TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/11 L510 2232335-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.08.2020
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Entscheidungsdatum

11.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

L510 2232335-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.06.2020, Zahl XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte am 03.01.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz, wozu er am selben Tag erstbefragt wurde (AS 17ff).

2. Am 27.05.2020 wurde der Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen (AS 87ff).

3. Mit Bescheid des BFA vom 08.06.2020, Zahl XXXX , wurde der Antrag des Beschwerdeführers (I.) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG sowie (II.) des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG abgewiesen. Das BFA erteilte unter einem (III.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ (IV.) gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, stellte (V.) gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei und sprach (VI.) aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (AS 99ff).

4. Mit Schreiben vom 22.06.2020 wurde fristgerecht Beschwerde gegen diesen Bescheid erhoben (AS 161ff).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen in der Türkei

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, führt in Österreich den im Spruch angeführten Namen und das dort angeführte Geburtsdatum, gehört der kurdischen Volksgruppe und der christlichen Glaubensgemeinschaft protestantischer Ausrichtung an. Er ist ledig und hat keine Kinder (AS 17, 19). Seine Identität steht fest (Reisepass AS 43-55; Personalausweis AS 97-98).

Er wurde in XXXX geboren und lebte dort bis etwa 2016 mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder. Er besuchte dort acht Jahre lang die Schule. Danach zog der Beschwerdeführer nach Istanbul, lebte dort allein und arbeitete als Damenfriseur in Friseurgeschäften. Zu seinen Eltern und seinem Bruder hat er nicht sehr oft Kontakt, es besteht kein gutes Verhältnis (AS 89).

Er reiste am 29.12.2019 mit dem Flugzeug aus der Türkei nach Serbien aus (AS 25).

1.2. Zu seiner Lebenssituation in Österreich

Der Beschwerdeführer reiste am 01.01.2020 oder am 02.01.2020 in Österreich ein. Er bezog bis 14.07.2020 Leistungen aus der Grundversorgung fürs hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich und wohnte in einem aus öffentlichen Mitteln finanzierten Quartier. Mit 06.08.2020 wurde dem BVwG vom Land Steiermark mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer von der Grundversorgung abgemeldet wurde, da er infolge Heirat, Eigenvermögen und einer Verpflichtungserklärung nicht mehr hilfsbedürftig sei. Er besucht einen Deutschkurs. Er ist gesund und in Österreich strafrechtlich unbescholten. Für den Beschwerdeführer wurde vom Arbeitsmarktservice eine Beschäftigungsbewilligung (Branchenkontingent) für eine Vollzeitbeschäftigung als Küchenhelfer/Abwäscher für den Zeitraum 06.07.2020 bis 31.12.2020 erteilt (AS 23, 25, 91; GVS; Strafregister; Bescheid des AMS OZ 4). Seit 13.07.2020 ist der Beschwerdeführer als Arbeiter in Österreich registriert.

1.3. Der Beschwerdeführer brachte zur Begründung seines Antrages auf internationalen Schutz zusammengefasst im Wesentlichen vor:

In seinem Herkunftsort habe er protestantische Missionare kennengelernt, wodurch er in Kontakt mit dem Christentum gekommen sei. 2012 oder 2013 sei er vom Islam zum Christentum konvertiert und 2015 sei er schließlich in der protestantischen Kirche von Istanbul getauft worden. Er habe seinen Herkunftsort verlassen und nach Istanbul gehen müssen, da seine Familie gläubige Muslime seien und seinen Glaubenswechsel nicht akzeptiert haben würden. Vater und Mutter würden ihn nicht mehr haben wollen, er sei aus der Familie ausgeschlossen worden. Als er die moslemische Religion hinterfragt habe, sei er beleidigt, beschimpft, diskriminiert und ausgeschlossen worden. Auch weil er Kurde sei, seien ihm die Leute mit Hass begegnet. Seine Freiheit werde aufgrund seiner ethnischen Herkunft beschnitten. Es sei zu beobachten, dass die Menschen aufeinander losgehen. Speziell durch den Systemwechsel Erdogangs als alleinigem Herrscher seien alle Kräfte zu einer Macht gebündelt worden und der Druck auf sie sei gestiegen. Immer wenn Soldaten im Rahmen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Syrien fallen würden, spüre der Beschwerdeführer das und in Gesprächen und Diskussionen werde er deshalb auch beleidigt, beschimpft und wörtlich attackiert. In Istanbul habe er Probleme bei der Arbeitssuche gehabt, weil seine Religion auf seinem Ausweis vermerkt sei. In jenen Geschäften, die ihn als Friseur aufgenommen haben würden, habe er bloß ein geringeres Gehalt bekommen. In Istanbul sei er sonntags in die Kirche gegangen. Bei einer Rückkehr werde er keine Religionsfreiheit ausüben können und er werde weiterhin psychologisch und wörtlich angegriffen. Er habe bisher noch nie Religionsfreiheit vollständig erleben können. Er habe die muslimische Religion nie als seine eigene betrachtet und es sei ihm ständig vorgeworfen worden, dass er über Allah und den Islam gelästert habe. Er wolle seine Religion ganz frei und offen leben und ausüben (AS 88-92; Taufschein AS 95).

