Entscheidungsdatum
29.07.2020Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L510 2218043-1/37E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.03.2019, Zl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.05.2020, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrenshergang
1. Die beschwerdeführende Partei (bP) stellte nach legaler Einreise in das Bundesgebiet am 04.02.2017 am 03.03.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Zuge ihrer Erstbefragung am 03.03.2017 gab die bP zum Fluchtgrund an, dass die politische Situation in XXXX sehr gespannt sei. Die türkische Armee durchsuche jede Wohnung willkürlich Tag und Nacht. Sie würden Menschen ohne Vorwarnung und ohne Grund verhaften und sie würden kurdische und andere Minderheiten verfolgen. Sie seien jeglichen Repressalien der türkischen Regierung ausgesetzt und das seit Jahren. Sie sei Mitglied der kurdischen Partei „Demokratie und Versöhnung“. Aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit der alevitischen Minderheit würden sie ernsthaft verfolgt und bestraft. Bei ihrer Rückkehr würde sie sofort verhaftet werden und ins Gefängnis gesteckt. Sie wäre sicher der Folter ausgesetzt.
Die niederschriftliche Einvernahme beim BFA am 27.09.2018 gestaltete sich im Wesentlichen folgend:
„…
LA: Wie ist die Verständigung mit dem Dolmetscher. Haben Sie dazu Einwände?
VP: Ich habe keinen Einwand, die Verständigung ist sehr gut.
LA: Welche Sprachen sprechen Sie?
VP: Türkisch ist meine Muttersprache, ich spreche noch Kurdisch (Zazaki), etwas Deutsch.
…
LA: Wie geht es Ihnen gesundheitlich, nehmen Sie Medikamente, sind Sie in ärztlicher Behandlung oder haben Sie Beschwerden?
VP: Ich bin gesund. Ich bin nicht in ärztlicher Behandlung und nehme auch keine Medikamente ein.
LA: Werden Sie im Verfahren von jemanden vertreten oder besteht für jemanden eine Zustellvollmacht?
VP: Ja, Frau XXXX ist meine Vertretung.
Anmerkung: Vollmacht liegt im Akt auf.
LA: Fühlen Sie sich psychisch und physisch in der Lage, die gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten?
VP: Ja
LA: Gibt es Gründe, die gegen eine Befragung am heutigen Tage sprechen?
VP: Nein
LA: Liegen Befangenheitsgründe oder sonstigen Einwände gegen eine der anwesenden Personen vor?
VP: Nein
LA: Stimmen die Angaben, die Sie in der Erstbefragung und den Einvernahmen gemacht haben, wurde Ihnen die Erstbefragung korrekt rückübersetz? Können wir die Erstbefragung als Basis für Ihre jetzige Asyleinvernahme heranziehen?
VP: Ja. Ich habe die Wahrheit gesagt und die Angaben stimmen. Die Erstbefragung wurde mir auch korrekt rückübersetzt.
LA: Wie heißen Sie, bitte nennen Sie Ihren richtigen Familiennamen und Vornamen sowie etwaige frühere Namen auch Aliasnamen etc., sowie Ihr Geburtsdatum und Geburtsort?
VP: Ich heiße mit FN XXXX (Türkei) geboren.
LA: Können Sie entsprechende identitätsbezeugende Dokumente vorlegen wie z.B. Reisepass oder sonstige ID-Ausweise?
VP: Türkischer Reisepass mit der Nr. XXXX , ausgestellt auf XXXX , ausgestellt am XXXX , abgelaufen am XXXX . Nachgefragt gebe ich, dass es ein Dienstpass ist.
Türkischer Personalausweis im Original
Anmerkung: Ausweis + RP liegen im Original im Akt auf.
LA: Wer hat Ihnen den Dienstpass ausgestellt?
VP: Ich habe über die Eigenschaften dieses Passes keine Informationen. Mein Bruder hat durch die Bezahlung von 4.000 Euro beschafft. Mit dem Pass kann man ausreisen.
LA: Wo ist Ihr Bruder?
VP: Ich musste ausreisen. Mein Bruder hat in XXXX kontaktiert den Vorsitzenden kontaktiert. Der Vorsitzende hat veranlasst, dass ich einen Dienstpass bekomme. Gegen diesen Vorsitzenden gibt es deswegen ein Verfahren, er wurde angezeigt, weil er mir den Pass ausgestellt hat. Mit diesem Dienstpass bin ich ausgereist. Mein Bruder lebt in Österreich. Diesbezüglich werde ich auch Beweismittel vorlegen.
LA: Welche Beweismittel können Sie noch vorlegen?
VP: Mitgliedschaftsbestätigung des Alevitischen Vereins vom 25.9.2018 (im Original)
Bestätigung
Bestätigung einer Mitgliedschaft zur kurdischen Partei DBP in Kopie
Einvernahmeprotokoll der Polizei vom XXXX in Kopie. Befragte gebe ich an, dass mein Anwalt mir das Protokoll übermittelt hat. Ich wurde als Beschuldigter einvernommen. Ich wurde beschuldigt, dass ich eine Terrororganisation (PKK/KCK) unterstützte.
Zeitungsbericht XXXX , wo mein Name hervorgeht
Zeitungsbericht Zeitung XXXX , v.22.10.2016 wo auch mein Name steht
Zeitungsbericht XXXX wo auch mein Name steht
Div. Zeitungsberichte
Foto von 5 kurdischen Kämpfern bei deren Bestattung
Foto einer Demo v. Oktober 2014.
Div. Fotos aus dem Jahr 2014 und 2015
Plakat über d. Jahrestag der Verbrennung der Aleviten in der Stadt Sivas. Ich habe dort XXXX am XXXX als Vertreter der kurdischen Aleviten eine Rede gehalten.
Div. VHS Deutschkursbestätigungen
Ich bin Journalist bei der Zeitung XXXX und lege einen Bericht in der Zeitung XXXX vor (Seite 10) wo steht, dass mein Haus durchsucht wurde.
Zeitungsartikel der Zeitung XXXX
Anmerkung der Vertreterin:
Wir werden die Asylbescheide der im selben Verfahren angeklagten Personen von Deutschland erhalten sowie weitere Gerichtsakte vorlegen, sowie der englischsprachige Artikel. Wir werden diese Beweismittel spätestens bis 12. Oktober 2018 vorlegen.
