Entscheidungsdatum
27.07.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
L516 2123377-1/26E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA Pakistan, vertreten durch Verein Menschenrechte, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.03.2016, Zahl 1072902105/150640584 nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 04.06.2020 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Beschwerdeführer ist pakistanischer Staatsangehöriger und stellte am 09.06.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 01.03.2016 (I.) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG sowie (II.) des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG ab. Das BFA erteilte unter einem (III.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß „§§ 57 und 55 AsylG“, erließ gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG, stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Pakistan gemäß § 46 FPG zulässig sei und sprach (IV.) aus, dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.
Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Sache am 04.06.2020 eine mündliche Verhandlung durch.
1. Sachverhaltsfeststellungen:
[regelmäßige Beweismittel-Abkürzungen: AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; NS=Niederschrift; VS=Verhandlungsschrift der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht; S=Seite; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; IZR=Zentrales Fremdenregister; GVS= Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich; SD=Staatendokumentation des BFA; LIB=Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA]
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen in Pakistan
Der Beschwerdeführer führt in Österreich den im Spruch angeführten Namen sowie das ebenso dort angeführte Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Pakistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen, dem Stamm der Turi sowie der schiitischen Glaubensgemeinschaft an. Seine Identität steht nicht fest (NS 10.06.2015, S 1; NS 11.02.2016, S 6).
Der Beschwerdeführer stammt aus dem Ort XXXX nahe an der Grenze zu Afghanistan und in der Nähe von XXXX in der Kurram Agency, Provinz Khyber Pakhtukhwa (bis 2018 Gebiet der FATA) liegt und wuchs dort auch auf. Er hat in seinem Herkunftsort zwölf Jahre die Schule besucht, ging danach zwei Jahre in ein College in XXXX und arbeitete einige Zeit lang selbständig in seiner eigenen XXXX . (NS 10.06.2015, S 1, 2; NS 11.02.2016, S 6; VS 04.06.2020, S 7)
Der Beschwerdeführer hat nur selten Kontakt zu seinen Familienangehörigen in Pakistan, soweit der Beschwerdeführer weiß, geht es seinen Eltern gut. Außer den Eltern leben noch zwei Tanten des Beschwerdeführers in Pakistan. Die Eltern leben nach wie vor in XXXX , die Tanten in XXXX . Der einzige Bruder des Beschwerdeführers und ein Onkel des Beschwerdeführers sind im Jänner 2015 verstorben. (NS 11.02.2016, S 6, 7; VS 04.06.2020, S 6, 7)
Der Beschwerdeführer verließ Pakistan im Februar 2015 und reiste legal in den Iran und weiter nach Österreich wo er unrechtmäßig einreiste (NS 10.06.2015, S 3; NS 11.02.2016, S 9).
1.2 Zu seiner Lebenssituation in Österreich
Im Juni 2015 reiste der Beschwerdeführer nach Österreich ein, wo er sich gestützt auf das vorläufige Aufenthaltsrecht nach dem Asylgesetz seither ununterbrochen aufhält. Er bezieht nach wie vor Leistungen aus der Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde (GVS), ist jedoch arbeitsfähig und arbeitswillig und verfügt über eine Einstellungszusage eines österreichischen Unternehmens. Er hat mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt, seine Freunde, seine Bekannte und sein soziales Netz in Österreich. Er in verschiedenen Vereinen sportlich aktiv (Kickboxen, Karate, Volleyball). Er hat einen großen Freundeskreis in Österreich und er ist ein guter Freund einer österreichischen Familie, die die bereits erfolgte Integration des Beschwerdeführers bestätigt. Auch bei den Freunden dieser Familie ist der Beschwerdeführer beliebt. Der Beschwerdeführer hat im Juli 2016 die Deutschprüfung ÖSD Zertifikat A2 positiv absolviert und danach weiterführende Deutschkurse besucht. Er kann sich bereits sehr gut in deutscher Sprache verständigen. Er verstand die ihm in der mündlichen Verhandlung ohne Dolmetscher in deutscher Sprache gestellten Fragen sofort und antwortete auf diese spontan, in freier Erzählung und verständlich, wenn auch manchmal mit Satzstellungsfehlern. Der Beschwerdeführer nahm im Mai und Juni 2019 an einem Informatikkurs teil. Der Beschwerdeführer ist gesund.
Er ist strafrechtlich unbescholten. (ZMR 03.06.2020; GVS 03.06.2020; IRZ 03.06.2020; VS 04.06.2020, 4, 5; VS 04.06.2020, VS Beilagen; Teilnahmezertifikat OZ 22; Strafregister Republik Österreich)
1.3 Zum Ausreisegrund
Angehörige eines anderen Stammes trachten danach, Blutrache am Beschwerdeführer entsprechend den Wertvorstellungen ihres Verhaltenskodex zu üben und diesen zu töten.