1.4. Zur Glaubhaftigkeit der vorgebrachten Antragsgründe und Rückkehrbefürchtung

Das Vorbringen des Beschwerdeführers im Verfahren zu seinem Glaubenswechsel vom Islam zum Christentum ist glaubhaft. Es ist auch glaubhaft, dass er vor seiner Ausreise Ressentiments seitens der türkisch-muslimischen Gesellschaft aufgrund seines Glaubens und seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volkgruppe ausgesetzt war. Nicht glaubhaft ist hingegen, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus der Türkei aufgrund seines Glaubens bzw. seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volkgruppe bzw. aufgrund der Auseinandersetzungen der Türkei mit Syrien einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung von erheblicher Intensität ausgesetzt gewesen sei oder er bei einer Rückkehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt einer solchen Gefährdung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

1.5. Zur Lage in der Türkei:

Sicherheitslage

Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019). Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Ar? (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein ? hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen A?r?, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbak?r, Gaziantep, Hakkâri, Kilis, Mardin, ?anl?urfa, Siirt, ??rnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019). Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).

Religionsfreiheit

Die Verfassung definiert die Türkei als säkularen Staat. Artikel 10 besagt, dass alle Personen vor dem Gesetz gleich sind, unabhängig von ihrer Weltanschauung und ihrer Religion. Gemäß Artikel 15 kann niemand gezwungen werden, sein Religionsbekenntnis kundzutun. Artikel 24 garantiert das Recht auf Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und Überzeugungsfreiheit. Der Staat hat den Säkularismus traditionell so interpretiert, dass er für sich die staatliche Kontrolle über Religionsgemeinschaften, einschließlich ihrer Praktiken und Gotteshäuser verlangt. Die Diyanet [Anm. Religionsbehörde] verwaltet das islamische Bildungs- und Erziehungswesen, einschließlich der Moscheen; der Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) hingegen unterliegt die staatliche Verwaltung der Angelegenheiten aller übrigen Religionen (DFAT 9.10.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Die Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt; der Leiter der Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 21.6.2019). Es gibt kein eigenes Blasphemiegesetz. Das Strafgesetzbuch sieht Strafen für Taten im Zusammenhang mit der „Provozierung von Hass und Feindseligkeit“ vor, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es religiösen Führern, wie Imamen, Priestern und Rabbinern, die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden, oder die Störung von religiösen Veranstaltungen (z.B. Gottesdienste) einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beschädigung deren Eigentums. Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert (USDOS 21.6.2019). In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, 77,5% davon sind schätzungsweise Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Die Aleviten Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31% der Bevölkerung Aleviten sind. Die schiitische Dschafari-Gemeinde schätzt ihre Anhängerschaft auf 4% der Einwohner. Die nicht muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen bestehen nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römische Katholiken und 16.000 Juden. Darüber hinaus sind 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha’is. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.000 sind griechisch-orthodoxe Christen. Eine Umfrage legt nahe, dass ca. 2% der Bevölkerung Atheisten sind (USDOS 21.6.2019). Für das Jahr 2018 bleibt der Befund zur Religionsfreiheit in der Türkei äußerst beunruhigend. Das Fehlen nennenswerter Fortschritte seitens der Regierung bei der Behandlung langjähriger Fragen der Religionsfreiheit gibt weiterhin Anlass zur Sorge. Zahlreiche schwerwiegende Einschränkungen der Religions- oder Glaubensfreiheit setzen sich fort und bedrohen die nachhaltige Vitalität und das Überleben der Religionsgemeinschaften von Minderheiten im Land. Darüber hinaus tragen eine zunehmende Dämonisierung und eine Schmierkampagne von Regierungsstellen und regierungsnahen Medien zu einem wachsenden Klima der Angst unter den Gemeinschaften religiöser Minderheiten bei. Die Regierung mischt sich weiterhin in die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften ein (USCIRF 4.2019). Die individuelle Religionsfreiheit ist weitgehend gewährt; individuelle nicht-staatliche Repressionsmaßnahmen und staatliche Diskriminierungen kommen vereinzelt vor (AA 14.6.2019). So werden Berichten zufolge Aleviten und Nicht-Muslime in der Arbeitswelt diskriminiert, insbesondere bei der Anstellung in leitenden Positionen des öffentlichen Dienstes (FH 4.3.2020). Hassreden und Hassverbrechen gegen Christen und Juden wurden weiterhin gemeldet und Angriffe oder Vandalenakte auf Kultstätten von Minderheiten weiterhin verübt (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Übergriffe auf Aleviten oder nicht muslimische Vertreter finden vereinzelt statt und werden mit unterschiedlicher Intensität verfolgt und geahndet. Die Zahl an tätlichen oder gar tödlichen Übergriffen aus religiösen Motiven ist laut Berichten rückläufig. Auch in der öffentlichen Meinung werden solche Vorkommnisse breit verurteilt. Antisemitische Äußerungen finden auch von offizieller Seite statt und sind in der Gesellschaft weit verbreitet. Sie unterliegen aber einem Auf und Ab, eine weitere Verschärfung der Situation ist nicht zu beobachten (ÖB 10.2019). Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP Regierungszeit gestiegen. Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, von welchem Anhänger nicht-muslimischer Religionen im Allgemeinen ausgenommen sind, jedoch haben Aleviten und Nichtgläubige Schwierigkeiten, sich vom Religionsunterricht befreien zu lassen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 21.6.2019). Das Gesetz verbietet Sufi und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 21.6.2019). Da das türkische Recht keine explizite Anerkennung von Minderheiten kennt, geht der begrenzte Schutz religiöser Minderheiten, die gemäß der restriktiven türkischen Lesart nicht vom Lausanner Vertrag (1923) erfasst sind (erfasst sind lediglich Angehörige der Armenisch Apostolischen Kirche, Juden und Griechisch Orthodoxe), auf die Stiftungen (Vakif) nicht muslimischer Minderheiten im Osmanischen Reich zurück; ein System, das durch den Vertrag von Lausanne und die Einführung des Stiftungsgesetzes (Deklaration aus 1936) verfestigt wurde. Derzeit gibt es rund 163 solcher Stiftungen, 76 griechisch-orthodoxe, 52 armenische, 18 jüdische, 10 syrisch-orthodoxe, 3 chaldäisch-katholische 2 bulgarisch orthodoxe, eine georgisch-orthodoxe und eine türkisch-orthodoxe (ÖB 10.2019). Kritiker behaupten, dass die regierende AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u.a. die Vergrößerung der Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 4.3.2020).

