TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/9 W146 2229520-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.10.2020
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Entscheidungsdatum

09.10.2020

Norm

AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W146 2229520-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Stefan HUBER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.02.2020, Zl. 742188901/151819765, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass Spruchpunkt I. zu lauten hat:

„Der Ihnen mit Bescheid vom XXXX , Zahl: XXXX , zuerkannte Status des Asylberechtigten wird gemäß § 7 Absatz 1 Ziffer 2 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, aberkannt. Gemäß § 7 Absatz 4 AsylG wird festgestellt, dass Ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt.“

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige, zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunk volljährige Beschwerdeführer, stellte durch seinen gesetzlichen Vertreter am 26.10.2004 einen Antrag auf Gewährung von Asyl.

Nachdem dem gesetzlichen Vertreter des Beschwerdeführers (Mutter) der Status eines Asylberechtigten mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates zuerkannt wurde und keinerlei Anknüpfungspunkte dafür bestanden, dass dem Beschwerdeführer die Fortsetzung seines Familienlebens mit der asylberechtigten Angehörigen in einem anderen Staat möglich gewesen wäre, wurde ihm gemäß § 10 Abs 2 AsylG 1997 Asyl gewährt. Gemäß § 12 AsylG 1997 wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Mit Urteil eines ungarischen Bezirksgerichtes vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen Menschenschmuggels zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bedingt, nachgesehen unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt sowie seine Ausweisung aus dem ungarischen Staatsgebiet für die Dauer von zwei Jahren ausgesprochen.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Abs 1 Z 1, 130 Abs 2 zweiter Fall, § 15 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des versuchten gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 15, 127, 129 Abs 1 Z 2, 130 Abs 2 zweiter Fall StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom XXXX zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt.

Zwischen 20.06.2015 und 05.01.2019 ergingen 19 Straferkenntnisse und –verfügungen gegen den Beschwerdeführer wegen diverser rechtswidriger Handlungen gegen die StVO und gegen das FSG, darunter 6 Mal wegen Lenkens eines Kraftfahrzeuges ohne Führerschein.

Mittels Aktenvermerk vom 13.11.2019 wurde ein Aberkennungsverfahren eingeleitet.

Am 21.01.2020 wurde der Beschwerdeführer im Rahmen des amtswegig gegen seine Person eingeleiteten Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Der Beschwerdeführer gab auf entsprechende Befragung hin zusammengefasst zu Protokoll, er sei gesund und stehe nicht in ärztlicher Behandlung. Er sei nicht verheiratet, jedoch in einer Beziehung. Er habe in Österreich die Volksschule und die Hauptschule absolviert und eine IT-Lehre abgeschlossen und sei zurzeit beim AMS gemeldet und arbeitssuchend. Die letzten fünf Jahre habe er nicht gearbeitet, da er unter anderem auch Drogen konsumiert habe. In seiner Freizeit laufe er gerne und beschäftige sich ansonsten mit Computern. Er habe einen Freund in Österreich, in Russland, respektive in Tschetschenien seien seine Onkel und Tanten, zu denen er auch Kontakt habe. Er vermisse seine Verwandten und Cousins sehr.

Der Beschwerdeführer könne aber nicht nach Russland, weil er sofort aufgehalten würde und er auch nicht wisse, wo er hinsolle. Das letzte Mal sei der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Flucht in Tschetschenien gewesen. Er sei jedoch mit der Sprache und der Kultur seines Herkunftsstaates vertraut, auch wenn es dort sehr kompliziert für ihn sei.

Auch könne er aufgrund seines Bruders nicht zurück, da dieser über die Türkei nach Syrien gereist, dort verstorben sei und seine gesamte Familie deshalb nun beschattet werde. Der Vater sei deshalb im März/April 2019 nach Tschetschenien gefahren. Dort sei er von den Behörden befragt und ihm DNA abgenommen worden.

Der Beschwerdeführer habe einen russischen Reisepass, welchen er bei der russischen Botschaft verlängern habe lassen. In Russland fürchte er keine Verfolgung aufgrund seines Asylstatus in Österreich, jedoch wegen der damaligen Situation betreffend seine Verwandten und seinen Vater.