1.4. Zur Situation in Pakistan
Kodizes des Pashtunwali (Auszug)
Ghairat (Würde)
Ghairat bedeutet, dass Paschtunen ihre Würde und Ehre wahren müssen. Die Ehre spielt in der Paschtunen-Gesellschaft eine wichtige Rolle und bei vielen anderen Lebensregeln geht es darum, die eigene Ehre und den Stolz zu verteidigen. Hierfür muss der Paschtune sich selbst und andere respektieren, insbesondere Personen, die er nicht kennt. Der Respekt beginnt zuhause unter den Mitgliedern der Familie und den Verwandten. Ghairat gehört zu Namoos (die Keuschheit der Frauen beschützen) und es heißt, dass derjenige, der kein Ghairat hat, sein Namoos nicht wahren kann. Es ist eine Beleidigung, jemanden Begairat (würdelos) zu nennen und niemand würde es wagen, jemanden so zu nennen. Wenn beispielsweise auf eine Paschtunin Toor (Frauen, die einer illegalen sexuellen Beziehung schuldig sind) zutrifft, ist es eine Sache von Ghairat die beschuldigte Frau und ihren Partner zu erschießen.
Badal (Vergeltung)
Badal, bedeutet in Pashto Vergeltung und soll die Gerechtigkeit wiederherstellen oder an den Übeltätern Rache nehmen. Wer eine Straftat begeht, muss Badal bezahlen. Badal kann von der Jirga auferlegt oder vom Maraka, dem Geschädigten, oder einem Mitglied seiner Familie eingefordert werden. Dies gilt für Ungerechtigkeiten, die in der Gegenwart und in der Vergangenheit begangen wurden. Wenn der Übeltäter, seine Familienmitglieder oder Verwandten noch leben, wird Rache geübt oder Badal verlangt. Ein Sprichwort der Paschtunen lautet: der Paschtune, der nach 100 Jahren Vergeltung übte sagte: „Ich habe mich zu früh gerächt.“ Das führt dann zu einer Blutfehde, die sich über Generationen hinziehen, ganze Stämme mitreißen und hunderte von Leben kosten kann. Dies kann jedoch durch Versöhnung, genannt Nanawatai (Abbitte leisten) vermieden werden.
(Quelle: Dossier der Staatendokumentation AfPak, Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, 2016, 34, 36 f)
Blutfehden, Ehrverbrechen, erzwungene und unakzeptierte Heirat und andere schädliche traditionelle Praktiken
Blutrache ist vor allem im ländlichen Bereich Pakistans noch immer ein verbreitetes Phänomen. Auslöser für Blutfehden zwischen Familien sind Ehrverletzungen, die aus einem Mord eines Angehörigen, der Respektlosigkeit gegenüber einem weiblichen Familienmitglied, einer Beleidigung, Verletzung von Eigentumsrechten (Bewässerungskanäle, Land) etc. bestehen können. Das Konzept der Ehre (ghairat), das vor allem in der paschtunischen Bevölkerung Khyber Pakhtunkhwas besonders stark ausgeprägt ist, verlangt es, eine Ehrverletzung zu rächen. Blutfehden führen oft dazu, dass Familien über Generationen miteinander verfeindet sind und in ständiger Angst davor leben, dass eines ihrer Familienmitglieder aus Rache getötet wird (ÖB 10.2018).
Das Gesetz zur Bekämpfung von frauenfeindlichen Praktiken („Prevention of Anti-Women Practices (Criminal Law Amendment) Act“) aus 2011 verbietet frauenfeindliche Taten, die im Namen traditioneller Praktiken begangen werden. In einigen Fällen werden Frauen Opfer unterschiedlicher Arten gesellschaftlich bedingter Gewalt, darunter sogenannte Ehrenmorde, Zwangsehen, Zwangskonvertierung, oder erzwungene Isolation. Frauen werden als Pfand benutzt, um Stammeskonflikte beizulegen (USDOS 13.3.2019). Opfer von Ehrverbrechen sind hauptsächlich Frauen, allerdings sind auch Männer betroffen. Verbrechen in Namen der Ehre – nachdem Frauen beschuldigt wurden, Schande über die Familie gebracht zu haben – sind z.B. Mord, Säureangriffe oder Verstümmelungen (UKHO 2.2016).
Das 2011 erlassene Gesetz „Prevention of Antiwomen Practices (Criminal Law Amendment) Act“ stellt weitere schädliche Praktiken gegen Frauen unter Strafe: Die Gabe einer Frau zur Streitbeilegung, Vorenthalten eines Anspruchs auf Erbe oder Eigentum, erzwungene Eheschließung, sowie der Zwang oder die Erleichterung der „Verheiratung mit dem Koran“, i.e. ein Schwur auf den Koran, dass die Frau unverheiratet bleibt und ihr Erbe nicht beansprucht. Obwohl verboten, sind diese Praktiken in manchen Gegenden weiterhin verbreitet (USDOS 13.3.2019).