Christen

Nach türkischem Verständnis werden neben Juden lediglich jene nicht muslimischen Minderheiten der Armenier und Griechen als Minderheiten anerkannt, die innerhalb der monarchisch-theokratischen Struktur des Osmanischen Reiches als „Nationen“ (millets) organisiert waren, und die in den Artikeln 37-45 des Friedensvertrages von Lausanne enthaltenen Garantien genießen (GIZ 9.2019c). Die nach türkischer Lesart nicht vom Lausanner Vertrag erfassten religiösen Gemeinschaften, darunter auch römisch-katholische und protestantische Christen, haben keinen eigenen Rechtsstatus. Sie können sich als Verein und, nach umstrittener Auslegung des 2008 verabschiedeten Stiftungsgesetzes, auch in Form einer Stiftung organisieren. Eigentumserwerb und der Abschluss von Verträgen ist nur in den genannten Rechtsformen möglich (AA 14.6.2019). Fälle von Muslimen, die zum Christentum konvertiert sind, sind besonders aus den großen Städten bekannt. Rechtliche Hindernisse bei Übertritt bestehen nicht, allerdings werden Konvertiten in der Folge oft auch von ihren eigenen Familien ausgegrenzt. Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen und Intoleranz (AA 14.6.2019). Den Anträgen verschiedener christlicher Gemeinschaften auf Eröffnung von Gotteshäusern und Genehmigung von Lehrplänen für Geistliche wurden noch nicht stattgegeben. Hassreden und hassbedingte Straftaten gegen Christen (und Juden) wurden weiterhin vermeldet (EC 29.5.2019). Mehrere christliche Gotteshäuser waren Ziel von Vandalismus und Drohungen (USCIRF 4.2019). Während Christen weniger als ein halbes Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen, stellen Präsident Recep Tayyip Erdo?an und seine regierende AKP sie als eine ernste Bedrohung für die Stabilität der Nation dar, indem sie die christlichen Bürger oft als keine echten Türken, sondern als Handlanger und Kollaborateure des Westens bezeichnen (MEF 1.6.2018; vgl. SCF 21.8.2017). Am 31.7.2018 unterzeichneten 18 Vertreter christlicher und jüdischer Religionsgemeinschaften eine öffentliche Erklärung, wonach sie ihren Glauben frei praktizieren können, und dass Aussagen, die auf Unterdrückung hinweisen, völlig unwahr wären, und viele Missstände aus der Vergangenheit gelöst wurden (AM 10.8.2018; vgl. DS 31.7.2018). Andere Mitglieder der jeweiligen religiösen Minderheiten waren gegenteiliger Auffassung und behaupteten, dass die Deklaration auf Druck der Regierung verfasst worden war (AM 10.8.2018).

Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei - primär über die Religion definierten - nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 11.3.2020). Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 6 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 3.8.2018). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (wengier als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "az?nl?k") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter" und "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihre Kampagnen zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis war dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 11.3.2020). Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem. Dazu gehören auch die Hasskommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten. Auch die antisemitische Rhetorik in den Medien und von Vertretern des Staates hat sich aufgrund des Konflikts in Palästina verstärkt (EC 29.5.2019). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung über Hassreden gab es zwischen Jänner und April 2018 in annähernd 2.400 Artikeln und Kolumnen 427 Fälle antisemitischer Rhetorik. Konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale wurden den Minderheiten unterstellt, insbesondere den Armeniern, Juden und Griechen, gefolgt von den Syrern (HDF 7.2019). Schulbücher müssten laut Europäischer Kommission überarbeitet werden, um Überreste diskriminierender Referenzen zu den Minderheiten zu eliminieren. Auch die staatlichen Subventionen für Minderheitenschulen sind deutlich gesunken. Die uneingeschränkte Achtung und der Schutz von Sprache, Religion, Kultur und Grundrechten der Minderheiten gemäß den europäischen Normen ist noch nicht vollständig erreicht. Die Regierung hat die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert (EC 29.5.2019). Gleichwohl wurde mit dem 4. Justizreformpaket 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 10.2019). Die gesetzlichen Einschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Sekundarschulen bleiben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch werden jedoch an öffentlichen staatlichen Schulen fortgesetzt, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zaza (EC 29.5.2019).