Zu seiner Verurteilung in Ungarn gab der Beschwerdeführer an, dass er lediglich jemanden mit dem Auto mitgenommen habe und in Zukunft auf Anraten der Richterin auf die Medien hören werde. Auf die Verurteilung in Österreich vom XXXX angesprochen rechtfertigte sich der Beschwerdeführer, dass er „auf Drogen gewesen“ sei. Zur Verurteilung vom XXXX gab er an, dass er diese Vorfälle nicht hören wolle und er bereits alles wisse. Hinsichtlich der Verwaltungsstrafen habe er diese als Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt. In Zukunft wolle er nach vorne schauen und sein Leben in Ordnung bringen und arbeiten. Er habe sich auch von den Drogen distanziert. Er kenne sich jetzt in Österreich aus, wolle eine Wohnung mieten und sich zur Fahrschule anmelden. Ihm wurden die herangezogenen Länderfeststellungen ausgehändigt und eine Frist von zwei Wochen für eine schriftliche Stellungnahme eingeräumt.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 06.02.2020 wurde dem Beschwerdeführer der mit Bescheid vom XXXX , Zahl XXXX , anerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Absatz 1 Ziffer 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, aberkannt. Gemäß § 7 Absatz 4 AsylG wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 4 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Absatz 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillig Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellte fest, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen Staatsangehörigen der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe handle, dessen Identität feststehe. Seine Mutter, welche die Ankerperson für den Asylstatus des Beschwerdeführers sei, verfüge über einen Daueraufenthalt EU. Die Lage im Herkunftsstaat habe sich seit der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nachhaltig und maßgeblich geändert. Der Beschwerdeführer müsse nicht mehr befürchten, Opfer etwaiger gegen ihn persönlich gerichteter Verfolgungshandlungen zu werden. Der Beschwerdeführer verfüge außerdem über einen russischen Reisepass und sei in Österreich mehrmals von österreichischen Strafgerichten verurteilt worden. Beim Beschwerdeführer handle es sich um einen jungen gesunden Mann, der mit den Gepflogenheiten der russischen bzw. tschetschenischen Gesellschaft vertraut sei. Er verfüge über maßgebliche Kenntnisse der russischen und der tschetschenischen Sprache. Er verfüge über Angehörige in der Russischen Föderation und abgesehen von seinen Eltern und Geschwistern über keine Angehörige in Österreich. Er führe eine Beziehung mit einer thailändischen Staatangehörigen, welche über einen Daueraufenthalt EU verfüge und welche jedoch getrennt von ihm Unterkunft genommen habe. Er verfüge über kein aufrechtes und schützenswertes Familienleben. Seit 03.02.2020 sei er beschäftig, habe davor jedoch die letzten fünf Jahre nicht gearbeitet, sondern wiederholt Notstandshilfe bezogen. Aufgrund der mehrfachen strafgerichtlichen Verurteilungen und der wiederholten Verstöße gegen diverse Gesetze sei ein Einreisverbot zu erlassen gewesen.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine rechtsfreundliche Vertreterin am 27.02.2020 Beschwerde im vollen Umfang. Die Behörde habe im Spruch den Aberkennungsgrund gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG gewählt, in der Begründung stütze sie sich aber auf Ziffer 2. Die Behörde habe fälschlicherweise angenommen, dass die Verurteilungen des Beschwerdeführers den Tatbestand des besonders schweren Verbrechens erfüllen, dies sei keinesfalls so. Die Behörde habe es weiters unterlassen, eine wesentliche, dauerhafte und für den Beschwerdeführer relevante Änderung der Umstände in Tschetschenien darzutun. Weiters könne die Verlängerung des russischen Reisepasses bei der russischen Botschaft in Wien nicht als Unterschutzstellung gewertet werden.

Die Behörde erwähne die Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers im Bundesgebiet in der rechtlichen Beurteilung zu Spruchpunkt IV. mit keinem Wort. Der VwGH judiziere in ständiger Rechtsprechung, dass bei einem mehr als zehn Jahre andauernden inländischen Aufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen sei.