In den ehemaligen Stammesgebieten FATA hat sich ein auf dem Stammesrecht (z.B. Paschtunwali) basierendes paralleles Rechtssystem mit den im übrigen Staatsgebiet verbotenen „Jirga“-Gerichten der Stammesältesten erhalten. Es greift zur Lösung von Streitfällen auf eine zum Teil archaische, zum Teil an der Scharia orientierte Rechtspraxis zurück. Während sich männliche Angeklagte mit Geldleistungen der Verhängung schwerer Strafen entziehen können, werden Frauen bei Verstößen gegen den Sittenkodex hart bestraft. Auch sind Fälle bekannt, in denen stellvertretend für die Delinquenten weibliche Familienangehörige getötet oder in anderer Weise bestraft wurden. (AA 21.8.2018).
Wiewohl Männer und Frauen theoretisch von Ehrenmorden betroffen sein können, dürfte der Großteil der Fälle auf Frauen entfallen (ÖB 10.2018). Es wird geschätzt, dass jährlich bis zu 1.000 Frauen in Pakistan Ehrenmorden zum Opfer fallen (HRW 17.1.2019; vgl. USDOS 13.3.2019) und viele Fälle werden nicht gemeldet und geahndet. Den des „Ehrverbrechens“ beschuldigten Männern wird in vielen Fällen die Flucht erlaubt (USDOS 13.3.2019). Die hauptsächlichen Gründe für die Ehrenmorde waren 2015 familiäre Streitigkeiten, Vorwürfe einer unrechtmäßigen Beziehung und die eigene Wahl eines Ehepartners (HRCP 3.2016). Ehrenmorde kommen hauptsächlich in ländlichen Gebieten, allerdings auch in Städten, vor (UKHO 2.2016). Der Mord wird als Weg zur Wiederherstellung der Reputation und Ehre der Familie gesehen (AF 1.2015). Etwa drei Viertel der Morde werden dabei von der Familie der Frau verübt (ÖB 10.2018).
Der 2004 verabschiedete Honour Killing Act stellt „Ehrentötungen“ („Karo Kari“) als Mord unter Strafe. Mit dem erklärten Ziel der Reduzierung von Ehrenmorden verabschiedete das pakistanische Parlament am 6.10.2016 ein Änderungsgesetz zum Strafgesetzbuch und zur Strafprozessordnung (AA 21.8.2018). Eine wesentliche Neuerung ist die Abschaffung des Konzepts der Vergebung (diyat). Bis zur Einführung des Gesetzes konnte die Familie der Ermordeten dem Täter vergeben, was zur automatischen Straffreiheit des Täters führte und damit einer strafrechtlichen Verfolgung entgegenstand (ÖB 10.2018). Damit alleine ist jedoch keine grundlegende Verbesserung der Situation eingetreten. In etwa zwei Drittel der Fälle von Ehrenmorden, in denen es zu einer Strafverfolgung kommt, werden die Angeklagten frei gesprochen (AA 21.8.2018). Es obliegt dem Gericht, zu entscheiden, ob es sich um ein Ehrverbrechen handelt. In einigen Fällen im Jahr 2017 konnten Angeklagte vor Gericht andere Motive glaubwürdig machen und wurden aufgrund der Qisas- und Diyat-Regelungen begnadigt (AI 21.2.2018). Der Implementierung der Anti-Honour Killings Bill steht die große Bedeutung des informellen Justizwesens [vgl. Abschnitt 4.2] in vielen ländlichen und von Stammesstrukturen geprägten Teilen Pakistans entgegen (ÖB 10.2018).
Besonders in Punjab und Khyber Pakhtunkhwa ist es verbreitet, zur Beendigung von Blutfehden eine junge Frau (oft Mädchen unter 18 Jahren) als Blutzoll an eine verfeindete Familie zu übergeben. Die Zwangsverheiratung des Mädchens kann dabei nicht nur als Sühne für einen erfolgten Mord, sondern auch für andere Ehrverletzungen, die von dessen Vater, Bruder oder Onkel begangen wurden, erfolgen. Der Criminal Law (Third Amendment) Act 2011 stellt die Praxis des badla-e-sulh, wanni oder swara (Gabe eines Mädchens/einer Frau zur Beilegung von Streitigkeiten) unter Strafe (von bis zu sieben Jahren); auch Zwangsverheiratung ist darin mit bis zu sieben Jahren Freiheitsstrafe bedroht. Trotz des Verbots ist die Praxis noch immer weit verbreitet: Es fehlen offizielle Statistiken, laut der NGO CAMP dürften aber 20% aller Fälle von Gewalt gegen Frauen auf swara/wanni zurückzuführen sein (ÖB 10.2018).