Kurden

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südostanatolien, wo sie die Mehrheit bilden, und auf Nordostanatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die Westtürkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südosttürkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozioökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst eine kurdische Mittelschicht in städtischen Zentren, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 9.10.2018). Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 11.3.2020). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte 2018 ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 29.5.2019). [für weiterführende Informationen siehe Kapitel 3 „Sicherheitslage“] Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 11.3.2020). Der Druck auf kurdische Medien und die Berichterstattung über kurdische Themen hält durch Gerichtsverfahren und Verhaftungen von Journalisten an (EC 29.5.2019). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Es gibt Berichte über die Entlassung kurdischer Wissenschaftler und Dozenten, die teilweise unter Terrorismus-Verdacht stehen, und gegen die entsprechende Untersuchungen laufen. Weiters kam es zur Schließung kurdischsprachiger NGOs und Institutionen. Der Druck auf kurdische Medien besteht weiterhin und kurdische Bücher wurden verboten. Im Südosten wurden mehrere Gedenk- und Literaturdenkmäler kurdischer Persönlichkeiten sowie Veranstaltungen und zweisprachige Straßenschilder von durch die Regierung ernannte Treuhändern und Behörden entfernt. Andere Vereine, kurdischsprachige Medien und Kulturinstitutionen blieben geschlossen (EC 29.5.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 14.6.2019). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ausgesetzt sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert, identifizieren sich mit der türkischen Nation und leben ihr Leben auf normale Weise. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen (DFAT 9.10.2018). Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 14.6.2019). Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Zwei Universitäten hatten Kurdisch-Institute. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten (USDOS 11.3.2020). Die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache, dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP drangsaliert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen Erdo?an den HDP-Kandidaten Demirta? bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018).

Grundversorgung und Wirtschaft

Die türkische Wirtschaft hat in den letzten zwölf Monaten erhebliche außenwirtschaftliche Veränderungen erlebt, darunter rückläufige Leistungsbilanz-Ungleichgewichte und eine geringere Auslandsverschuldung der Banken. Dies hat die außenwirtschaftlichen Schwächen verringert, die sich im Vorfeld des Währungsschocks vom August 2018 gehäuft hatten. Investitionen sind zurückgegangen, die Preise hoch geblieben und die Arbeitslosigkeit gestiegen. Diese Anpassungen haben den Fremdfinanzierungsbedarf des Landes reduziert und zu einer stabileren Lira beigetragen, ungeachtet der Währungsschwankungen im Verlaufe des Jahres 2019. Die Anpassungen wurden durch ein aktiveres Agieren der Politik und günstigere globale monetäre Bedingungen unterstützt. Dennoch sind die Devisenreserven in den letzten zwei Jahren abgebaut worden und haben die Türkei einem außenwirtschaftlichen Druck ausgesetzt. Die Realwirtschaft ist nach wie vor stark von beharrlichen makro-finanziellen Schwächen betroffen. Die Investitionen gingen deutlich zurück (bis zum zweiten Quartal 2019), während die Industrieproduktion auf eine schwache Trendwende hinweist. Die allmähliche Erholung von der Rezession im Jahr 2018 wurde durch einen Anstieg des privaten Konsums und einer Nettoauslandsnachfrage betrieben. Der Rückgang der Inflation hat begonnen, nachdem die Wechselkursentwicklung und der Vertrauensverlust in die Lira die Verbraucherpreise stark anstiegen ließen. Die Inflation betrug in den ersten drei Quartalen 2019 durchschnittlich 17% (WB 2.11.2019). Stagnierendes Produktionsniveau, steigende Produktionskosten und hohe Verbraucherpreise haben zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten und sinkenden Reallöhnen geführt. Die türkische Wirtschaft hat von Mai 2018 bis Mai 2019 rund 840.000 Arbeitsplätze verloren, was 2,9% der Gesamtbeschäftigung entspricht. Die Arbeitslosenquote stieg zwischen Mai 2018 und Mai 2019 von 10,6% auf 14%, wobei die Jugendarbeitslosigkeit einen Anstieg von 19,6% auf 25,6% verzeichnete. Die durchschnittlichen Reallöhne sanken zwischen 2017 und 2018 um 2,6%. Am stärksten betroffen sind ärmere Haushalte, da viele einkommensschwache Arbeitskräfte im Baugewerbe und in der Landwirtschaft beschäftigt sind - den Sektoren, in denen der größte Beschäftigungsrückgang zu verzeichnen war (WB 2.11.2019). Weitere Tendenzen: chronisch hohes Leistungsbilanzdefizit; starke Abhängigkeit von Energieimporten (mehr als 50% des Defizits); fehlende Leistungsfähigkeit in höherwertigen Wirtschaftssektoren, in Teilen beschränkte globale Wettbewerbsfähigkeit, niedrige lokale Wertschöpfung in der Produktion; Abhängigkeit von ausländischen Kapitalflüssen (auch durch die geringe Sparquote: 13% BIP) hoher Anteil an Schwarzarbeit und geringer Anteil von Frauen in der Erwerbsarbeit. Stark entwickelt ist die Westtürkei mit dem Marmara-Raum und der Ägäis. Dabei erwirtschaftet die Region Istanbul mit ca. 20% der Bevölkerung 40% der gesamten Wertschöpfung. Unterentwickelt ist der Südosten und Osten des Landes, gekennzeichnet oft durch bittere Armut und wirtschaftliche Rückständigkeit (GIZ 9.2019a). Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).