LA: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?
VP: Ich bin türkischer Staatsangehöriger.
LA: Welcher Volksgruppe gehören Sie an?
VP: Kurde.
LA: Haben Sie wegen Ihrer Volksgruppe in der Türkei Probleme?
VP: Ja, weil ich Kurde und Alevit bin habe ich Probleme in der Türkei gehabt. Ich werde es bei den Fluchtgründen erzählen.
LA: Welche Religionszugehörigkeit haben Sie?
VP: Ich bin Alevit.
LA: Welche Ausbildungen haben Sie absolviert?
VP: Ich habe die Matura abgeschlossen.
LA: Wie haben Sie in der Türkei Ihren Lebensunterhalt bestritten?
VP: Ich hatte ein Cafehaus. Als ich in Polizeihaft war, wurde mein Cafehaus von der Polizei zerstört. Ich konnte das Geschäft nicht mehr führen und bin danach ausgereist.
LA: Wann konkret hat die Polizei Ihr Cafehaus zerstört?
VP: Ich war v. XXXX in Haft. Währenddessen hat die Polizei mein Caféhaus zerstört.
LA: Wo konkret haben Sie vor Ihrer Ausreise in der Türkei gewohnt, nennen Sie die konkrete Adresse?
VP: In XXXX .
LA: Wie waren Ihre Wohnverhältnisse, war es eine Wohnung, Haus, etc.?
VP: Die Wohnung gehört meiner Mutter. Ich habe dort seit dem Jahr 2012 gelebt. Vorher war ich 20 Jahre in Istanbul aufhältig. Ich habe dort in XXXX in der Wohnung alleine gewohnt.
LA: Was ist nun mit ihrer Whg?
VP: Ja, die Wohnung gehört noch meiner Mutter.
LA: Wie lautet Ihr Familienstand?
VP: Ich bin verheiratet.
LA: Wie heißt Ihre Ehefrau?
VP: XXXX , sie ist XXXX geboren . Sie ist Lehrerin und lebt in XXXX an der o.a. Adresse. Sie übt den Beruf noch aus und unterrichtet. Wir haben standesamtlich und traditionell am XXXX geheiratet. Meine Ehefrau war im Februar 2018 für 20 Tage hier in Wien auf Besuch. Ich war davor schon verheiratet. Mit meiner Ex-Frau habe ich 2 Kinder.
LA: Haben Sie Dokumente, wie z.B: eine Heiratsurkunde ?
VP: Ich werde die Kopien bis spätestens 12. Oktober 2018 vorlegen.
LA: Haben Sie Kinder, auch uneheliche oder adoptierte Kinder bzw. Sorgepflichten?
VP: Ich habe aus erster Ehe 2 Töchter. Sie leben in Istanbul. Sie heißen XXXX . Meine Töchter leben jetzt bei meiner Ex-Frau. Nachgefragt gebe ich an, dass ich keine Alimente bezahlen muss. Meine Töchter leben seit Juli 2015 bei der Mutter, vorher haben meine Töchter bei mir gelebt.
LA: Wer hat derzeit die Obsorge über Ihre Töchter?
VP: Ich habe meiner Ex-Frau die Obsorge über meine Kinder anvertraut.
LA: Haben Sie entsprechende Dokumente?
VP: Nein.
LA: Haben Sie noch Angehörige in der Türkei?
VP: Meine drei Brüder und zwei Schwester leben in der Türkei in der Stadt XXXX .
Ich habe noch 2 Brüder, die in Österreich leben. Meine Mutter lebt in XXXX , mein Vater ist verstorben. Ich habe viele Verwandte, aber nicht so viel Kontakt zu ihnen.
LA: Welche Religionszugehörigkeit bzw. Volksgruppenzugehörigkeit haben Ihre Angehörigen (Brüder, Mutter)
VP: Sie sind auch Alewiten und Kurden.
LA: Haben Sie Kontakt mit Ihren Kindern und Ehefrau?
VP: Ja. Nachgefragt gebe ich an, dass meine Ehefrau auch Alewit und Kurdin ist.
LA: Wie geht es Ihrer Ehefrau, worüber sprechen Sie?
VP: Es geht Ihr dzt. gut. Nach meiner Ausreise, gab es viele Polizeieinsätze bei mir zu Hause. Deswegen hat Sie bei Ihrer Mutter gelebt. Seit einem Monat lebt sie wieder in unserer Wohnung.
LA: Gab es Probleme, seit Ihre Frau wieder in der Whg. lebt?
VP. Bisher nicht. Nachgefragt gebe ich an, dass es keine Vorfälle gab. Meine Frau wurde permanent aufgesucht und es wurde nach mir gefragt. Sie haben auch Hausdurchsuchungen gemacht. Darauf ist meine Frau sechs Monate lang zu Ihrer Mutter gezogen. Seit einem Monat wohnt Sie wieder in unserer Wohnung, bisher gab es keinen Vorfall.
LA: Nennen Sie die Personendaten Ihrer Eltern
VP: Vater: XXXX , er ist an Krankheit im Alter von 83 Jahren im Jahr 2003 gestorben. Mein Vater war Landwirt.
Mutter:
XXXX alt, sie war Landwirtin und bekommt aber keine Pension.
LA: Haben Sie Geschwister, wenn ja nennen Sie deren Personendaten?
VP: 5 Brüder und zwei Schwestern
Schwester:
XXXX alt und lebt in der Türkei, ist Hausfrau.
XXXX , lebt in der Türkei bei meiner Mutter, ist Hausfrau.
Brüder:
XXXX , lebt in der Türkei, er ist in Pension. Er war ein kleiner Beamter im Bildungsministeriumseinrichtungen.
XXXX alt und lebt in der Türkei, er ist auch in Pension, er war auch Beamter wie mein Bruder.
XXXX alt, er ist Taxifahrer XXXX
XXXX , er ist Lehrer in XXXX . Er hat die österr. Staatsbürgerschaft.
XXXX , er ist in XXXX und arbeitet bei der Firma XXXX . Er hat einen Daueraufenthalt in der EU.