[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN]
Allgemeine Informationen zu Stammeskonflikten, Blutrache, Familienfehden und Landkonflikten in Khyber Pakhtunkhwa
Konflikte um Privateigentum, Frauen und Körperverletzung unter Paschtunen führen oft zu Blutfehden zwischen Familien und ganzen Clans. Das Paschtunwali, der ungeschriebene Verhaltenskodex der Paschtunen in den pakistanischen Provinzen Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan, sowie den paschtunischen Gebieten Afghanistans, basiert auf den Grundsätzen von Gleichheit und Vergeltung. Jeder Verstoß gegen den Kodex kann schwerwiegende Folgen haben, wie z.B. das Abbrennen des Hauses, Vertreibung aus der Region, usw. Die Blutrache ist ein Phänomen das eng mit dem paschtunischen Konzept der Ehre, das auch im Paschtunwali verankert ist, verbunden. Morde können im Zusammenhang mit Konflikten jederlei Art in Blutrache enden. Dabei sind Konflikte um Land und Wasser sehr häufig Grund von Blutfehen, gefolgt von Familienkonflikten.
Eine Vielzahl von Grundstücksstreitigkeiten, Eigentumskonflikten und Landkonflikten enden in Blutrache. Dabei gibt es auch stammesrechtliche Schlichtungsversuche durch Jirgen und Ältesten-Räte, die manchmal erfolgreich Blutfehen beilegen. Das soziale Gefüge der Paschtunen verändert sich auch und passt sich neuen Gegebenheiten an. So ist das Paschtunwali, laut einem Experten, kein statischer Prinzipienkanon, sondern lebendig; es entwickelt sich dynamisch. Jahrelang anhaltende und verheerende Kriege haben dabei die Autorität der Stammesältesten teilweise durch jüngere militärischer Führer ersetzt. Ihre oft gewaltsame Selbstbehauptung gegenüber traditionellen Sitten, sowie ihre Missachtung der traditionellen Autorität der Ältesten, haben „neue Werte“ geschaffen, die zu den traditionellen Werten oft im Widerspruch stehen und Gewalttaten und Misshandlungen rechtfertigen.
Laut dem Bericht zu Blutfehden, paschtunischem Gewohnheitsrecht und traditioneller Konfliktresolution, der 2011 vom norwegischen COI-Unit LandInfo erstellt worden ist, ist die Blutrache primär ein paschtunisches Phänomen, welches eng mit dem Konzept der Ehre verbunden ist. Das Versäumnis Vergeltung zu leisten wird als Zeichen moralischer Schwäche verstanden und kann dazu führen, dass ganze Verwandtschaftsgruppen als charakterlos gesehen werden. Wenn z.B. ein Mord den Behörden gemeldet wird, oder eine finanzielle Entschädigung mit der Familie des Täters ausgehandelt wird, kann das als Schwäche interpretiert werden und als Zeichen, dass die Gruppe [Anm.: Familie, Clan, etc.] nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Ein Rechtsspruch, der im staatlichen Justizsystem bzgl. eines bestimmten Falles gefällt wurde, schließt nicht aus, dass in dem Fall trotzdem gewaltsam Vergeltung gesucht wird. Es kann weiterhin erwartet werden, dass die Familie des Opfers den Mörder, wenn er entlassen wird, umbringt (es sei denn es kommt zu einer Übereinkunft, in der die Fehde beigelegt wird). Die Gemeinde vor Ort würde einen Blutmord nicht als Straftat ansehen, sonder als durch die Tradition legitimiert.
Morde gehen oft auf bestehende Konflikte zurück. Prinzipiell, können Morde im Zusammenhang mit jederlei Konflikten in Blutrache enden. Jedoch kommen Blutfehden, laut LandInfo, öfter im Zusammenhang mit bestimmten Arten von Konflikten vor als mit anderen. Wenn es beispielsweise in einer bestimmten Gegend zahlreiche Landkonflikte gibt, kommt es auch dementsprechend öfter zu Blutfehden, die auf Landkonflikte zurückzuführen sind. Laut Konfliktanalysen, die von der „Cooperation for Peace and Unity“ (CPAU) in fünf verschiedenen Provinzen in Afghanistan durchgeführt wurden, waren Konflikte um Land und Wasser am häufigsten; Familienkonflikte (Ehe/Scheidung, häusliche Gewalt) folgten an zweiter Stelle. Laut Thomas Barfield [Anm. der Staatendokumentation: ein Afghanistan Experte der Boston University], muss die Blutrache normalerweise den Mörder bzw. Täter selbst treffen. Jedoch können unter bestimmten Umständen auch sein Bruder bzw. andere männliche Verwandte als Ersatz ins Visier genommen werden. Rache kann nicht gegen Frauen oder Kinder ausgeübt werden. Die Person, die die Rache ausübt, sollte ein enger männlicher Verwandte des Opfers sein. In Ausnahmefälle können auch angeheuerte Mörder die Rache ausführen. Im Idealfall sollte der Mord „von Mann zu Mann“, und „Angesicht zu Angesicht“ ausgeführt werden. Jedoch sind Überfälle aus dem Hinterhalt auch zulässig. Blutfehden können lang Zeit ruhen, bis die Familie des Opfers in der Lage ist die Rache auszuüben. Junge Söhne können die Verantwortung übertragen bekommen, ihren ermordeten Vater zu rächen wenn sie das Erwachsenenalter erreichen. Rache kann nach Monaten, Jahren, in manchen Fällen sogar erst nach Generationen ausgeübt werden. Laut Bericht verfügt LandInfo über keine Informationen, die darauf hindeuten würden, dass „präventive Rache“ verbreitet wäre (z.B. dass die männlichen Verwandten eines Opfers auch ermordet würden, um so zu verhindern dass die Familie den ersten Mord rächen könnte). Solche Szenarien sind laut LandInfo unwahrscheinlich, da sie das Paschtunwali verletzen würden und von örtlichen Gemeinden gegebenenfalls als inakzeptabel betrachtet würden.