Behandlung nach Rückkehr

Türkische Staatsangehörige, die im Ausland für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, drohen polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen. Es kann davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Gülen-Anhänger, im Ausland ausspähen (AA 14.6.2019). Personen, die für die PKK oder eine Vorfeldorganisation der PKK tätig waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Ähnliches gilt für andere Terrororganisationen (z.B. DHKP-C, türkische Hisbollah, Al-Qaida). Seit dem versuchten Militärputsch im Juni 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 10.2019). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (MFA o.D.). Die türkische Regierung hat im Nachgang zu dem Putschversuch 2016 zahlreiche ausländische Regierungen um Mithilfe bei der Ermittlung von Mitgliedern des sog. „Gülen Netzwerkes“ gebeten. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung zumindest als Propaganda für eine terroristische Organisation führen (AA 14.6.2019). Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter, dieser entscheidet dann. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den geltenden Amnestiebestimmungen profitieren kann, oder ob Verjährung eingetreten ist. Sollte das Verfahren aufgrund der vorgenannten Bestimmungen ausgesetzt oder eingestellt sein, wird der Festgenommene freigelassen. Andernfalls fordert der Staatsanwalt beim Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, einen Haftbefehl an. Der Verhaftete wird verhört und mit einem richterlichen Haftbefehl dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, überstellt. Es ist in den letzten Jahren jedoch kein Fall bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurückgekehrter Asylwerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (AA 14.6.2019). Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig. Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraf 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2019). Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (UKHO 2.2018). Es gibt Vereine, welche von türkischen Rückkehrern gegründet wurden. Hier werden spezielle Programme angeboten, welche die Rückkehrer in Fragen wie Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen und zugleich eine Netzwerkplattform zur Verfügung stellen. Im Folgenden eine kleine Auswahl: • Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çi?dem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link turkey.com • Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke istanbul.com/ • TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E Mail. almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB 10.2019).

[Beweisquelle: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA mit Stand vom 08.04.2020]

Zur aktuell vorherrschenden Pandemie aufgrund des Coronavirus (Covid-19, SARS-CoV-2)

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Europäischem Zentrum für die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) haben das höchste Risiko für eine schwere Erkrankung durch SARS-CoV-2 Menschen im Alter von über 60 Jahren sowie Menschen mit Grunderkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen und Krebs. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.

(Beweisquelle: www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/; www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html; www.oesterreich.gv.at/)

In der Türkei wurden bei rund 83 Millionen Einwohnern laut Situation Report 183 der WHO bis zum 21.07.2020 insgesamt 220.572 von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 5.508 diesbezügliche Todesfälle bestätigt wurden.

(Beweisquelle: www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports)

2. Beweiswürdigung

2.1. Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf den Verwaltungsverfahrensakt des BFA und den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes. Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt.

2.2. Die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Staatsangehörigkeit, Herkunft und Volkgruppenzugehörigkeit die er im Zuge des Verfahrens vor dem BFA gemacht hat, waren auf Grund seiner Orts- und Sprachkenntnisse nicht zu bezweifeln. Dass der Beschwerdeführer Protestant ist, konnte er aufgrund seiner diesbezüglichen Angaben glaubhaft machen, diese stehen auch in Einklang mit dem vorgelegten Taufschein; auch bereits das BFA ist davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer Christ ist (Bescheid, S. 9). Die Identität steht aufgrund des vorgelegten türkischen Reisepasses und des vorgelegten türkischen Personalausweises fest.

Seine Ausführungen zu seiner Schulbildung, zu seiner beruflichen Tätigkeit, zu seinen Familienangehörigen in der Türkei sowie zu seinem Aufenthalt in seinem Heimatort und in Istanbul sowie zu seiner Ausreise waren kohärent, schlüssig und widerspruchsfrei, sodass auch dieses Vorbringen als glaubhaft erachtet werden konnte.

