der Aufforderung „Schickt mich nach Palästina zurück“.

14. Am 18.12.2019 teilte der Beschwerdeführer im Wege der ihm zugewiesenen Rechtsberatungsorganisation mit, dass er das in der Einvernahme angesprochene Video nicht vorgelegen werde.

15. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies zwischenzeitlich mit in Rechtskraft erwachsenem Bescheid vom 24.02.2020, Zl. 1083617801-170308240, den Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung einer Karte für Geduldete mit der Begründung zurück, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seines Folgeantrages faktischer Abschiebeschutz zukommen und deshalb die Abschiebung nicht aus tatsächlichen Gründen unmöglich, sondern aufgrund des Folgeantrages unzulässig sei.

16. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.07.2020, Zl. 1083617801-191191159, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I. und Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.). und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass dessen Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG 2005 bestehe keine Frist für eine freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

Unter einem wurde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1
BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig eine juristische Person als Rechtsberater zur Seite gestellt.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellte – zusammengefasst – fest, dass der Beschwerdeführer keinen Sachverhalt vorgebracht habe, der nach Rechtskraft der im ersten Asylverfahren entstanden sei und sich vielmehr auf die Beweggründe des bereits rechtskräftig entschiedenen Asylverfahrens gestützt. Die Angaben des Beschwerdeführers stellten sich außerdem als nicht glaubhaft dar. Die allgemeine Lage im Herkunftsstaat habe sich ebenfalls nicht wesentlich zum Nachteil des Beschwerdeführers geändert. Der Beschwerdeführer versuche mit seinem neuerlichen Asylantrag vielmehr, „krampfhaft“ seinen Aufenthalt in Österreich vorübergehend zu legalisieren.

17. Gegen den dem Beschwerdeführer am 09.07.2020 eigenhändig zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.07.2020, Zl. 1083617801-191191159, richtet sich die im Wege der bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird beantragt, den angefochtenen Bescheid aufzuheben und das Verfahren zuzulassen bzw. in eventu den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Sache an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen bzw. die wider den Beschwerdeführer ergangene Rückkehrentscheidung aufzuheben bzw. diese auf Dauer für unzulässig zu erklären bzw. die Abschiebung des Beschwerdeführers für unzulässig zu erklären. Ferner wird beantragt, „gegebenenfalls“ eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht durchzuführen.

Begründend wird nach Darlegung des Verfahrensganges als Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens moniert, dass keine Feststellungen zur Frage der Möglichkeit einer Rückkehr des Beschwerdeführers in den Irak getroffen worden wären. Unter dem Gesichtspunkt der unrichtigen rechtlichen Beurteilung bringt der Beschwerdeführer vor, dass aufgrund der vorgelegten Bestätigung der irakischen Botschaft das belangte Bundesamt von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung Abstand hätte nehmen müssen. Dem angefochtenen Bescheid könne ferner keine Begründung dafür entnommen werden, weshalb keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt werde.

Im Hinblick auf seine Situation im Bundesgebiet bringt der Beschwerdeführer vor, die usbekische Staatsangehörige XXXX , nach islamischem Recht gehehelicht zu haben. Es werde auch vor diesem Hintergrund ersucht, die Rückkehrentscheidung aufzuheben bzw. diese auf Dauer für unzulässig zu erklären.

18. Die Beschwerdevorlage langte am 27.07.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen und es langte die Beschwerdevorlage am 28.07.2020 in der Außenstelle Linz des Bundesverwaltungsgerichtes ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX (auch XXXX ), er ist staatenlos, Angehöriger der arabischen Volksgruppe und bekennt sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Arabisch.

Der Beschwerdeführer ist palästinensischer Abstammung. Er wurde am XXXX in der irakischen Hauptstadt Bagdad geboren und lebte dort bis zur Ausreise im Bezirk XXXX . Der Beschwerdeführer besuchte in Bagdad die Grundschule sowie eine weiterführende Schule und erlangte die Matura. Im Anschluss daran trat der Beschwerdeführer in das Berufsleben ein und arbeitete bis zur Ausreise mehrere Jahre als Kellner in verschiedenen Restaurants und Hotels in Bagdad sowie als Dolmetscher für Touristen.