Staatliche Maßnahmen zum Schutz
Korruption ist in allem Bereichen der öffentlichen Verwaltung, der Justiz und bei den Sicherheitsorganen nach wie vor weit verbreitet. Die Polizeikräfte sind oft in lokale Machtstrukturen eingebunden und dann nicht in der Lage, unparteiliche Untersuchungen durchzuführen. Obwohl sich Pakistan in seiner Verfassung und auf der Ebene einfacher Gesetze grundsätzlich zur Schutzpflicht bekennt, fällt es dem Staat angesichts schwach ausgebildeter rechtsstaatlicher Strukturen und der geringen Verankerung des Rechtsstaatsgedankens in der Gesellschaft schwer, rechtsstaatliche Entscheidungen und damit auch der Schutzpflicht Geltung zu verschaffen. Es hängt somit im Einzelfall vom Engagement einzelner Polizisten, Richter und sonstiger Entscheidungsträger ab, ob „der Staat“ der Verpflichtung zum Schutz seiner Bürger nachkommen kann. Eine Kultur der Straflosigkeit sowohl auf offizieller als auch auf inoffizieller Ebene wird beklagt. Gesetzeshüter handelten oft ungestraft und würden für Menschenrechtsverletzungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
(Quelle: Staatendokumentation, Anfragebeantwortung 19.01.2018, PAKISTAN, Stammeskonflikte, Blutrache und Landkonflikte unter Paschtunen in Khyber Pakhtunkhwa; Durchsetzung staatlicher Schutzpflichten)
Bewegungsfreiheit
Das Gesetz gewährleistet die Bewegungsfreiheit im Land sowie uneingeschränkte internationale Reisen, Emigration und Repatriierung, doch die Regierung beschränkt diese Rechte. Die Regierung schränkt den Zugang zu bestimmten Gebieten der [ehem.] FATA, Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan aufgrund von Sicherheitsbedenken ein. Die Regierung verbietet Reisen nach Israel. Regierungsangestellte und Studenten müssen vor Reisen ins Ausland ein „no objection certificate“ einholen, doch von Studenten wird dies selten verlangt. Personen auf der Exit Control List ist es verboten, ins Ausland zu reisen. Diese Liste soll Personen, welche in staatsfeindliche Aktivitäten und Terrorismus involviert sind oder in Verbindung zu einer verbotenen Organisation stehen bzw. jene gegen die ein Kriminalverfahren vor höheren Gerichten anhängig haben, von Auslandsreisen abhalten (USDOS 20.4.2018).
Die Bewegungsfreiheit in Pakistan wurde in den Jahren 2016 und 2017 häufig aufgrund einer Reihe von Faktoren wie militärische Operationen und Naturkatastrophen eingeschränkt. Auch blieben Reisebewegungen von Frauen, Transgenderpersonen und bestimmten religiösen Minderheiten im Laufe des Jahres gefährlich. Der Zugang zu Gebieten in den [ehem.] FATA, wo die Armee Operationen gegen Aufständische durchführte, war eingeschränkt (HRCP 4.2018; vgl. HRCP 5.2017).
In den Städten, vor allem den Großstädten Rawalpindi, Lahore, Karatschi, Peshawar oder Multan, leben potentiell Verfolgte aufgrund der dortigen Anonymität sicherer als auf dem Land. Selbst Personen, die wegen Mordes von der Polizei gesucht werden, können in einer Stadt, die weit genug von ihrem Heimatort entfernt liegt, unbehelligt leben (AA 20.10.2017).
Auszuschließen ist eine innerstaatliche Fluchtalternative für Personen, die von nicht-staatlichen Akteuren (vor allem terroristischen Gruppierungen) verfolgt werden und bei einer strafrechtlichen Verfolgung durch die Blasphemiegesetze. Letzteres kann analog auch auf andere ähnliche Sachverhalte und Verfolgungsgründe wie z.B. sexuelle Orientierung angewandt werden (ÖB 10.2017). Männer können bei privaten Disputen oder der Gefährdung, Opfer eines Ehrverbrechens zu werden, also in Fällen, wo nur durch Privatpersonen eine Verfolgung besteht, grundsätzlich meist in andere Gebiete Pakistans ausweichen. Es kommt allerdings auf die Vernetzung und den Einfluss der verfolgenden Person bzw. Personengruppen an. Wenn ein ganzer Stamm eine Person aufgrund einer Ehrverletzung verfolgt, wird er, laut Aussage von HRCP, auch „in New York gefunden“ werden. Es ist somit der individuelle Einzelfall zu berücksichtigen (BAA 6.2013).