2.3. Seine Angaben zu seiner Einreise und seinem Aufenthalt in Österreich, zu seiner aktuellen Lebenssituation, seinem Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung, seinem Deutschkursbesuch, erwiesen sich als widerspruchsfrei. Der Bezug von Grundversorgungsleistungen bis 14.07.2020 ergibt sich zusätzlich aus dem entsprechenden Datenregister (GVS), die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem unverdächtigen Strafregisterauszug. Die Abmeldung von der Grundversorgung per 15.07.2020, weil die bP wegen Heirat, Eigenvermögen und einer Verpflichtungserklärung nicht mehr hilfsbedürftig ist, ergibt sich aus der Mitteilung des Landes an das BVwG. Dass der Beschwerdeführer gesund ist, wurde festgestellt, da er in der Einvernahme durch das BFA angab, dass er psychisch als auch physisch dazu in der Lage sei, die gestellten Fragen zu beantworten und er nicht äußerte, Krankheiten aufzuweisen und auch sonst keine Hinweise auf das Bestehen von wesentlichen Gesundheitsbeeinträchtigungen hervorgekommen sind. Die Beschäftigungsbewilligung ergibt sich aus dem vorgelegten Bescheid des AMS (O 4). Die Tätigkeit als Arbeiter seit 13.07.2020 ergibt sich aus dem AJ-WEB Auskunftsverfahren.

2.4. Die Ausführungen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen beruhen auf seinen protokollierten Aussagen im Zuge der Einvernahme vor dem BFA (AS 87-93).

Die Feststellungen, wonach es nicht glaubhaft ist, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus der Türkei aufgrund seines Glaubens, seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder der Auseinandersetzungen der Türkei mit Syrien einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung von erheblicher Intensität ausgesetzt gewesen sei oder er bei einer Rückkehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt einer solchen Gefährdung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre, war aufgrund der folgenden Erwägungen zu treffen:

Das BFA hielt im gegenständlich angefochtenen Bescheid beweiswürdigend fest, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen sei, auch nur eine einzige Situation zu schildern, in der er als Christ einer persönlichen Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt gewesen sei. Vielmehr habe er sich auf die Angaben von Allgemeinheiten beschränkt. Nachdem der Beschwerdeführer aufgefordert worden sei, Details anzugeben, habe er erneut einige oberflächlich gehaltene Sätze vorgebracht und sei dann gleich auf die Schwierigkeiten eingegangen, die er als Angehöriger der kurdischen Volksgruppe habe. Nach der Einschätzung des BFA könne es durchaus den Tatsachen entsprechen, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Religion in Diskussionen verbal attackiert und ausgeschlossen worden sei. Eine Bedrohung oder gar Verfolgung mit asylrelevantem Bezug sei jedoch keineswegs erkannt worden und sei vom Beschwerdeführer auch nicht vorgebracht worden. Hinsichtlich der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur Volksgruppe der Kurden verhalte es sich ähnlich. Auch hier sei der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen, auch nur eine einzige konkret gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlung vorzubringen, sondern habe sich der Beschwerdeführer erneut auf das Vorbringen von Allgemeinheiten beschränkt. Insofern der Beschwerdeführer vorgebracht habe, den Tod von Soldaten im Konflikt der Türkei mit Syrien zu spüren und deshalb verbal attackiert worden zu sein, habe das BFA auch keine gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgung erkennen können (AS 126-128).

Die gegen den Bescheid eingebrachte Beschwerde kritisiert, dass das BFA seiner Pflicht gemäß § 18 Abs. 1 AsylG nicht ausreichend nachgekommen sei, da es unterlassen habe, auf das individuelle Vorbringen des Beschwerdeführers einzugehen; es seien seitens des Beschwerdeführers Hinweise zur Begründung seines Antrages abgegeben worden, welche das BFA aber nicht näher hinterfragt habe. Würde das BFA ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren und eine ordnungsgemäße Beweiswürdigung vorgenommen haben, wäre es zur Feststellung gelangt, dass dem Beschwerdeführer in der Türkei asylrelevante Verfolgung drohe. Im Fall des Beschwerdeführers würden sich konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Hindernisses der Rückverbringung des Beschwerdeführers in die Türkei ergeben. Die Lage für Kurden als auch die Lage für Konvertiten sei in der Türkei sehr schwierig und diese Personengruppen seien massiven Diskriminierungen ausgesetzt; diesbezüglich wurden in der Beschwerde die entsprechenden Länderfeststellungen des Bescheides zitiert (AS 161-175).

Mit den in der Beschwerde enthaltenen Argumenten ist es nicht gelungen, die vom BFA vorgenommene Beweiswürdigung zu entkräften. Insofern die Beschwerde moniert, dass das BFA den vom Beschwerdeführer abgegebenen Hinweisen zur Begründung seiner Furcht vor Verfolgung nicht ausreichend nachgekommen sei, so ist dieser Vorwurf im Lichte des dem Beschwerdeführer rückübersetzten und von ihm unterschriebenen Einvernahmeprotokoll vom 27.05.2020, in dem auch enthalten ist, dass er den Dolmetscher gut verstanden habe, nicht haltbar. Es wird hier auf einen Auszug jenes Protokolls verwiesen (Orthographie im Original):

„LA Aus welchem Grund haben Sie die Türkei verlassen und in Österreich Asyl beantragt?

VP Weil Religionsfreiheit in der Türkei nicht gegeben ist und Menschen diskriminiert werden.