LA: Haben Sie Kontakt zu Ihren Brüdern in der Türkei?
VP: ja
LA: Wie geht es Ihren Brüdern in der Türkei?
VP: Es geht Ihnen gut, sei machen sich Sorgen um mich. Sie stehen auch unter Druck wegen mir.
LA: Was konkret meinen Sie mit „Druck“
VP: Polizisten befragen Sie über meinen Aufenthaltsort. Mein Bruder der Taxifahrer wurde von der Polizei aufgefordert mit mitzuteilen, dass ich mich ergeben soll.
LA: Wann, mit wem und wie haben Sie die Türkei nun konkret verlassen
VP: Ich habe die Türkei am 14. Februar 2017 verlassen. Ich habe die Türkei legal verlassen.
LA: Gab es Kontrollen am Flughafen in der Türkei?
VP. Ja.
LA: Gab es Probleme?
VP: Nein, ich konnte ohne Probleme ausreisen. Einen Tag später gab es einen Haftbefehl gegen mich.
LA: Können Sie den Haftbefehl vorlegen?
VP: Ich versuche über einen Anwalt den Haftbefehl zu bekommen und werde den Haftbefehl vorlegen. Mein Bruder XXXX hat das gleiche Geburtsdatum wie ich wir sind Zwillinge, er ist zur türkischen Botschaft hier in Wien gegangen. Er wollte einen Zugangscode für mich bekommen, damit wir Zugang zu Gerichtsakten bekommen. Der Beamte sagte, dass gegen mich ein Haftbefehl existiert und er keinen Code ausstellen darf.
LA: Wann und wie sind Sie hier in Österreich eingereist?
VP: Ich bin legal am 14. Februar 2017 mit dem Flugzeug aus Istanbul hier in Wien eingereist.
LA: Wo wohnen Sie hier in Österreich?
VP: ich lebe mit meinem Bruder XXXX hier auf XXXX , zusammen
LA: Haben Sie Angehörige bzw. Bekannte hier in Österreich, bzw. besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zu hier in Österreich lebenden Personen? Besteht hier in Österreich ein gemeinsames Familienleben.
VP: Außer meinen Brüdern habe ich keine Angehörige hier in Österreich. In Deutschland leben meine Cousinen und Cousins. Ich bekomme Geld von meinen Brüdern. Ich möchte nicht vom Staat abhängig sein.
LA: Können Sie sich auf die gestellten Fragen konzentrieren und verstehen Sie die Dolmetscher?
VP: Ja
FLUCHTGRUND:
LA: Können Sie mir sagen, warum Sie Ihre Heimat verließen und in Österreich einen Asylantrag stellen? Nennen Sie ihre konkreten und ihre individuellen Fluchtgründe dafür? Schildern Sie bitte Ihre Fluchtgründe in freier Erzählung. Nehmen Sie sich ruhig Zeit dafür. Erzählen Sie so viele Details wie möglich. Sprechen Sie bitte auch über Ihre Emotionen Gefühle usw?
VP: Ich bin Funktionär von der kurdischen Partei BDP später wurde daraus die Partei DBP. Am 14.6.2015 haben die Wahlen in der Türkei stattgefunden. Bei dieser Wahl hat unsere Partei 80 Abgeordnete herausgebracht. Der Präsident Erdogan konnte keine Alleinregierung gründen. Deswegen wurde eine Regierung gegründet und es wurden weitere Wahlen ausgesprochen. Am 3. November 2015 wurde dann eine zweite Wahl abgehalten. Wir wurden unter Druck gesetzt, damit wir bei der nächsten Wahl verlieren. Am 3. November 2015 hat er die Wahl gewonnen und eine Alleinregierung gegründet. Danach hat Erdogan als Rache uns auf jeder Ebene angegriffen. Er hat dann einen Krieg gegen die Kurden eröffnet. Es gab eine Masseninhaftierung, angefangen von unserem Vorsitzenden der Partei, bis Funktionäre. Am 15.11.2015 gab es bei mir erstmals eine Razzia von der Polizei. Ca. 1 Woche vor 15.11.2015 ist XXXX , das ist der verantwortliche der PKK in XXXX umgebracht. Ich war bei seiner Bestattung. Es war eine große Massenteilnahme an der Bestattung. Das hat d. türkische Staat nicht akzeptiert. Daraufhin gab es Razzien bei verschiedenen Funktionären, auch bei mir. Bei der Razzia haben sie mich auf den Boden geworfen und die Polizei ist nach 4 Stunden wieder gegangen. Ab dem Zeitpunkt habe ich gesehen, dass täglich ein Polizeiwagen vor der Tür steht. Sie haben mich verfolgt. Wenn ich sie gesehen habe, haben Sie mir das Zeichen gegeben, dass sie mich töten werden. Die Polizei und die Einheiten der Polizei haben Faketwitter accounts eröffnet und unsere Namen veröffentlich und gesagt, dass wir getötet gehören. Das hat eine lange Zeit angedauert. Am 11.10.2016 gab es eine große Razzia gegen kurdische Politiker in der Türkei. Es gab auch eine Razzia bei mir zu Hause. An diesem Tag wurde ich von der Polizei verprügelt. All meine elektronischen Geräte wurden beschlagnahmt. Ich wurde geschlagen und getreten. Am nächsten Tag musste ich zur Polizei zwecks einer Einvernahme. Von 09:00-18:00 Uhr war ich bei der Einvernahme. Danach wurde ich freigelassen. Am 22.10.2016 wurde ich von einem gepanzerten Polizeiwagen abgeholt. Sie haben mich zum Polizeikommissariat XXXX gebracht. Ich blieb 9 Tage in Haft. Am 1. Tag haben mich 20-30 Polizisten angegriffen und verprügelt. Ich wurde ein eine Zelle gesteckt. Am nächsten Tag haben sie mich von der Zelle abgeholt und mit einem Renault Toros mitgenommen. Ich möchte erwähnen, dass dieses Auto dafür bekannt ist, die Morde von JITEM (Militärgeheimdienst), mit diesem Auto durchgeführt wurden. Es ist bekannt, dass jmd. der in diese Auto einsteigt nicht mehr zurückkommt. Sie haben mich dadurch psychisch unter Druck gesetzt. Sie wollten mir das