Die belangte Behörde habe es gänzlich unterlassen, sich näher mit der Tat und den dazu führenden Umständen auseinanderzusetzen. Sie begnüge sich vielmehr mit der bloßen Weitergabe der Verurteilungen des Beschwerdeführers und pauschalen und vorbehaltsbeladenen Ausführungen, ohne jedoch konkrete Feststellungen zum Einzelfall zu treffen. Damit käme die belangte Behörde, ohne dass überhaupt ein Tatbestand des § 52 Abs. 3 FPG erfüllt gewesen sei, ihrer Verpflichtung eine auf die Einzelheiten des Einzelfalles gestützte Gefährdungsprognose zu erstellen, nicht nach und belaste somit durch Erlassung eines Einreiseverbots den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit.

Am 12.03.2020 langte eine Beschwerdevorlage samt Stellungnahme zum Beschwerdeschriftsatz beim Bundesverwaltungsgericht ein. Ersucht wurde um die Abweisung der Beschwerde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und führt die im Spruch genannten Daten. Die Schreibweise seines Vornamens ‚ XXXX ‘ ergibt sich aus seinem russischen Auslandsreisepass.

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2004 illegal nach Österreich ein und stellte durch seinen gesetzlichen Vertreter einen Antrag auf Gewährung von Asyl. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom XXXX wurde ihm Asyl gewährt. Es wurde festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Der Status wurde dem Beschwerdeführer im Rahmen der Asylerstreckung über die Mutter zuerkannt. Dieser wurde der Status aufgrund der Teilnahme des Vaters des Beschwerdeführers am ersten Tschetschenienkrieg zuerkannt, da davon ausgegangen wurde, dass sie in das Blickfeld der russischen Sicherheitskräfte geraten sei, als sie von diesen unzählige Male zum Aufenthaltsort ihres Mannes (Vater des Beschwerdeführers) befragt worden und einer ihrer Söhne dabei häufig misshandelt worden sei.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX in Tschetschenien und lebte dort bis zu seiner Ausreise als 12jähriger. Im Entscheidungszeitpunkt halten sich in Tschetschenien weiterhin Verwandte des Beschwerdeführers auf, zu welchen dieser Kontakt hat und welche er vermisst.

Dem Beschwerdeführer wurde am XXXX von der Russischen Botschaft in Wien ein auf XXXX lautender russischer Auslandsreisepass, gültig bis XXXX , ausgestellt.

Eine Unterschutzstellung des Beschwerdeführers unter seinen Herkunftsstaat liegt vor.

Der Beschwerdeführer ist zum Entscheidungszeitpunkt im Herkunftsstaat keiner Verfolgung aufgrund der Angehörigeneigenschaft zu seinem Vater ausgesetzt, insbesondere unterliegt er keiner Verfolgung durch Tätigkeiten des Vaters im ersten Tschetschenienkrieg. Der Vater des Beschwerdeführers war im Frühjahr 2019 unbehelligt in Tschetschenien, wo er von den Behörden lediglich befragt wurde.

Auch darüber hinaus kann nicht erkannt werden, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer ist im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der Beschwerdeführer leidet an keiner schweren oder lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Erkrankung und ist arbeitsfähig. Er nimmt keine Medikamente.

Mit Urteil eines ungarischen Bezirksgerichtes vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen Menschenschmuggels zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bedingt, nachgesehen unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt sowie seine Ausweisung aus dem ungarischen Staatsgebiet für die Dauer von zwei Jahren ausgesprochen.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der Beschwerdeführer am XXXX mit einem syrischen Staatsbürger vereinbarte, andere syrische Staatsbürger gegen ein Entgelt von 400 Euro nach Österreich zu bringen. Bei der anschließenden Fahrt mit 4 Syrern von Ungarn nach Österreich wurde der Beschwerdeführer von der ungarischen Polizei betreten.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 17, 129 Abs 1 Z 1, 130 Abs 2 zweiter Fall, § 15 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt.