LA Sind Sie persönlich diskriminiert worden?

VP Ja.

LA Von wem?

VP Von Personen und Gruppen, die sich Moslems nennen und sehr rückständig sind, sowie von Personen, die selbst keine Kurden sind.

LA Wann war das?

VP Als ich konvertiert bin, so 2012, 2013. Die offizielle Religionsänderung war 2015 mit der Taufe. Vorher machte ich schon eigenständige Recherchen zum Christentum. Als ich die Religion und auch andere Themen hinterfragte und mich auf Diskussionen einließ, wurde ich beleidigt, beschimpft, psychisch attackiert und auch ausgeschlossen. Ich möchte auch meine ethnische Identität hier anführen. Weil ich Kurde bin, begegneten mir Leute aus meinem Umfeld mit Hass. Ich wurde ausgeschlossen und diskriminiert. Ich kann sagen, in meinem Heimatland hatte ich fast keine Freiheiten und die kurdische Identität wird als eine Subidentität betrachtet. Das heißt dann, das meine Freiheit aufgrund meiner ethnischen Herkunft beschnitten wird. Vor allem in der Türkei, speziell durch den Systemwechsel Erdogans als alleinigem Herrscher, wurden alle Kräfte zu einer Kraft gebündelt, weshalb der Druck auf uns gestiegen ist.

LA Das ist alles sehr allgemein formuliert. Nennen Sie mir Beispiele einer konkret gegen Sie gerichteten Verfolgung oder Bedrohung.

VP Nicht nur Kurden, sondern allgemeim in der Türkei, auch in meinem Umfeld ist zu beobachten, dass die Menschen aufeinander losgehen.

LA Wollen Sie noch weitere Gründe geltend machen?

VP Ja. Wie bekannt ist, hat die Türkei kriegerische Auseinandersetzungen mit Syrien. Jedesmal wenn Soldaten fallen, spüre ich das. In Gesprächen und Diskussionen wird das thematisiert, weshalb ich dann auch beleidigt, beschimpft und wörtlich attackiert werde.

LA Und von wem?

VP Von jenen Personen in meinem Umfeld, die selbst keine Kurden sind.

LA Was befürchten Sie im Fall einer Rückkehr in Ihren Herkunftsstaat?

VP Ich werde wieder keine Religionsfreiheit ausüben können und ich werde weiterhin psychologisch und wörtlich angegriffen. Das heißt, dass ich wieder weg muss von dort. Meine Religionsfreiheit konnte ich bisher nie vollständig erleben. Ich bin als Moslem, als Kind einer gläubigen Familie in der Türkei aufgewachsen, aber diese Religion habe ich nie als die meinige betrachtet. Durch diese Einstellung kam ich mit den Menschen in meinem Umfeld in Konflikt. Ich wurde wieder wörtlich und psychologisch angegriffen. Mir wurde vorgeworfen, dass ich über Allah und den Islam gelästert hätte.“ (Einvernahmeprotokoll des BFA vom 27.05.2020, S. 3, 4).

Es ist aufgrund der Art und Weise der Einvernahme, der Nachfragen durch den Einvernahmeleiter und der Antworten des Beschwerdeführers somit festzuhalten, dass das BFA die vom Beschwerdeführer abgegebenen Hinweisen hinsichtlich seiner Furcht vor Verfolgung durchaus berücksichtigt hat. Das BFA hat den Beschwerdeführer durch mehrfaches Nachfragen sowie durch Aufforderung Beispiele konkret gegen ihn gerichteter Verfolgung oder Bedrohung vorzubringen, angehalten, sein Vorbringen zu konkretisieren und nicht lediglich allgemein gehaltene Angaben abzugeben. Diesen Aufforderungen hat der Beschwerdeführer jedoch nicht entsprochen (vgl. oben zitiertes Einvernahmeprotokoll). Seine Angaben erschöpften sich auf die Furcht vor sozialer Ausgrenzung und Beschimpfungen durch Andersgläubige oder durch Zugehörige anderer Volksgruppen.

Die Beschwerde hat auch nicht dargelegt, welche konkrete Furcht vor Verfolgung oder Bedrohung oder konkrete Erlebnisse der Beschwerdeführer vorgebracht hätte, wenn die Befragung – nach dem Verständnis der Beschwerde – ordnungsgemäß durchgeführt worden wäre. Dies ist aber zu erwarten, wenn der Beschwerdeführer tatsächlich anderes oder weiteres Vorbringen darlegen hätte wollen. Er hätte dieses in der Beschwerde geschildert und hätte sich nicht auf den Standpunkt zurückgezogen, die Vorgehensweise des BFA ohne weitergehender Angaben sein Fluchtvorbringen betreffend, zu kritisieren. Es wird in diesem Rahmen auch darauf hingewiesen, dass es nicht ausreicht, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der genannten Verfahrensmängel in konkreter Weise darzulegen (VwGH 23.02.2016, Ra 2016/01/0012). Das Bundesverwaltungsgericht geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer diesbezüglich tatsächlich kein verfahrensrelevantes Vorbringen mehr zu erstatten hat, andernfalls dies wohl in der Beschwerde erstattet worden wäre, sowie dass sowohl das Ermittlungsverfahren vom BFA insofern ausreichend korrekt durchgeführt als auch der entscheidungsrelevante Sachverhalt vollständig erhoben wurde. Im Übrigen besteht keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber nicht behauptet hat (VwGH 21.11.1995, 95/20/0329 mwN). Die bloße Wiederholung eines bestimmten Tatsachenvorbringens in der Beschwerde - die Beschwerde verwies vollinhaltlich auf das bisher im Verfahren Vorgebrachte (AS 167) - stellt auch kein ein substantiiertes Bestreiten der behördlichen Beweiswürdigung und keine relevante Neuerung dar (VwGH 27.05.2015, Ra 2015/18/0021).