Gefühl vermitteln, dass Sie mich töten werden. Sie wollten, dass ich meine Hände auf den Rücken halte und mir Handschellen anlegen. Ich habe Widerstand geleistet und wurde verprügelt. Sie haben meinen Kopf nach unten gedrückt und mich eine halbe Stunde lang in der Stadt herumgefahren. Sie haben mich dann wieder in die Zelle gebracht. Ich habe gefragt, wer sie sind, sie sagten mir, dass sie von einer anderen Einheit sind. Ich fragte, ob Sie von JITEM sind, darauf haben sie keine Antwort gegeben. Ich wurde wieder in die Zelle gebracht. Es wurde mir vorgeworfen, dass ich die Leute XXXX gezwungen hätte, Ihre Geschäfte zu schließen, weil 13 kurdische Kämpfer um Leben gekommen waren. In Wirklichkeit hat die Bevölkerung selbst die Geschäft zugesperrt um gegen die Ermordung dieser kurdischen Kämpfer zu protestieren. Während meiner Inhaftierung wurden 140 Geschäftsbesitzer befragt, ob ich sie gezwungen hätte, ihre Geschäfte zu schließen. Es hat keiner gegen meine eine Aussage gemacht. Ich war nach diesen Ereignissen psychisch am Boden. Danach wurde der Name von der Partei von BDP auf DBP geändert. Ich habe, weil es mir psychisch so schlecht ging, nicht mehr im Vorstand sein. Ich habe mich mit meinem Anwalt beraten, er sagte mir, wenn sie mich endgültig verhaften, werde sie jedes Delikt gegen mich zur Anwendung bringen und ich werde das Tageslicht nicht mehr sehen. Diese Übergriffe und Repressalien gegen meine Person haben nicht aufgehört. Ich sah, dass es am Ende entweder Gefängnis oder Tod steht, deswegen habe ich einen Weg gesucht, die Türkei zu verlassen um mein Leben in Sicherheit zu bringen. Es ist mir psychisch so schlecht gegangen, ich bin jede Nacht in der Früh aufgewacht, denn die Razzien waren in der Früh. Viele Funktionäre der Partei, die verhaftet wurden haben Gefängnisstrafen bekommen. Die Funktionäre Ergin Dogru hat 12 Jahre Gefängnis bekommen, Deniz Kazan hat 8 Jahre bekommen. Erdal Katan hat 8 Jahre bekommen, sie haben die gleichen Funktionen wie ich gehabt. Es gibt viele, wo die Haftstrafe noch nicht bestimmt wurde. Am 15. Februar 2017 gab es dann den Haftbefehl gegen mich und andere Funktionären unserer Partei. Ich bin geflüchtet, die anderen wurden verhaftet. Es wurde ihnen vorgeworfen, dass sie eine terroristische Organisation unterstützten bzw. gründen. Dafür stehen mind. 12 Jahre Haft. 4 Leute sind geflüchtet, 2 nach Österreich 2 nach Deutschland. Die Leute in Deutschland haben bereits den Asylstatus. In Österreich stehen ich und XXXX noch im Asylverfahren. Ich möchte erwähnen, dass der türkische Staat mir vorwirft, dass sich eine terroristische Organisation unterstützte. Ich bin Mitglied und Funktionär einer legal politischen Partei. Unsere Partei setzt sich für die Rechte der kurdischen und religiösen (Alewiten) Minderheiten ein. Der Staat hat als Ziel, das zu verhindern. Er ermöglicht uns nicht, dass wir Politik machen. Zwischen Juli und September 2014 habe ich an der türkisch – syrischen Grenze zur Stadt Kobane Wache gehalten. Wir haben verhindert, dass türkische Soldaten und der IS zusammenkommen und die Stadt Kobane angreifen. Es waren tausende Menschen, die dort Wache gehalten haben. Der IS war ca. 50-60 Meter weit weg, auch das wird mir vom türkischen Staat vorgeworfen. Das bewertet der türkische Staat als Unterstützung einer Terrororganisation und Widerstand gegen türkische Soldaten. Wenn kurdische Kämpfer ums Leben gekommen sind, haben uns deren Familien gebeten, die Leichname zu holen um sie menschenwürdig zu bestatten. Auch das wird als Delikt mir vorgeworfen. Ich habe über 200 Leichname von kurdischen Kämpfern abgeholt und an deren Familien übergeben. Jeder Fall wurde registriert und mir vorgeworfen. Wir haben eine Grabstätte für kurdische Kämpfer eingerichtet, diese wurde vom türkischen Staat angegriffen. Ich habe auch verschiedene Sachen organisiert um die kurdische Muttersprache durchzuführen. Auch das wird mir vorgeworfen. In türkischen Schulen wird islamischer/sunnitischer Unterricht verpasst. Ich habe auch Aktionen durchgeführt, um zu verhindern, dass unsere Kinder einem sunnitischen Unterricht unterzogen werden. Das wird mir alles vorgeworfen. Meine Funktion in der Partei war Vorstandsmitglied. Ich hatte eine leitende Position in der Partei. Ich habe alles jetzt gesagt. Sie haben Zeitungsartikel und Beweismittel, wenn Sie dazu noch Fragen haben stehe ich jederzeit zur Verfügung. Ich könnte noch stundenlang erzählen. Alles was ich erlebt habe, würde den Rahmen hier sprengen. Es gibt in der Türkei einen Haftbefehl gegen mich. In der Türkei besteht Lebensgefahr für mich. Ich möchte noch sagen, dass ich im Jahr 1994 von der Polizei festgenommen wurde und gefoltert wurde und befürchte, dass so etwas wieder passiert. Ich möchte so was nicht mehr erleben, die so menschenunwürdig sind.
LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?
VP: Meine Fluchtgründe sind politisch, ich habe Sie zusammenfassend geschildert.
LA: Möchten Sie noch etwas zu Ihren Fluchtgründen ergänzend vorbringen?