Allein schon aufgrund der Größe des Landes bestehen innerstaatliche Fluchtalternativen in humanitären Notfällen und im Falle von Kampfhandlungen (neben den vergleichsweise sicheren Provinzen Punjab und Sindh etwa auch IDP-Camps in Jalozai, Khyber Pakhtunkhwa, und New Durrani, ehem. FATA), allerdings stellt sich die humanitäre Lage in Bezug auf IDPs Berichten der in diesem Bereich tätigen Hilfsorganisationen zufolge als besorgniserregend dar (ÖB 10.2017).
Für Angehörige aller Gruppen gilt, dass ein Ausweichen in der Regel das Aufgeben der wirtschaftlichen Basis mit sich bringt (AA 20.10.2017). Grundsätzlich ist eine Einzelfallprüfung für die Feststellung des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative notwendig (ÖB 10.2017).
(Quelle: BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 15.11.2018)
2. Beweiswürdigung:
Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf den Verwaltungsverfahrensakt des BFA, den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes und das Ergebnis der durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt und umfassen im Wesentlichen die Niederschriften und die Verhandlungsschrift zur Befragung des Beschwerdeführers, die schriftlichen Stellungnahmen des Beschwerdeführers im Zuge des Beschwerdeverfahrens und die von ihm vorgelegten Bescheinigungsmittel sowie die vom Bundesverwaltungsgericht beigeschafften und dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebrachten Länderinformationen.
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen in Pakistan (1.1)
Die Angaben des Beschwerdeführers zu seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, die er im Zuge des Verfahrens vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, waren auf Grund seiner Orts- und Sprachkenntnisse nicht zu bezweifeln. Mangels Vorlage von unbedenklichen Identitätsdokumenten im Original konnte seine Identität jedoch nicht abschließend festgestellt werden.
Seine Ausführungen zu seiner pakistanischen Schulbildung, zu seiner beruflichen Tätigkeit in Pakistan zu seinen Familienangehörigen in Pakistan und seiner Ausreise aus Pakistan waren kohärent, schlüssig und widerspruchsfrei, sodass auch dieses Vorbringen als glaubhaft erachtet werden konnte.
2.2 Zu seinen Lebensverhältnissen in Österreich und zu seinem Gesundheitszustand (1.2 und 1.3)
Seine Angaben zu seinem Aufenthalt in Österreich, zu seiner aktuellen Lebenssituation, zu seiner Einstellungszusage, zu seinen Mitgliedschaften in verschiedenen Sportvereinen, zu seinem nunmehrigen Lebensmittelpunkt und zu seinen sozialen Kontakten und Freundschaften erwiesen sich als detailreich und widerspruchsfrei, sie wurden durch die von ihm vorgelegten Bescheinigungen zum Nachweis seiner bereits gesetzten Integrationsschritte (Einstellungszusage, Unterstützungsschreiben, Bestätigung Informatikkurs, Deutschzertifikate) auch belegt und stehen auch im Einklang mit den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszügen aus den behördlichen Datenregistern. Er legte zum Nachweis der erfolgreich absolvierten und zertifizierten Deutschprüfung das entsprechende Zeugnis vor, verstand die ihm in der mündlichen Verhandlung ohne Dolmetscher in deutscher Sprache gestellten Fragen sofort und antwortete auf diese spontan, in freier Erzählung und verständlich, wenn auch manchmal mit Satzstellungsfehlern. Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem unverdächtigen Strafregisterauszug. Die Feststellung zu seinem Gesundheitszustand beruht auf den eigenen Angaben des Beschwerdeführers in der Verhandlung; Zweifel daran kamen nicht hervor.