Die Mutter des Beschwerdeführers und seine Schwester leben nach wie vor in Bagdad, ebenso wie ein Onkel des Beschwerdeführers sowie fünf seiner Tanten mit ihren Familien. Der Onkel des Beschwerdeführers führt eine große Trafik in Bagdad und versorgt die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers. Cousins des Beschwerdeführers sind als Arbeiter auf Baustellen erwerbstätig.

Der Beschwerdeführer verließ den Irak am 11.08.2015 legal von Bagdad ausgehend unter Verwendung seines von der palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellten Reisedokuments in die Türkei und gelangte in weiterer Folge schlepperunterstützt nach Österreich, wo er am 20.08.2015 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner ersten Antragstellung in Österreich auf und verfügte nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens.

1.2. Der Beschwerdeführer ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

1.3. Der Beschwerdeführer führte zu seinem ersten Antrag auf internationalen Schutz vom 20.08.2015 zusammengefasst im Wesentlichen aus, im Irak als staatenloser Palästinenser gelebt zu haben. Die schiitische Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq lasse die Palästinenser im Irak „nicht in Ruhe“ und nehme Personen willkürlich fest. Er selbst sei gefragt worden, warum er Tätowierungen trage und ihm sie mitgeteilt worden, dass er nach Palästina zurückkehren solle. Die Palästinenser würden von Milizionären beschimpft werden und ihren Kindern erlauben, Palästinensern Ohrfeigen zu geben. Im Januar 2015 habe „einer von den Milizen“ mit einem palästinensischen Kunden in einem Kaffeehaus gestritten. Er selbst habe sich in den Streit eingemischt und den Versuch unternommen, den Milizangehörigen wegzuweisen. Die Person habe ihn darauf mit dem Tod bedroht und dabei in die Luft geschossen sowie außerdem angekündigt, die Schwester des Beschwerdeführers zu vergewaltigen. Nach diesem Vorfall habe er sich etwa zwei Monate zu Hause aufgehalten und der Person Geld bezahlt, woraufhin er in Ruhe gelassen worden sei. Seine Schwester sie ebenfalls unbehelligt gebieten. Das Geld habe er bezahlt, da der Verfolger nach ihm gefragt und ihn gesucht habe.

Der erste Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 04.01.2015 wurde im Instanzenzug mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.01.2019, L524 2146495-1/18E, zugestellt am 24.01.2019, wegen Unglaubwürdigkeit seines Fluchtvorbringens rechtskräftig abgewiesen, auch subsidiärer Schutz wurde nicht gewährt, wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass dessen Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei. Unter einem wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage betrage. Das Bundesverwaltungsgericht führte insbesondere aus, dass keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass der Beschwerdeführer als staatenloser Palästinenser sunnitischen Glaubens im Irak von Gruppenverfolgung bedroht wäre. Hinsichtlich der Ausreise ergebe sich aus dem vorliegenden Reisedokument der palästinensischen Autonomiebehörde, dass der Beschwerdeführer am 11.08.2015 legal den Irak verlassen habe und ihm dafür ein Ausreise- und Einreisevisum ausgestellt worden sei.

Eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Bagdad sein möglich und zumutbar. Beim Beschwerdeführer handle es sich um einen arbeitsfähigen jungen Mann mit mehrjähriger Schulbildung bis hin zur Matura. Der Beschwerdeführer habe vom Jahr 2009 an zu seiner Ausreise aus dem Irak als Kellner in verschiedenen Restaurants in Bagdad gearbeitet, er verfüge außerdem über familiäre Anknüpfungspunkte in Bagdad in Gestalt seiner dort lebenden Mutter, seiner Schwester und zumindest eines Onkels. Zur Frage einer Widereinreise stellte das Bundesverwaltungsgericht aufgrund einer Einschätzung des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zur Situation von Palästinensern im Irak vom 27.04.2018 fest, dass Palästinenser grundsätzlich das Recht hätten, wieder in den Irak einzureisen, sofern sie Reisedokumente sowie ein Aus- und Einreisevisum besitzen, selbst wenn diese abgelaufen sind. Die Praxis variiere allerdings stark bei Wiedereinreisen nach längeren Auslandsaufenthalten von mehr als 6 Monaten.

1.4. Der Beschwerdeführer führte zur Begründung des verfahrensgegenständlichen zweiten Antrages auf internationalen Schutz vom 21.11.2019 anlässlich seiner Erstbefragung aus, im Irak geborener staatenloser Palästinenser zu sein. Er könne nicht in den Irak zurückkehren, da er von schiitischen Milizen getötet werde. Er habe „keine Nation“, die sein Leben schützen könne und könne und wolle deshalb nicht in den Irak zurückkehren.