VP: Ich werde noch Beweismittel bezüglich meiner Funktionärstätigkeit in der Partei vorlegen. Ich habe in der Partei eine leitende Funktion. Ich war seit dem Jahr 2000 aktives Mitglied der kurdischen Partei. Die Partei hat Ihre Namen in bestimmten Phasen ändern müssen um das Überleben zu sichern. Am XXXX wurde ich zum Vorstand gewählt. Meine Aufgabe war die Zusammenarbeit und Kontaktpflege mit NGO´s und anderen Parteien.
LA: Warum sind Sie nicht gleich ausgereist, sondern haben bis Februar 2017 gewartet?
VP: Ich war auf der Suche nach einem Weg, wie ich das Land verlassen kann. Zunächst bin ich von XXXX nach Istanbul gereist.
LA: Haben Sie eine Erklärung, warum Sie ohne Probleme legal ausreisen konnten, obwohl Sie angaben, dass Sie ständig unter polizeilicher Beobachtung sind, erklären Sie das?
VP: Zu dieser Zeit gab es kein Ausreiseverbot. Ich bin von Istanbul ausgereist.
LA: Wie kommt es, dass Ihre Angehörigen (Geschwister/Ehefrau, Kinder, etc.) noch in der Türkei leben?
VP: Sie werden schikaniert, es wird mir vorgeworfen, dass ich einer Terrororganisation angehöre.
LA: Wie ist der Stand des Verfahrens?
VP: Mein Anwalt darf keine Akteneinsicht nehmen. Ich weiß es nicht.
LA: Wie finanzieren Sie sich Ihr Leben hier in Österreich, gehen Sie einer Beschäftigung nach?
VP: Ich bekomme 365 Euro vom Staat. Meine Brüder unterstützen mich noch finanziell.
LA: Sind Sie in einer Organisation oder in einem Verein tätig oder Mitglied, welche Integrationsschritte haben Sie seit ihrem Aufenthalt gesetzt?
VP: Ich bin Vorsitzender der alawitischen Gemeine XXXX . Ich habe in dieser Funktion auch das Recht an der kurdischen Föderation Feykom teilzunehmen. Ich nehme hier in Österreich an Demos teil. Ich nütze meine demokratischen Rechte hier in Österreich aus.
LA: Sprechen Sie Deutsch, haben Sie bereits Kurse besucht?
VP: Ich spreche Deutsch auf B1 Niveau.
LA: Was machen Sie in Ihrer Freizeit, wie schaut Ihr Tagesablauf bzw. Alltag hier in Österreich aus, haben Sie Freunde, Bekannte etc.? Welche Integrationsschritte haben Sie bisher gesetzt?
VP: Ich treffe mich mit meinen Neffen, sie sprechen Deutsch. Besuche Sehenswürdigkeiten und Museen. Ich war in Schönbrunn, ich lese und schreibe.
LA: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft hier in Österreich vor?
VP: Ich möchte mein Deutsch verbessern und als Journalist arbeiten.
LA: Was befürchten Sie im Falle der Rückkehr in die Türkei, was würde passieren?
VP: Ich würde sofort aufgrund meines Haftbefehls bei der Einreise verhaftet und müsste ins Gefängnis. Außerdem sind die Haftbedingungen in der Türkei schrecklich.
LA: Ich beende jetzt die Befragung. Hatten Sie ausreichend die Möglichkeit Ihr Vorbringen darzustellen oder möchten Sie noch etwas hinzufügen?
VP: Nein, ich habe alles gesagt. Ich vermisse meine Kinder.
LA: Möchten Sie die Länderfeststellung zur Türkei vom 07.02.2017 letzte Kurzinformation b. 26.6.2018, im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht haben? Es wird Ihnen angeboten, dass diese seitens des Dolmetschers übersetzt wird und können Sie danach eine Stellungnahme dazu abgeben!
VP: Ja, meine Rechtsvertretung wird bis spätestens 12. Oktober 2018 eine Stellungnahme abgeben.
LA: Möchten Sie eine Ausfertigung der Niederschrift.
VP: Ja
LA: Frage an die Vertretung, haben Sie noch Fragen?
VP: Nein, ich habe keine Fragen mehr. Mein Klient hat es sehr genau und glaubhaft geschildert.
LA: Konnten Sie sich bei dieser Einvernahme konzentrieren? Haben Sie die Dolmetscherin einwandfrei verstanden?
VP: Ja.
VP: Ich werde nun die Befragung beenden, wollen Sie noch ergänzende Angaben machen?
LA: Nein
VP: Hatten Sie ausreichend die Möglichkeit Ihr Vorbringen darzustellen?
LA: Ja, alles ok.
…“
Die bP legte vor:
- Türkischer Dienstpass Nr.: XXXX , ausgestellt am XXXX , abgelaufen am
XXXX (im Original)
- Türkischer Personalausweis (im Original)
- Mitgliedschaftsbestätigung des Alevitischen Vereins vom 25.9.2018 (im Original)
- Bestätigung einer Mitgliedschaft zur kurdischen Partei DBP in Kopie
- Einvernahmeprotokoll der Polizei vom XXXX in Kopie.
- Zeitungsbericht XXXX
- Zeitungsbericht Zeitung XXXX
- Zeitungsbericht XXXX
- Zeitungsartikel der Zeitung XXXX
- Div. Zeitungsberichte
- Foto von 5 kurdischen Kämpfern bei deren Bestattung
- Foto einer Demo v. Oktober 2014.
- Div. Fotos aus dem Jahr 2014 und 2015
- Plakat über d. Jahrestag der Verbrennung der Aleviten in der Stadt Sivas
- Div. VHS Deutschkursbestätigungen
Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom BFA gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.).
Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.).
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (spruchpunkt III.).
Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.).
Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Mit Verfahrensanordnung vom selben Tag wurde der bP ein Rechtsberater von Amts wegen zur Seite gestellt.
Das BFA gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ein relevantes, die öffentlichen Interessen übersteigendes, Privat- und Familienleben würde nicht vorliegen.