2.3. Die festgestellte bestehende Gefährdung des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückkehr nach Pakistan (oben 1.3.) war aus den folgenden Gründen zu treffen:
Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz in seiner Einvernahme vor dem BFA am 11.02.2016, in seinen handschriftlichen Ausführungen seiner Beschwerde vom 16.03.2016, sowie in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 04.06.2020 unter anderem zusammengefasst damit, dass es in der Kurram Agency häufig Streitigkeiten und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen schiitischen und sunnitischen Paschtunen um Grundstücke und Ländereien gebe, die die jeweilige andere Partei im Zuge der zahlreichen Konflikte in der Kurram Agency in den letzten Jahrzehnten aufgrund von Vertreibungen und Flucht zurücklassen habe müssen. Seine eigene Familie lebe in XXXX , habe aber schon seit der Zeit seines Großvaters Grundstücke in der Nähe von XXXX . Während der Zeit der schweren Kämpfe zwischen 2007 und 2013 seien jene Grundstücke von ihnen nicht bewirtschaftet worden, danach habe sein Bruder und sein Onkel damit begonnen, diese Grundstücke zu nutzen und zu bearbeiten. Sunnitische Paschtunen, die während der schweren Konflikte ihre Ländereien in XXXX hätten zurücklassen müssen und sich zwischen XXXX und XXXX angesiedelt hätten, hätten diese Grundstücke jedoch für sich beansprucht und es sei zu einem Konflikt gekommen der sich ab 2013 über zwei Jahre erstreckt habe und im Zuge dessen sein Bruder und Onkel im Jänner 2015 bei einer gewalttägigen Auseinandersetzung getötet worden seien. Da bei den Gegnern jedoch drei Personen und damit eine Person mehr ums Leben gekommen seien, sei dem Beschwerdeführer angedroht worden, dass man den Tod des dritten Gegners entsprechend den Wertvorstellungen ihres Verhaltenskodex rächen und ihn deshalb zum Ausgleich umbringen werde. Der Beschwerdeführer habe keine weiteren Brüder und sei daher der einzige, der für die Rache in Frage komme. (NS 11.02.2016, S 7ff, VS 04.06.2020, S 8ff).
Das diesbezüglich erstatte Vorbringen des Beschwerdeführers zu den von ihm geschilderten Ereignissen ist – im hier dargestellten Umfang – nach der durchgeführten mündlichen Verhandlung glaubhaft, zumal dieses auch von ihm im Verlauf des gesamten Verfahrens von Beginn an in seinem für den vorliegenden Fall relevanten Kernbereich als im Wesentlichen widerspruchsfrei und übereinstimmend, jedoch nicht gleichlautend dargestellt wurde, sodass auch ein einstudierter Vortrag auszuschließen ist. Der Beschwerdeführer legte seine Fluchtgründe nicht lediglich in wenigen Sätzen dar, sondern er war sowohl in seinen handschriftlichen Beschwerdeausführungen als auch in der mündlichen Verhandlung dazu in der Lage, von sich aus auch ausführlich Nebenumstände und Zusammenhänge in freier Erzählweise zu schildern, beispielsweise wie sein Onkel und sein Bruder zunächst begonnen hatten, ab 2013 die Felder wieder zu bewirtschaften und Weizen und Reis anzubauen und wie sich die Streitigkeiten über längere Zeit entwickelten und Versuche seiner Familie, den Streit zu schlichten, erfolglos blieben. (NS 11.02.2016, S 8, 9, 10; handschriftliche Beschwerdeausführungen 16.03.2016 (AS 349-361; Übersetzung OZ 3); VS 04.06.2020, S 8, 9). Auch sein Vorbringen, dass von den Gegnern zunächst versucht worden sei, seine Familie zunächst einfach durch Zerstörung der Ernte, Brandlegung und Drohungen von den Grundstücken zu vertreiben, ohne gleich zu den äußersten Maßnahmen zu greifen und seine Angehörigen sofort umzubringen, erweist sich entgegen der Argumentation des BFA im angefochtenen Bescheid durchaus als schlüssig und lebensnah, zumal auch im allgemeinen Streitigkeiten oft über Jahre andauern können, ehe sie eskalieren. Ebenso schlüssig ist die Argumentation des Beschwerdeführers, dass seine Familie die Grundstücke jedoch nicht habe aufgeben wollen, weil sie einerseits bereits von den Vorfahren bearbeitet wurden und zudem eine Geldquelle dargestellt haben (NS 11.02.2016, S 10; handschriftliche Beschwerdeausführungen 16.03.2016 (AS 349-361); Übersetzung OZ 3). Der Beschwerdeführer konnte auch schlüssig erklären, weshalb ausgerechnet er im konkreten Fall von der Blutrache bedroht ist. So legte er nachvollziehbar dar, dass bei seiner Familie bisher zwei, bei den Gegnern jedoch insgesamt drei Personen und damit eine Person mehr bei diesem Konflikt ums Leben gekommen seien, und deshalb dem Beschwerdeführer angedroht worden sei, dass man den Tod des dritten Gegners entsprechend den Wertvorstellungen ihres Verhaltenskodex rächen und ihn deshalb zum Ausgleich umbringen werde. Der Beschwerdeführer habe keine weiteren Brüder und sei daher der einzige, der für die Rache in Frage komme. (NS 11.02.2016, S 7ff, VS 04.06.2020, S 8ff). Dieses Vorbringen steht auch mit der Berichtslage zum Ehrenkodex der Paschtunen, zu Blutfehden, paschtunischem Gewohnheitsrecht und traditioneller Konfliktresolution (siehe oben 1.4, Staatendokumentation, Anfragebeantwortung 19.01.2018) im Einklang.
Bei Berücksichtigung sämtlicher soeben dargelegter Umstände des vorliegenden Falles gelangt das Bundesverwaltungsgericht, welches sich zudem in der mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck verschafft hat, zu der Überzeugung, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen glaubhaft ist.