Bei der nachfolgenden Einvernahme vor der belangten Behörde am 13.12.2019 im Beisein eines Rechtsberaters bestätigte der Beschwerdeführer zunächst, eine Rechtsberatung in Anspruch genommen zu haben. Er stelle einen neuen Antrag auf internationalen Schutz, da er „nicht zurück“ könne. Bei einer Vorsprache bei der irakischen Botschaft habe er erfahren, dass er aufgrund der Rechtslage im Irak nicht mehr in den Irak einreisen dürfe. Darüber hinaus erhalte er bis zum heutigen Tag Drohungen der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq, die ihn töten wolle. Seine Familie habe vor etwa fünf oder sechs Monaten den Kontakt mit ihm abgebrochen, da sie im Irak bedroht worden sei. Weitere neue Asylgründe gäbe es nicht. In Österreich habe er nur Enttäuschungen erfahren, er könne aber nicht in den Irak zurück und wolle in Österreich bleiben.

1.5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl begründete den angefochtenen Bescheid zum verfahrensgegenständlichen Antrag damit, dass der Beschwerdeführer im Vergleich zum Vorverfahren keine entscheidungsrelevante Sachverhaltsänderung vorgebracht und sich lediglich auf die Beweggründe des bereits rechtskräftig entschiedenen Asylverfahrens gestützt habe. Die Angaben des Beschwerdeführers stellten sich außerdem als nicht glaubhaft dar. habe. Die den Beschwerdeführer betreffende allgemeine Lage im Herkunftsstaat habe sich seit dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens nicht geändert.

1.6. In der Beschwerde wurde zu deren Begründung im Wesentlichen vorgebracht, keine Feststellungen zur Frage der Möglichkeit einer Rückkehr des Beschwerdeführers in den Irak getroffen worden wären, zumal er eine Bestätigung der irakischen Botschaft vorgelegt habe, wonach er als staatenloser Palästinenser wegen Ablaufs seines Einreisevisums nicht mehr legal in den Irak einreisen dürfe. Aufgrund dessen hätte das belangte Bundesamt von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung Abstand hätte nehmen müssen. Im Hinblick auf seine Situation im Bundesgebiet bringt der Beschwerdeführer vor, die usbekische Staatsangehörige XXXX , nach islamischem Recht gehehelicht zu haben. Ein Vorbringen zur Lage im Herkunftsstaat sowie zu den vom Beschwerdeführer behaupteten neuen Asylgründen enthält das Rechtsmittel nicht.

1.7. Dem Beschwerdeführer droht im Irak keine individuelle Gefährdung oder psychische und/oder physische Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte. Mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers zur Begründung seines verfahrensgegenständlichen zweiten Antrages auf internationalen Schutz vom 21.11.2019 wird keine maßgebliche Änderung in Bezug auf die den Beschwerdeführer betreffende individuelle Situation im Rückkehrfall im Herkunftsstaat oder in sonstigen, in der Person des Beschwerdeführers gelegenen Umständen seit der Erlassung des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.01.2019, L524 2146495-1/18E, aufgezeigt.

Eine entscheidungswesentliche Änderung der allgemeinen Lage im Irak im Sinne einer Verschlechterung der Lage ist seit der Erlassung des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.01.2019, L524 2146495-1/18E, ebensowenig eingetreten, wie eine maßgebliche Änderung der Rechtslage.

Weitere Hinweise auf das Bestehen eines Sachverhaltes, welcher die inhaltliche Prüfung des verfahrensgegenständlich zweiten Antrages auf internationalen Schutz vom 21.11.2019 gebieten würde, kamen nicht hervor.

1.8. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

Der Beschwerdeführer ist ein junger, gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger junger Mensch mit Schulbildung auf Maturaniveau und mehrjähriger Berufserfahrung in der Gastronomie. Der Beschwerdeführer verfügt im Rückehrfall über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherten Existenzgrundlage in seiner Herkunftsregion. Er verfügt darüber hinaus über eine unentgeltliche Wohnmöglichkeit bei seiner Familie in Bagdad. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

1.9. Der Beschwerdeführer verfügt über ein am 30.01.2014 von der palästinensischen Autonomiebehörde (Ramallah) ausgestelltes und bis zum 29.01.2019 gültiges Reisedokument. Er verließ mit diesem Reisedokument den Irak legal am 18.02.2014 in die Türkei und kehrte am 22.02.2014 in den Irak zurück. Am 11.08.2015 verließ der Beschwerdeführer den Irak neuerlich legal in die Türkei. Er erlangte dazu ein irakisches Ausreise- und Einreisevisum, welches ihn zur Wiedereinreise innerhalb von drei Monaten nach dem Tag der Ausreise ermächtigte.