Dieser Verurteilung liegt zugrunde, dass der Beschwerdeführer mit einem weiteren Tschetschenen in eine Firma einbrach und zwei Laptops, Mobiltelefone, SIM-Karten und Münzen im Wert von 1000 Euro mitnahm. Weiters ein Einbruch unter Wegnahme von Zigaretten, Rubbel- und Brieflosen im Wert von 2870 Euro sowie der Versuch in einem Vereinslokal Bargeld wegzunehmen und Kaffee- und Zigarettenautomaten aufzubrechen.

Mildernd wurden das reumütige Geständnis und der ordentliche Lebenswandel des Beschwerdeführers, erschwerend kein Umstand gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des versuchten gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 15, 127, 129 Abs 1 Z 2, 130 Abs 2 zweiter Fall StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom XXXX zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt.

Dieser Verurteilung liegt zugrunde, dass der Beschwerdeführer versuchte an einer Tankstelle Bargeld wegzunehmen und einen Münzautomaten aufzubrechen.

Mildernd wurden das reumütige Geständnis und der ordentliche Lebenswandel des Beschwerdeführers, erschwerend die Tatwiederholung gewertet.

Zwischen 20.06.2015 und 05.01.2019 ergingen 19 Straferkenntnisse und –verfügungen gegen den Beschwerdeführer wegen diverser rechtswidriger Handlungen gegen die StVO, das KFG und gegen das FSG, darunter 6-mal wegen Lenkens eines Kraftfahrzeuges ohne Führerschein. Die verhängten Geldstrafen verbüßte der Beschwerdeführer als Ersatzfreiheitsstrafe.

Im Bundesgebiet leben die Eltern sowie die Geschwister des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer lebt gemeinsam mit seiner Mutter und der Schwester in einem Haushalt. Darüber hinaus verfügt der Beschwerdeführer – abgesehen von einer Freundin, mit der er nicht zusammenlebt – über keine familiären oder sonstigen verwandtschaftlichen bzw. familienähnlichen sozialen Bindungen in Österreich. Der Beschwerdeführer ist weder verheiratet noch hat er Kinder.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich die Volksschule, die Hauptschule und eine Lehre für Kommunikationstechniker – EDV und Telekommunikation abgeschlossen. Der Beschwerdeführer lebte danach nahezu fünf Jahre von der Notstandshilfe. Seit 03.02.2020 ist der Beschwerdeführer bei XXXX als Arbeiter angemeldet.

Der Beschwerdeführer hat sich während seines langjährigen Aufenthaltes Deutschkenntnisse angeeignet und spricht inzwischen fließend Deutsch und beherrscht sowohl Russisch als auch Tschetschenisch.

Eine den Beschwerdeführer betreffende aufenthaltsbeendende Maßnahme würde keinen ungerechtfertigten Eingriff in dessen gemäß Art. 8 EMRK geschützte Rechte auf Privat- und Familienleben darstellen.

Zur Lage im Herkunftsstaat:

Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 29.7.2019, vgl. GIZ 8.2019c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 8.2019a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 8.2019a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Sieben-Prozent-Klausel. Wichtige Parteien sind: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern , die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 5.2019a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 14.2.2019b). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die Nicht-Systemopposition unterstützt zwar die parlamentarische Demokratie als Organisationsform der Politik, nimmt aber nicht an Wahlen teil, da ihnen die Teilnahme wegen der restriktiven Regeln oder vermeintlicher Formalfehler versagt wird (Dekoder 24.5.2016).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 8.2019a, vgl. AA 14.2.2019b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 8.2019a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 8.2019a).

Bei den Regionalwahlen am 8.9.2019 in Russland hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu Protesten geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten alles wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall. Umfragen hatten der Partei wegen der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage im Land teils massive Verluste vorhergesagt (Zeit Online 9.9.2019).

Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2019 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 24.1.2019), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert , teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2018). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen zu sein (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.2.2019, vgl. AA 13.2.2019).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).

Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 8.2019a). Die Verfassung postuliert die Russischen Föderation als Rechtsstaat . Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland ist an folgende UN-Übereinkommen gebunden: - Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969) - Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991) - Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973) - Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004) - Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987) - Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001) - Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.9.2012) (AA 13.2.2019).

Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 317 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat dabei fast alle Empfehlungen akzeptiert und nur wenige nicht berücksichtigt. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der EMRK. Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des EGMR um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert [Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 13.2.2019).

Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie der unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Leute für wohltätige Projekte engagieren und freiwillige Arbeit leisten. Regionale zivile Kammern wurden zu einer wichtigen Plattform im Dialog zwischen der Zivilbevölkerung und dem Staat in Russlands Regionen (ÖB Moskau 12.2018). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AI 22.2.2018, FH 4.2.2019). Der konsultative „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim russischen Präsidenten übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 13.2.2019). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur führen zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Folter und andere Misshandlungen sind nach wie vor verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wird weiter erschwert. Im Nordkaukasus kommt es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018). Derzeit stehen insbesondere die LGBTI-Community in Tschetschenien sowie die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Russland unter Druck (ÖB Moskau 12.2018).

Im Zuge der illegalen Annexion der Krim im März 2014 und der Krise in der Ostukraine wurde die Gesellschaft v.a. durch staatliche Propaganda nicht nur gegen den Westen mobilisiert, sondern auch gegen die sog. „fünfte Kolonne“ innerhalb Russlands. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland derzeit aufgrund prozeduraler Unstimmigkeiten ausgesetzt bleibt, werden konkrete Projekte zum Menschenrechtsschutz weiterhin im Kontext des Europäischen Instruments für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR) gefördert. Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert (ÖB Moskau 12.2018)

Der aktuelle Jahresbericht der föderalen Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa für das Jahr 2017 bestätigt die Tendenz der russischen Bevölkerung zur Priorisierung der sozialen vor den politischen Rechten. Im Auftrag ihrer Einrichtung hat die Public Opinion Foundation (FOM) eine Studie über die Meinung der Bürger Russlands über die Einhaltung von Menschenrechten in der Russischen Föderation durchgeführt. Dabei konnte eine positive Entwicklung im Vergleich zu 2016 festgestellt werden: 41% der Befragten (2016: 39%) meinten, dass Menschenrechte in Russland geschützt werden, 39% (2016: 46%) waren gegenteiliger Meinung. Die Mehrheit der Teilnehmer ist allerdings der Auffassung, dass sich die Menschenrechtslage in Russland nicht geändert habe. Im Zuge der Berichterstattung der Menschenrechtsbeauftragten an den russischen Präsidenten vom August 2018 zeigte sich, dass die meisten Beschwerden im Jahr 2017 arbeits- und wohnrechtliche Themen, das Gesundheits- und Schulwesen sowie Straf- und Verfahrensrechte betrafen, allgemein habe sich aber die Meinung der russischen Bevölkerung über den Menschenrechtsschutz verbessert. Unter Druck steht auch die Freiheit der Kunst, wie etwa die Kontroversen um zeitgenössisch inszenierte Produktionen von Film, Ballett und Theater zeigen (ÖB Moskau 12.2018).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend „Aufständische“ und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet (ÖB Moskau 12.2018), und es werden von dort schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen (AI 22.2.2018).

Tschetschenien

NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten. Die unabhängige Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angebliche außergerichtliche Tötung von über zwei Dutzend Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten, die nicht im Zusammenhang mit der Verfolgung von LGBTIPersonen stehen soll. Seitens Amnesty International wurde eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe durch die russischen Behörden gefordert. Im Herbst 2017 besuchte das Komitee gegen Folter des Europarates neuerlich Tschetschenien und konsultierte dabei auch die russische Ombudsfrau für Menschenrechte. Ihre nachfolgende Aussage gegenüber den Medien, dass das Komitee keine Bestätigung außergerichtlicher Tötungen oder Folter gefunden habe, wurde vom Komitee unter Hinweis auf die Vertraulichkeit der mit den russischen Behörden geführten Gespräche zurückgewiesen (ÖB Moskau 12.2018).

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien herausgebracht werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 13.2.2019). 2017 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019, vgl. HRW 17.1.2019), wo die Betroffenen gefoltert und einige sogar getötet wurden [vgl. Kapitel 19.4. Homosexuelle] (FH 4.2.2019).

Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen Schwule berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht. Die Nowaja Gazeta berichtete über die rechtswidrige Inhaftierung zahlreicher Personen seit Dezember 2016 und die heimliche Hinrichtung von mindestens 27 Gefangenen durch Sicherheitskräfte am 26. Januar 2017 in Tschetschenien (AI 22.2.2018).

In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten. So musste ein Mann, der sich im April 2016 in einem Videoaufruf an Präsident Putin über die Misswirtschaft und Korruption lokaler Beamter beschwerte, nach Dagestan flüchten, nachdem sein Haus von Unbekannten in Brand gesteckt worden war. Einen Monat später entschuldigte sich der Mann in einem regionalen Fernsehsender. Im Mai 2016 wandte sich Kadyrow in einem TV-Beitrag mit einer deutlichen Warnung vor Kritik an die in Europa lebende tschetschenische Diaspora. Diese werde für jedes ihrer Worte ihm gegenüber verantwortlich sein, man wisse, wer sie seien und wo sie leben, sie alle seien in seinen Händen, so Kadyrow. Gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax behauptete Kadyrow am 21. November 2017, dass der Terrorismus in Tschetschenien komplett besiegt sei, es gebe aber Versuche zur Rekrutierung junger Menschen, für welche er die subversive Arbeit westlicher Geheimdienste im Internet verantwortlich machte (ÖB Moskau 12.2018).

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019).

Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges

Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner (ÖB Moskau 12.2019) und unabhängige Journalisten (HRW 26.5.2017), wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. HRW 26.5.2017). Ramzan Kadyrow versucht dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden (ÖB Moskau 12.2019, vgl. HRW 17.1.2019). Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen (ÖB Moskau 12.2019), und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigungen, Entführungen, Misshandlungen und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft) (ÖB Moskau 12.2019, vgl. HRW 17.1.2019). Vereinzelt kommt es vor, dass Personen, denen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Oftmals verlieren Angehörige ihre Arbeitsstelle, ihre Häuser werden niedergebrannt, Kinder werden von der Schule ausgeschlossen, oder sie werden überhaupt aus Tschetschenien ausgewiesen (ÖB Moskau 12.2019). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und das die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt (ÖB Moskau 12.2019, vgl. SFH 25.7.2014). Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019)

Kadyrow setzte lokale salafistische Muslime und Aufständische oder deren Unterstützer weitgehend gleich. Er habe die Polizei und lokale Gemeinschaften angewiesen, genau zu überwachen, wie Personen beten und sich kleiden würden, und die zu bestrafen, die vom Sufismus abkommen würden (HRW 26.5.2017). Die Tageszeitung Nowaja Gazeta berichtete über die rechtswidrige Inhaftierung zahlreicher Personen im Dezember 2016, sowie die heimliche Hinrichtung von mindestens 27 Gefangenen durch Sicherheitskräfte am 26. Januar 2017 in Tschetschenien (AI 22.2.2018). Demnach wollte die tschetschenische Führung damit den Mord an einem Polizisten rächen. Der Polizist wurde vermutlich von islamistischen Kämpfern ermordet. Tschetschenische Regierungsvertreter bestreiten die Vorfälle aufs Schärfste (ORF.at 9.7.2017, vgl. Standard.at 10.7.2017). Im Jänner 2017 hat Ramzan Kadyrow die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in „die Irre geführt wurden“ (Caucasian Knot 25.1.2017).

Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Kidnapping wird von tschetschenischen Sicherheitskräften begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).

Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen (ÖB Moskau 12.2019). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Ein anderes Beispiel ist der wohl populärste Kritiker von Kadyrow. Der Blogger lebt in Polen im Exil und wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 tot in einem Hotel gefunden (SZ 4.2.2020). Trotzdem dürften sich die russischen und tschetschenischen Behörden bei der Strafverfolgung vor allem auch auf IS-Kämpfer/Unterstützer bzw. auf Personen konzentrieren, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen. Zahlreichen Personen, nach denen seitens russischer Behörden gefahndet wird (z.B. Fahndungen via Interpol), werden Delikte gemäß § 208 Z 2 1. (Teilnahme an einer illegalen bewaffneten Formation) oder gemäß § 208 Z 2 2 (Teilnahme an einer bewaffneten Formation auf dem Gebiet eines anderen Staates, der diese Formation nicht anerkennt, zu Zwecken, die den Interessen der RF widersprechen) des russischen Strafgesetzbuches zur Last gelegt. In der Praxis zielen diese Gesetzesbestimmungen auf Personen ab, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen bzw. auf Personen, die ins Ausland gehen, um aktiv für den sog. Islamischen Staat zu kämpfen (ÖB Moskau 12.7.2017).

Ein zunehmendes Sicherheitsrisiko stellt für Russland die mögliche Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut INTERFAX warnte FSBLeiter Bortnikov bei einem Treffen des Nationalen Anti-Terrorismus-Komitees am 12.12.2017 vor der Rückkehr militanter Kämpfer nach der territorialen Niederlage des sog. IS in Syrien (ÖB Moskau 12.2019). Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasste. Eine Studie des renommierten Soufan-Instituts nennt Russland noch vor Saudi-Arabien als das wichtigste Herkunftsland ausländischer Kämpfer: So sollen rund 3.500 von ihnen aus Russland stammen, wobei die Anzahl der Rückkehrer mit 400 beziffert wird. Anderen Analysen zufolge sollen bis zu 10% der IS-Kämpfer aus dem Kaukasus stammen, deren Radikalisierung teilweise auch in russischen Großstädten außerhalb ihrer Herkunftsregion erfolgte. Laut Präsident Putin sollen rund 9.000 Kämpfer aus dem postsowjetischen Raum stammen (ÖB Moskau 12.2019). Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. Landinfo 8.8.2016). Die Schwere der Strafe hängt davon ab, ob sich die sogenannten Foreign Fighters den Behörden stellen und kooperieren. Jene, die sich nicht stellen, laufen Gefahr, in sogenannten Spezialoperationen liquidiert zu werden (Landinfo 8.8.2016). Laut einer Meldung vom Dezember 2019 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB kommuniziert, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen haben und an Kriegshandlungen teilgenommen haben. Gegen über 4.000 wurde in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet. Von 337 zurückgekehrten Kämpfern wurden 224 bereits verurteilt und 32 festgenommen (ÖB Moskau 12.2019).

Nachdem der sog. IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen werden konnte, ist zu vermuten, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Laut dem unabhängigen Nachrichtenportal zum Kaukasus, Caucasian Knot, kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des IS standen bzw. stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt (ÖB Moskau 12.2019).

Bewegungsfreiheit

In der Russischen Föderation herrscht Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 13.3.2019). In einigen Fällen schränkten die Behörden diese jedoch ein. Die meisten Russen können jederzeit ins Ausland reisen, aber vier bis fünf Millionen Mitarbeiter, die mit dem Militär- und Sicherheitsdienst verbunden sind, wurden nach den im Jahr 2014 erlassenen Regeln vom Auslandsreiseverkehr ausgeschlossen (US DOS 13.3.2019, vgl. FH 4.2.2019).

Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestaner etc.], das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen (AA 13.2.2019). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung von vor allem ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 4.2.2019) [bez. Registrierung vgl. Kapitel 19.1 Meldewesen].

Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen; 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings immer noch auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 13.2.2019, vgl. ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH 2017).

Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine administrative Strafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 13.2.2019).

Personen, die innerhalb des Landes reisen, müssen ihre Inlandspässe zeigen, wenn sie Tickets für Reisen via Luft, Schienen, Wasser und Straßen kaufen wollen. Dies gilt nicht für Pendler (US DOS 20.4.2018, vgl. FH 4.2.2019, AA13.2.2019). Der Inlandspass ermöglicht auch die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme und die Eröffnung eines Bankkontos (AA 21.5.2018, vgl. FH 4.2.2019).

Nach Angaben des Leiters der Pass- und Visa-Abteilung im tschetschenischen Innenministerium haben alle 770.000 Bewohner Tschetscheniens

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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