2. Gegen den genannten Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Im Wesentlichen wurde dargelegt, dass die bP am 04.02.2017 legal in Österreich eingereist sei und am 03.03.2017 einen Asylantrag gestellt habe. Die bP habe Deutschkurse besucht, sei jedoch aus finanziellen Gründen nicht zur Prüfung nicht angetreten. Die bP sei wegen ihrer politischen Tätigkeit sowie wegen der Zugehörigkeit zur Minderheit der Aleviten verfolgt worden. Die bP sei aktiv bei der DBP gewesen. Der ehemalige Vorsitzende, welche derzeit im Gefängnis sei, sei auch von der BDP gekommen. Die bP sei als Journalist bei der Zeitung „ XXXX “ und Menschenrechtsverteidiger gewesen. Deshalb sei sie zur Zielscheibe geworden. Die beiden Brüder der bP würden mit ihren Familien in Österreich leben. Die Parteikollegen XXXX und XXXX hätten in Österreich Asyl bekommen. Weiters hätten die ParteikollegInnen XXXX und XXXX in Deutschland Asyl erhalten. Der ehemalige Abgeordnete XXXX habe ebenfalls in Europa Asyl erhalten und bestätige mit seinem Schreiben vom 11.04.2019, dass er die bP sehr gut kenne und wisse er, dass gegen die bP ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei. Er ersuche um positive Erledigung des Asylantrages. Die bP habe bei demokratischen Veranstaltungen und Aktivitäten teilgenommen, was auf den beigelegten Bildern zu sehen sei.
- Gedenken an das „Maras-Massaker“
- Demonstration gegen die Außenpolitik der Türkei in Zusammenhang mit den Kurden in
Syrien während des Angriffs des IS auf die Stadt Kobane
- Beerdigung der Leichen kurdischer Kämpfer
Beweis:
Mitgliedschaftsbestätigung der DBP vom 16.09.2018 (Beilage 5.),
Beschuldigtenvernehmung vom XXXX (Beilage 6),
Demonstration zum Gedenken von „Maras-Massaker“ am 19.12.2014 (Beilage 7)
Demonstration in XXXX – Solidaritätsdemonstration gegen den ISIS wegen dem Angriff auf die Stadt Kabone (Beilage 8),
Grabbesuch in XXXX am 23.10.2015 (Beilage 9),
Beerdigung der kurdischen Kämpfer (Beilag 10).
Die bP sei ehemaliger leitender Funktionär der vormaligen BDP und jetzt DBP gewesen. Erstmals habe es bei ihr am 15.11.2015 eine Razzia gegeben, weil sie mit einer sehr großen Anzahl von Volksbesuchern die Bestattung eines kurdischen Kämpfers aufgesucht habe. Seither sei sie von der Polizei psychologisch unter Druck gesetzt worden. Die bP sei am 11.10.2016 wegen dem Vorwurf der Unterstützung der Terrororganisationen in Untersuchungshaft genommen worden und sei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. An diesem Tag sei auch die Wohnung durchsucht worden und sei die bP verprügelt, geschlagen und getreten worden. Am nächsten Tag sei sie von 09:00 bis 18:00 Uhr einvernommen worden. Es seien bei der bP sowie bei Frau XXXX , ehemalige Vorsitzende der DBP und Frau XXXX , Stellvertretende Bürgermeisterin von XXXX , bei Herrn XXXX und XXXX , Frau XXXX , XXXX und beim Journalisten XXXX laut beiliegendem Zeitungsartikel Hausdurchsuchungen durchgeführt worden. Herr XXXX habe in Österreich aus den selben Gründen Asyl erhalten. Am 22.10.2016 sei die bP festgenommen und mit einem gepanzerten Polizeiwagen abgeholt worden. Sie sei von 22.10.2016 bis 31.10.2016 in Untersuchungshaft gewesen. Während der Untersuchungshaft sei die bP einen Tag vor ihrer Entlassung aus seiner Zelle abgeholt und mit einem „Toros - Militär - Fahrzeug“ herumgefahren worden. Es wurde angemerkt, dass die „Toros - Militär - Fahrzeuge“ vor mehreren Jahren von befürchteten „JITEM - Einheiten“ eingesetzt worden seien und seit langer Zeit nicht mehr im Verkehr gewesen seien. Diese Fahrzeuge seien sehr gefürchtet, weil Menschen, welche mit diesen Fahrzeugen in der Vergangenheit abgeholt worden seien, verschwunden seien. Man habe der bP das Gefühl vermitteln wollen, dass man sie töten wolle. Im Fahrzeug hätten sie der bP Handschellen anlegen wollen. Sie habe Widerstand geleistet und sei deshalb verprügelt worden. Sie hätten ihren Kopf nach unten gedrückt und sie eine halbe Stunde herumgefahren. In diesem Zustand sei man eine Weile herumgefahren und irgendwann habe einer gesagt; „Hier ist passend“. Dann habe man eine Pistole schießbereit gemacht und auf ihrem Kopf angesetzt. Dann sei der Abzug getätigt worden. Es habe sich herausgestellt, dass die Pistole leer gewesen sei. Die bP sei dann zurück in ihre Zelle gebracht worden. In weiterer Folge sei sie freigelassen worden und sollte auf freiem Fuß das Verfahren fortgeführt werden. Die bP habe ein Kaffeehaus in Zentrum von XXXX bewirtschaftet. Nach ihrer Entlassung habe sie festgestellt, dass die Türe des Geschäftes aufgebrochen und das Lokal verwüstet gewesen sei. Sie habe dadurch einen sehr großen Verlust gemacht, da sie das Lokal dem Besitzer habe übergeben müssen. Nach all diesen Vorfällen habe sich die bP für die Flucht entschieden. Gegen sie habe noch kein Auslandsverbot bestanden. Sie habe diese letzte Gelegenheit genützt und sei am 14.02.2017 ausgereist. Am nächsten Tag sein ein Haftbefehl gegen sie erlassen worden. Es habe dann mehrere Haussuchungen gegeben. Ihre Frau habe daher für eine Zeit die Wohnung verlassen und bei ihrer Mutter gewohnt.
- Zeitungsbericht der Zeitung XXXX vom 11.10.2016 (Beilage 11)
- Zeitungsbericht der Zeitung XXXX vom 23.10.2016 (Beilage 12)
- Zeitungsbericht der Zeitung XXXX vom 12.10.2016 (Beilage 13)
Die bP habe am XXXX als Redner für den alevitischen Verein XXXX teilgenommen. Sie sei seit April 2019 XXXX und habe an mehreren Demonstrationen wegen der Einschränkung der Meinungsfreiheit, Verhaftungen von Schriftstellern und Journalisten, Akedemiker und Politiker teilgenommen. Die bP habe in Österreich an antitürkischen Demonstrationen, kurdischen und alevitischen Menschenrechtskundgebungen teilgenommen. Weiters werde der Name und Familienname der bP mit vielen anderen kurdischen Politikern, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger auf einer Liste angeführt, welche als Zielscheiben angeführt würden.