2.4 Die getroffenen Feststellungen zu den Verhältnissen in Pakistan (oben 1.4.) beruhen auf dem aktuellsten Länderinformationsblättern des BFA zu Pakistan vom Mai 2019, Stand August 2019 und auch vom November 2018 sowie auf dem zitierten Dossier der Staatendokumentation des BFA und der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des BFA. Die herangezogenen Berichte stammen nicht nur von staatlichen sondern auch von nichtstaatlichen Einrichtungen und internationalen Medien. Angesichts der Ausgewogenheit und Seriosität der genannten Quellen sowie der Plausibilität der weitestgehend übereinstimmenden Aussagen darin, besteht für das Bundesverwaltungsgericht daher kein Grund, an der Richtigkeit der Länderberichte zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1 Voraussetzung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ist die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (VwGH 02.09.2015, Ra 2015/19/0143).
3.2 Zentraler Aspekt der in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074).
3.3 Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen. (VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009)
3.4 Der Verwaltungsgerichtshof hat ausgeführt, dass die völlige Unverhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen, die wegen eines Verstoßes gegen bestimmte im Herkunftsstaat gesetzlich verbindliche Moralvorschriften drohen, darauf hindeuten kann, dass diese Maßnahmen an eine dem Zuwiderhandeln gegen das Gebot vermeintlich zu Grunde liegende, dem Betroffenen unterstellte Abweichung von der ihm von Staats wegen vorgeschriebenen Gesinnung anknüpfen. (17.09.2003, 99/20/0126 mwN). Als politisch kann dabei alles qualifiziert werden, was für den Staat sowie für die Gestaltung bzw. Erhaltung der Ordnung des Gemeinwesens und des geordneten Zusammenlebens der menschlichen Individuen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist (VwGH 12.09.2002, 2001/20/0310 mwN; VfGH 12.12.2013, U616/2013).
Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt wird der Beschwerdeführer aus Rache für Taten, die nicht er selbst sondern sein verstorbener Bruder begangen hat, von den Angehörigen der Todesopfer des Bruders, die zudem einem anderen Stamm und einer anderen Glaubensrichtung angehören verfolgt. Die Verfolgungsgefahr besteht ausschließlich aufgrund der Familienzugehörigkeit des Beschwerdeführers zu seinem Bruder. Geht man im Allgemeinen von der Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Pakistan aus, besteht jedoch eine solche im speziellen Falle des Beschwerdeführers nicht; die Verfolger sind in Befolgung der Wertvorstellungen des Pashtunwali weiterhin ernsthaft daran interessiert, Rache an dem ihnen namentlich bekannten Beschwerdeführer zu üben und diesen umzubringen, weshalb vor dem Hintergrund der getroffenen Länderfeststellungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass für den derart exponierten Beschwerdeführer auch außerhalb seiner Heimatregion eine erhebliche Verfolgungsgefahr besteht, zumal es nach den Wertvorstellungen der Gegner eine Schande für diese und ein Zeichen von Schwäche wäre, sich nicht am Beschwerdeführer zu rächen. Sich versteckt zu halten, ist dem Beschwerdeführer auf Dauer nicht zumutbar. Es wäre dem Beschwerdeführer daher nicht möglich, sich dauerhaft verborgen zu halten und sich der Suche zu entziehen. Geht man des Weiteren auch im Allgemeinen von einer generellen Schutzfähigkeit des pakistanischen Staates aus, ergibt sich jedoch im speziellen Fall des Beschwerdeführers, dass dieser in ganz exzeptioneller Weise von seinen Verfolgern verfolgt wird, weshalb eine Schutzgewährung des pakistanischen Staates aufgrund der besonderen Umstände in diesem Fall jedenfalls ausscheidet.
Es ist daher objektiv nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer aus Furcht vor ungerechtfertigten Eingriffen von erheblicher Intensität aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Grund, nämlich aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe seiner Familie, nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes seines Herkunftsstaates zu bedienen.
3.5. Im Verfahren haben sich schließlich keine Hinweise auf die in Artikel 1 Abschnitt C und F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- und Ausschlussgründe ergeben.
3.6. Im vorliegenden Fall sind somit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gegeben.
3.7. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.8. Da der verfahrensgegenständliche Antrag auf internationalen Schutz vor dem 15.11.2015 gestellt wurde, kommt dem Beschwerdeführer das dauernde Einreise- und Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs 1 Z 15 AsylG 2005 idF vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl I Nr 24/2016 zu (§ 75 Abs 24 AsylG 2005).
Revision
3.9. Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da die für den vorliegenden Fall relevante Rechtslage durch die zitierte Rechtsprechung geklärt ist.
3.10. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
asylrechtlich relevante Verfolgung Blutrache Flüchtlingseigenschaft persönlicher EindruckEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:L516.2123377.1.00Im RIS seit
15.01.2021Zuletzt aktualisiert am
15.01.2021