Unbestritten ist es zutreffend, dass die Situation der Kurden in der Türkei von Diskriminierung geprägt ist. Entsprechend der Länderberichte gestaltet sich die Situation für Kurden derart, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit aber nicht einer asylrelevanten - sohin auch einer maßgeblichen Intensität erreichenden – Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sind. Vereinzelte staatliche Aktionen oder solche von Einzelpersonen richten sich gegen Institutionen und Personen, denen ein Naheverhältnis zur PKK unterstellt wird. Auch Personen in gehobener Stellung könnten Ziel dieser Aktionen werden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person des Beschwerdeführers haben sollten, wurden nicht vorgebracht.

Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich daher den oben dargestellten beweiswürdigenden Argumenten des BFA an, welche von diesem in schlüssiger, vertretbarer Weise dargelegt wurden und vom Beschwerdeführer nicht substantiiert bestritten wurden. Angesichts dieser Erwägungen gelangt das Bundesverwaltungsgericht ebenso wie bereits das BFA zur Überzeugung, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei zwar mit Diskriminierung aufgrund seines Glaubens- und seiner Volksgruppenzugehörigkeit, nicht aber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung von erheblicher Intensität ausgesetzt ist. Das Bundesverwaltungsgericht kann, wie das BFA, nicht erkennen, dass im Rückkehrfall mit gravierenden Vorfällen zu rechnen wäre.

2.5. Die festgestellte aktuelle Lage in der Türkei beruht auf den vom BFA im gegenständlich angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen (Bescheid, S. 10-28). Die Beschwerde ist diesen Feststellungen nicht entgegengetreten und es ergeben sich auch sonst keine Anhaltspunkte dafür, diese Feststellungen in Zweifel zu ziehen.

Die Feststellungen zur Lage in der Türkei in Bezug auf das Coronavirus werden aufgrund der übereinstimmenden Feststellungen einer Vielzahl von öffentlich zugänglichen Quellen als notorisch bekannt angesehen.

3. Rechtliche Beurteilung

Zu A)

Zum Status eines Asylberechtigten (§ 3 AsylG 2005)

3.1. Rechtliche Grundlagen und Rechtsprechung

§ 3 AsylG

(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1.         dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2.         der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.

(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.

(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.

(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Flüchtling im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist eine Person, die aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern, ob eine vernunftbegabte Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen aus Konventionsgründen wohlbegründete Furcht erleiden würde (VwGH 09.05.1996, 95/20/0380). Dies trifft auch nur dann zu, wenn die Verfolgung von der Staatsgewalt im gesamten Staatsgebiet ausgeht oder wenn die Verfolgung zwar nur von einem Teil der Bevölkerung ausgeübt, aber durch die Behörden und Regierung gebilligt wird, oder wenn die Behörde oder Regierung außerstande ist, die Verfolgten zu schützen (VwGH 04.11.1992, 92/01/0555 u.a.).

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 ist eine Verfolgung jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art 9 Statusrichtlinie. Demnach sind darunter jene Handlungen zu verstehen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft, Keine Strafe ohne Gesetz) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon – wie in ähnlicher beschriebenen Weise – betroffen ist.

Nach der auch hier anzuwendenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine Verfolgung weiters ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, 94/20/0858; 14.10.1998, 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, 95/20/0194).

Verfolgung kann nur von einem Verfolger ausgehen. Verfolger können gemäß Art 6 Statusrichtlinie der Staat, den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschende Parteien oder Organisationen oder andere Akteure sein, wenn der Staat oder die das Staatsgebiet beherrschenden Parteien oder Organisationen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewähren.

Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes müssen konkrete, den Asylwerber selbst betreffende Umstände behauptet und bescheinigt werden, aus denen die von der zitierten Konventionsbestimmung geforderte Furcht rechtlich ableitbar ist (vgl. VwGH 08. 11. 1989, 89/01/0287 bis 0291 und 19.09.1990, 90/01/0113). Der Hinweis eines Asylwerbers auf einen allgemeinen Bericht genügt dafür ebenso wenig wie der Hinweis auf die allgemeine Lage, z.B. einer Volksgruppe, in seinem Herkunftsstaat (vgl. VwGH 29.11.1989, 89/01/0362; 05.12.1990, 90/01/0202; 05.06.1991, 90/01/0198; 19.09.1990, 90/01/0113).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss i

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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