Beweis:
- Mitgliedschaftsbestätigung - Alevitisches Kulturzentrum in Österreich, XXXX ,
(Beilage 14),
- Zeitungsbericht von XXXX vom 07.03.2018 (Beilage 15),
- Demonstration am 07.03.2018 (Beilage 16),
- Seminar XXXX betreffend „Sivas - Masasker“, (Beilage 17),
- Seminar - XXXX , (Beilage 18).
Es wurden allgemein gehaltene Länderberichte vorgelegt, vorwiegend die Jahre 2015 bis 2017 betreffend. Es wurde das Verfahren des BFA moniert und beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Der Beschwerde wurde ein Konvolut von 83 Seiten in türkischer Sprache beigelegt, ohne diesbezüglich ein Beweisthema darzulegen oder darzutun, worüber diese 83 Seiten in türkischer Sprache überhaupt eine Aussage treffen würden.
Die Vertretung der bP wurde seitens des BVwG aufgefordert, ein entsprechendes Beweisthema diesbezüglich darzulegen und bekannt zu geben, welche Seiten dieses Konvoluts sich konkret auf das Vorbringen der bP in ihrem Asylverfahren beziehen.
Seitens der Vertretung wurden dann 7 Seiten bezeichnet, welche für das Verfahren der bP relevant seien. Es handle sich um politische Aktivisten, deren Erlebnisse auch der bP widerfahren könnten. Diese Seiten wurden übersetzt und mit der bP in der Verhandlung erörtert.
Weiter wurden Deutschkursbestätigungen vorgelegt. Es wurden die Spruchpunkte zu den Verfahren die Personen XXXX und XXXX vorgelegt, welchen Asyl gewährt wurde. Es wurde ein Mail von Herrn XXXX in türkischer Sprache vorgelegt. Es wurde die Beschuldigtenvernehmung der bP in türkischer Sprache vorgelegt. Es wurden die in der Beschwerde angesprochenen Bilder und Zeitungsartikel vorgelegt. Es wurden weitere Unterlagen in türkischer Sprache vorgelegt. Die Vertretung der bP wurde seitens des BVwG ersucht darzulegen, worum es in diesen Unterlagen geht. Da keine brauchbare Antwort erfolgte, wurden diese Unterlagen übersetzt und in weiterer Folge mit der bP in der Verhandlung erörtert.
Seitens des BVwG wurden die Verfahrensakte der Personen XXXX und XXXX vom BFA angefordert und eingesehen. Die Verfahren dieser Personen wurden mit der bP in der Verhandlung erörtert. Das Mail von Herrn XXXX wurde einer Übersetzung zugeführt und mit der bP in der Verhandlung erörtert.
3. Mit Schriftsatz vom 08.01.2020 wurde ein Fristsetzungsantrag eingebracht. Weiter wurde ein Artikel eines Kurden vorgelegt, welcher in der Türkei wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation angeklagt wurde.
Mit verfahrensleitender Anordnung des VwGH vom 27.01.2020, Zl. Fr 2020/01/0003-4, wurde dem BVwG eine Frist von 3 Monaten bis 04.05.2020 für die Entscheidung im gegenständlichen Verfahren zuerkannt. Aufgrund der Corona-Gesetzgebung in weiter Folge, ergab sich als Fristende der 03.08.2020.
4. Am 14.05.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit der bP sowie im Beisein ihres bevollmächtigten Vertreters eine Verhandlung durch. Das BFA blieb entschuldigt fern.
Mit der Ladung wurde die beschwerdeführende Partei auch umfassend auf ihre Mitwirkungsverpflichtung im Beschwerdeverfahren hingewiesen und sie zudem auch konkret aufgefordert, insbesondere ihre persönlichen Fluchtgründe und sonstigen Rückkehrbefürchtungen durch geeignete Unterlagen bzw. Bescheinigungsmittel glaubhaft zu machen, wobei eine demonstrative Aufzählung von grundsätzlich als geeignet erscheinenden Unterlagen erfolgte.
Zugleich mit der Ladung wurden der beschwerdeführenden Partei ergänzend Berichte zur aktuellen Lage in der Türkei übermittelt bzw. namhaft gemacht, welche das BVwG in die Entscheidung miteinbezieht. Eine schriftliche Stellungnahmefrist bis zum Verhandlungstermin oder eine Stellungnahmemöglichkeit in der Verhandlung wurden dazu eingeräumt. Eine schriftliche Stellungnahme wurde nicht abgegeben und wurde auch in der mündlichen Verhandlung den Berichten nicht entgegen getreten.
5. Mit Schriftsatz der Vertretung der bP vom 15.05.2020 wurden Urkunden in türkischer Sprache vorgelegt, welche anhängige Verfahren gegen die bP in der Türkei beweisen würden. Weiter wurde dargelegt, dass keine Bestätigung über einen bestehenden Haftbefehl vorgelegt werden könne. Auch die Herren XXXX und XXXX hätten in ihren Verfahren keinen Haftbefehl vorlegen können. Die bP wurde seitens des BVwG aufgefordert darzulegen um welche Verfahren es sich hierbei handeln würde und inwiefern diese Verfahren Asylrelevanz im Verfahren entfalten würden. Mit Schreiben der Vertretung von 28.05.2020 wurde dargelegt, dass es sich um zwei Verfahren aufgrund der politischen Aktivitäten der bP in der Türkei handeln würde.
6. Mit Mail vom 03.07.2020 erfolgte eine Mitteilung der Vertretung an das BVwG, dass die Akten in Bezug auf die Personen XXXX und XXXX seitens des BFA benötigt werden würden. Es wurde die Rückstellung der Akten beantragt.