1.10. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.11. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 20.08.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in das Bundesgebiet ein, ist seither durchgehend im Bundesgebiet aufhältig und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Vom 20.08.2015 bis zum 24.01.2019 verfügte der Beschwerdeführer über ein vorläufiges Aufenthaltsrecht als Asylwerber. Vom 24.01.2019 bis zum 21.11.2019 verfügte der Beschwerdeführer über kein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet und war zur Ausreise verpflichtet. Der Ausreiseverpflichtung kam der Beschwerdeführer nicht nach. Er ist nicht rückkehrwillig. Seit dem 21.11.2019 kommt dem Beschwerdeführer aufgrund seines zweiten Asylantrages faktischer Abschiebeschutz zu.

Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung (mit kurzen Unterbrechungen) Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Nach der Einreise war der Beschwerdeführer zunächst in Not- und Übergangsquartieren des Bundes und anschließend vom 04.09.2015 an bis zum 24.06.2019 an in verschiedenen Unterkünften für Asylwerber im Bundesland Oberösterreich untergebracht. Vom 24.06.2019 an hielt sich der Beschwerdeführer im Rückkehrberatungszentrum Fieberbrunn auf, er verließ dieses am 19.11.2019 eigenmächtig. Seit der hier gegenständlichen Antragstellung ist der Beschwerdeführer in Betreuungsstellen des Bundes untergebracht, seit dem 17.06.2020 ist der Beschwerdeführer in der Betreuungsstelle Ost in der Stadtgemeinde Traiskirchen untergebracht. Einen meldebehördlich erfassten Wohnsitz unterhält er dort nicht.

Der Beschwerdeführer war im Bundesgebiet bislang nicht legal erwerbstätig. Er hat keinen Arbeitsplatz in Aussicht. Der Beschwerdeführer hat von März 2016 bis August 2016 gemeinnützige Hilfstätigkeiten als Asylwerber in der Stadtgemeinde XXXX im Ausmaß von insgesamt 34 Stunden geleistet. Im Mai, Juli, September und Oktober 2018 war der Beschwerdeführer jeweils 22 Stunden in der Stadt XXXX gemeinnützig beschäftigt.

Der Beschwerdeführer besuchte Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache auf dem Niveau A1 im Jahr 2017. Von Juni bis Juli 2017 und von Dezember 2017 bis Mai 2018 war der Beschwerdeführer Betreuer eines Kindes in einem Projekt, in dessen Rahmen minderjährige Asylwerber sowie subsidiär Schutzberechtigte auf den Schulalltag oder den Kindergarten vorbereitet werden. Im Rahmen dieses Projekts hat der Beschwerdeführer auch an einem eintägigen Weiterbildungsseminar zum Thema „Gewaltfreie Kommunikation“ teilgenommen

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten und ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig. Er lernte nach dem 13.12.2019 die usbekische Staatsangehörige XXXX , kennen und ehelichte diese nach islamischem Recht am 11.05.2020 in Traiskirchen (Islamische Föderation Traiskirchen). Der Beschwerdeführer und XXXX leben nicht im gemeinsamen Haushalt. XXXX ist Asylweberin und als solche im Rahmen der Grundversorgung für Asylwerber in der Gemeinde XXXX im Burgenland untergebracht. Ihr Asylverfahren ist beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in erster Instanz unerledigt anhängig. Sie hält sich seit dem 11.02.2020 im Bundesgebiet auf.

1.12. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende (allgemeinen) Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und im angefochtenen Bescheid offengelegten Quellen getroffen (von einer Wiedergabe des umfangreichen Quellenapparates wurde abgesehen):

1.       Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat mit allen Merkmalen der Gewaltenteilung (AA 02.03.2020), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Der Islam ist Staatsreligion und „eine“ (nicht „die“) Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 02.03.2020).

Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, Council of Representatives bzw. Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018). Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018) Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 02.03.2020).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 09.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018). Am 02.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.03.2020 wurde der als säkular geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020). Adnan al-Zurfi zog seine Kandidatur am 09.04.2020 zurück, woraufhin Geheimdienstchef Mustafa al-Kadhimi zum neuen Ministerpräsidenten designiert wurde (SN 09.04.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

2.       Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Weiterhin ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Dies gilt insbesondere für den Zentralirak außerhalb der Hauptstadt Bagdad. PMF-Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig und weitgehend unkontrolliert. Im Sinjar haben sich zudem PKK bzw. PKK-nahe Strukturen entwickelt. Diese Entwicklungen gehen mit Repressionen einher, mitunter auch extralegalen Tötungen sowie Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession (AA 02.03.2020).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 02.03.2020). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

2.1.    Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019). Der IS hat einen Strategiewechsel vorgenommen und setzt diesen in Form einer asymmetrischen Kriegsführung aus dem Untergrund mit kleineren Anschlägen auch nach dem Tod des Anführers al-Baghdadi fort (AA 02.03.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten dar (UN General Assembly 30.7.2019). Übergriffe und Gräueltaten im Irak gehen nach wie vor hauptsächlich vom IS aus, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt derzeit auf Gewaltakte gegen Sicherheitskräfte sowie regierungstreue Zivilpersonen, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe haben das Ziel, Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften zu entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a). Insbesondere in den Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo grundlegende Strukturen wiederaufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist aber nach wie vor fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala getötet, um eine Stadt in der Nähe einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Am 7.7.2019 begann die „Operation Will of Victory“, an der irakische Streitkräfte (ISF), Popular Mobilization Forces (PMF), Tribal Mobilization Forces (TMF) und Kampfflugzeuge der US-geführten Koalition teilnahmen (ACLED 7.8.2019; vgl. Military Times 7.7.2019). Die mehrphasige Operation hat die Beseitigung von IS-Zellen zum Ziel (Diyaruna 7.10.2019; vgl. The Portal 9.10.2019). Die am 7. Juli begonnene erste Phase umfasste Anbar, Salah ad-Din und Ninewa (Military Times 7.7.2019). Phase zwei begann am 20. Juli und betraf die nördlichen Gebiete von Bagdad sowie die benachbarten Gebiete der Gouvernements Diyala, Salah ad-Din und Anbar (Rudaw 20.7.2019). Phase drei begann am 5. August und konzentrierte sich auf Gebiete in Diyala und Ninewa (Rudaw 11.8.2019). Phase vier begann am 24. August und betraf die Wüstenregionen .BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Seite 9 von 137 von Anbar (Rudaw 24.8.2019). Phase fünf begann am 21.9.2019 und konzentrierte sich auf abgelegene Wüstenregionen zwischen den Gouvernements Kerbala, Najaf und Anbar, bis hin zur Grenze zu Saudi-Arabien (PressTV 21.9.2019). Eine sechste Phase wurde am 6. Oktober ausgerufen und umfasste Gebiete zwischen dem südwestlichen Salah ad-Din bis zum nördlichen Anbar und Ninewa (Diyaruna 7.10.2019).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

2.2.    Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Der Irak verzeichnet derzeit die niedrigste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 (Joel Wing 5.4.2018). Die Sicherheitslage ist in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich, insgesamt hat sich die Lage jedoch verbessert (MIGRI 06.02.2018).

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020).

Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020). Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, womit erstmals seit langem eine Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres eintrat. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer, im Februar 2020 147 zivile Todesopfer verzeichnet, was im Vergleich zum Vorjahr wiederum eine Verbesserung bedeutet (IBC 2.2020).

3.       Rechtsschutz / Justizwesen

Die Bundesjustiz besteht aus dem Obersten Justizrat (Higher Judicial Council), dem dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Der Oberste Gerichtsrat erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 02.03.2020).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz, Art. 19 Abs. 1 und Art. 86 ff. der Verfassung bezeichnen die Rechtsprechung als unabhängige Gewalt. (Stanford 2013; vgl. AA 02.03.2020; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 02.03.2020). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).

Belastbaren Erkenntnisse zur Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis liegen nicht vor. Eine Verfolgung von Straftaten findet aber weiterhin nur unzureichend statt (AA 02.03.2020). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Es mangelt an ausgebildeten, unbelasteten Richtern und einer rechtsstaatlichen Tradition. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen erheblich ausgedehnt. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Ehemalige „IS“-Kämpfer oder Personen, die dessen beschuldigt werden, werden aktuell in großer Zahl (Details werden von der Regierung nicht preisgegeben) mit unzulänglichen Prozessen zu lebenslanger Haft oder zum Tode verurteilt und häufig auch hingerichtet (AA 02.03.2020).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).

Die Behörden verletzen oft die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden, dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausender sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).

Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).

Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).

4.       Folter und unmenschliche Behandlung

Folter und unmenschliche Behandlung sind laut der irakischen Verfassung ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren angewandt, etwa bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte (AA 02.03.2020), oder auch um Geständnisse zu erzwingen (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020; AI 10.4.2019) und Gerichte diese als Beweismittel akzeptieren (USDOS 11.3.2020) auch für die Vollstreckung von Todesurteilen (AI 10.4.2019). Laut Informationen von UNAMI sollen u.a. Bedrohung mit dem Tod, Fixierung mit Handschellen in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks an allen Körperteilen zu den Praktiken gehören (AA 02.03.2020). Ehemalige Häftlinge berichten auch über Todesfälle aufgrund von Folter (AI 26.2.2019). Auch Minderjährige werden Folter unterzogen, um Geständnisse zu erpressen (HRW 6.3.2019).

Weiterhin misshandeln und foltern die Sicherheitskräfte der Regierung, einschließlich der mit den Volksmobilisierungskräften (PMF) verbundenen Milizen und Asayish, Personen während Verhaftungen, Untersuchungshaft und nach Verurteilungen. Internationale Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Fälle von Folter und Misshandlung in Einrichtungen des Innenministeriums und in geringerem Umfang in Haftanstalten des Verteidigungsministeriums sowie in Einrichtungen unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung (KRG). Ehemalige Gefangene, Häftlinge und Menschenrechtsgruppen berichteten von einer Vielzahl von Folterungen und Misshandlungen (USDOS 11.3.2020). Eine Studie zu Berufungsgerichtsentscheidungen zeigt, dass Richter bei fast zwei Dutzend Fällen aus den Jahren 2018 und 2019 Foltervorwürfe ignorierten und auf Grundlage von Geständnissen ohne weitere Beweise Schuldsprüche erließen. Einige dieser Foltervorwürfe waren durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet. Die Berufungsgerichte sprachen die Angeklagten in jedem dieser Fälle frei (HRW 14.1.2020). Trotz der Zusage des damaligen Premierministers Haidar Abadi im September 2017, den Vorwürfen von Folter und außergerichtlichen Tötungen nachzugehen, haben die Behörden im Jahr 2019 keine Schritte unternommen, um diese Missstände zu untersuchen (HRW 14.1.2020).

5.       Allgemeine Menschenrechtslage

Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert.

Die bereits in der irakischen Verfassung (Art. 102) vorgesehene Einrichtung einer unabhängigen MR-Kommission erfolgte im April 2012 mit der Berufung der 11 Kommissionsmitglieder durch das irakische Parlament. Der Kommission fehlt es jedoch an einem administrativen Unterbau. Internationale Beobachter kritisierten, dass Mitglieder der Kommission sich kaum mit der Verletzung individueller Menschenrechte beschäftigen, sondern insbesondere mit den Partikularinteressen ihrer jeweils eigenen ethnisch-konfessionellen Gruppe. 2018 trat die Kommission etwas mehr in der Öffentlichkeit in Erscheinung und beschäftigte sich u. a. mit Vermissten in den ehemals von IS besetzen Gebieten. Im Zuge der seit Oktober stattfindenden Demonstrationen hat die Kommission durch eine aktive Rolle, insbesondere durch die Veröffentlichung von aktuellen und zutreffenden Opfer- und Verletztenzahlen, ihre Reputation gesteigert, verfügt aber nicht über ausreichendes politisches Gewicht, um die Politik entscheidend beeinflussen zu können. Mitglieder der Kommission waren durch ihre regierungskritischen Äußerungen auch selber Repressionsdrohungen ausgesetzt. Mangelnde Sacharbeit und Effektivität wird auch dem Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament vorgeworfen (AA 02.03.2020).

Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Shingal Protection Units (YBS) und PMF-Milizen; Menschenhandel; Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 11.3.2020).

Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Es wird berichtet, dass tausende Männer und Buben, die aus Gebieten unter IS-Herrschaft geflohe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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