Laut Telefonat mit dem BFA vom 17.07.2020 wurde bestätigt, dass die Akten seitens des BFA derzeit nicht benötigt werden. Auch seitens der Vertretung habe es beim BFA keine Anfrage gegeben. Im Bedarfsfall würden die Akten angefordert werden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1. Zur Person der beschwerdeführenden Partei:
Die Identität der bP steht fest. Sie führt den im Spruch genannten Namen und das dort angeführte Geburtsdatum. Die bP ist Staatsangehöriger der Türkei, gehört der Volksgruppe der Kurden an und ist alevitischen Glaubens.
Sie kommt aus XXXX ( XXXX ) und betrieb dort von 2011 bis 2017 ein Kaffeehaus, wovon sie ihren Lebensunterhalt bestritt. Sie lebte im Elternhaus. Zuvor lebte sie von 1994 bis 2010 in Istanbul. Die bP hat den Beruf Koch erlernt, hat jedoch diesbezüglich keine schulische Ausbildung gemacht. Die bP war Mitglied der Partei BDP, später DBP. Von 2013 bis 2015 übte die bP in der Provinz die Funktion des stellvertretenden Vorsitzenden aus. Ab Anfang 2016 war die bP einfaches Mitglied der Partei. Die bP hatte keine öffentlichen Ämter inne. Die bP schrieb auch Berichte für die Wochenzeitung „ XXXX “. Darin ging es um Nachrichten von XXXX . Diese Zeitung wurde in Istanbul gedruckt und herausgegeben. Für die Verteilung in XXXX waren sie zu Dritt zuständig und auch an der verkauften Menge umsatzbeteiligt.
Ihre Gattin ist Lehrerin und lebt in XXXX im Elternhaus der bP, wo auch die bP wohnhaft war. Mit ihrer Ex-Frau hat die bP zwei Töchter (14 und 20 Jahre alt), welche in Istanbul leben. Die Obsorge obliegt der Ex-Frau. Die bP muss für ihre Töchter offiziell keine Alimente zahlen, fühlt sich jedoch moralisch dazu verpflichtet, für ihre Töchter zu sorgen.
Ihre Mutter, drei Brüder und zwei Schwestern der bP leben in XXXX . Die Schwestern sind Hausfrauen, zwei Brüder waren Beamte und sind jetzt in Pension, ein Bruder hat ein Taxiunternehmen. Die ältere Schwester ist verheiratet und lebt in einem eigenen Haushalt. Die zweite Schwester lebt gemeinsam mit der Mutter in der zweiten Wohnung im Elternhaus. Die bP hat Kontakt zu ihren Verwandten, welchen es gut geht. Ihr Vater ist bereits verstorben. Sie hat viele Verwandte in XXXX . Ihre Verwandten und ihre Gattin sind auch Aleviten und Kurden.
Aktuell liegen keine relevanten behandlungsbedürftigen Krankheiten vor.
Sie ist zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes in Österreich auf staatliche Zuwendungen angewiesen. Die bP legte Bestätigungen über die Teilnahme an Deutschkursen vor. Abgelegte Deutschprüfungen wurden nicht nachgewiesen. Die bP kann sich in deutscher Sprache verständigen. Strafrechtliche Verurteilungen liegen in Österreich nicht vor. Verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen sind nicht aktenkundig.
In Österreich leben 2 Brüder der bP. Ihr älterer Bruder lebt seit 32 Jahren in Österreich und ist als Lehrer tätig. Ihr jüngerer Bruder ist 43 Jahre alt und bei XXXX als Techniker seit 20 Jahren beschäftigt. Die bP wird von ihren Brüdern finanziell unterstützt. Sie lebt mit ihrem jüngeren Bruder in einem gemeinsamen Haushalt. Darüber hinaus besteht kein besonderes Abhängigkeitsverhältnis.
Die bP besucht in Österreich Museen und ist stellvertretender Obmann des alevitischen Kulturvereins XXXX . Für den Verein organisiert die bP Kurse, welche sie jedoch nicht selbst abhält. Es handelt sich um alevitische Gebetskurse auf Kurdisch und um die Erlernung eines türkischen Zupfinstrumentes. Es werden auch Gedenkabende abgehalten um den alevitischen Glauben bekannt zu machen. Die bP hat über einen alevitischen Sender Aktivitäten gegen „Corona“ durchgeführt. Es ging um die Unterstützung von Personen in schwierigen Situationen während der Corona Pandemie. Die bP nimmt an Demonstrationen gegen Ungerechtigkeiten in der Türkei teil, wie sie dies auch schon in der Türkei gemacht hat.
1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
Ein Haftbefehl gegen die bP in der Türkei besteht nicht. In der Türkei werden in Bezug auf die bP Ermittlungen wegen Propagandaführung für die PKK geführt und sind zwei Verfahren anhängig. Diesbezüglich wurde die bP auch in der Türkei einvernommen. Die bP nahm an der Bestattung von kurdischen Kämpfern teil. Bei der bP hat es Hausdurchsuchungen gegeben. Die bP wird in vorgelegten Zeitungsartikeln namentlich genannt, in der Zeitung „ XXXX “ wurde berichtet, dass es bei der bP eine Hausdurchsuchung gegeben hat. Das von der bP betriebene Kaffeehaus wurde beschädigt, wobei der bP nicht bekannt ist, wer diese Beschädigungen verursacht hat. Die bP betrieb dieses Kaffeehaus auch noch nach den verursachten Beschädigungen weiter.
Die Darlegungen der bP über ihre 9 Tage lange Anhaltung und die im Zuge dessen geschilderten Erlebnisse werden den Feststellungen im gegenständlichen Verfahren nicht zu Grunde gelegt. Gleiches gilt für die Behauptungen, während den Hausdurchsuchungen misshandelt worden zu sein.
Die bP hielt in Österreich XXXX eine Rede XXXX .
Die bP ist im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat, konkret ihre Herkunftsregion XXXX , nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer glaubhaften, asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder einer realen Gefahr von Leib und/oder Leben ausgesetzt.
1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlamentsund Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).
Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischerweise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die ZehnProzent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem imamoglu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019, vgl. Standard 23.6.2019). imamoglu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yildirim, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdogan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass
die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard
1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta§, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für imamoglu betonte (NZZ 23.6.2019).
Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen