TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/13 W117 2200899-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.10.2020
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Entscheidungsdatum

13.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs3 Z5
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W117 2200899-2/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Andreas DRUCKENTHANER über die Beschwerde vonXXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.01.2019, Zl.: 43073809/180423534, nach mündlicher Verhandlung am 31.08.2020 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 1, 2 und Abs.4, § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005, § 57 AsylG, § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG und § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 3 FPG, § 52 Abs. 9 FPG iVm §46 FPG, und § 55 Abs. 1 -3 FPG sowie § 53 Abs. 3 Z 5 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der BF, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, stellte am 07.01.2004 unter den Personalien „ XXXX , geb. am XXXX “, in Österreich einen Asylantrag, zu welchem dem BF mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 21.01.2004, Zl. 04 00.77-BAT, Asyl zuerkannt und kraft Gesetzes festgestellt wurde, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Dieser Entscheidung lag zu Grunde, dass der BF wegen seiner Tätigkeit von 1997-1998 für den öffentlichen Sicherheitsdienst in XXXX während der Regierung von Maschadov vom 04.01.2003 bis 01.11.2003 von den Männern Kadyrows inhaftiert bzw. gefoltert und für 4.000.- US Dollar von seinen Eltern freigekauft wurde.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.01.2004, Zl.: 04 00.277-BAT, wurde der Name des BF auf den im Spruch genannten Wortlaut berichtigt.

3. Zum Ersuchen des Magistrates der Stadt XXXX vom 15.03.2012 zum Antrag des BF auf Nachbeurkundung seiner Geburt wurde seitens des Bundesasylamtes am 19.03.2012 zwecks Auskunftserteilung ein Datensatz des BF übermittelt.

4. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 26.01.2017 wurde der BF gem. § 206 (1) StGB, § 207 Abs. 1 StGB, § 212 Abs. 1 Z 1 StGB, §105 Abs.1 StGB und § 50 Abs.1 Z 1 und 2 WaffG zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt.

Diesem Urteil ist zu entnehmen, dass der BF mit seiner unmündigen Stieftochter den Beischlaf bzw. eine, diesem gleichzusetzende geschlechtliche Handlung vorgenommen hat bzw. an sich hat vornehmen lassen und deren Mutter durch eine gefährliche Drohung genötigt sowie eine Schusswaffe, einen Schlagring und Munition besessen hat. Bei der Strafbemessung wurden als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen mit mehreren Vergehen und als mildernd der ordentliche Lebenswandel und sein Geständnis gewertet. Unter Abwägung dieser Strafzumessungsgründe erschien dem Gericht im Hinblick auf die Persönlichkeit des Angeklagten sowie unter Bedachtnahme auf die Auswirkungen der Strafe und anderer zu erwartender Folgen der Taten auf das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft eine Freiheitsstrafe in der Dauer von 4 Jahren tat- und schuldangemessen sowie der Täterpersönlichkeit entsprechend. Obwohl er bisher unbescholten gewesen sei, sei auf Grund der Schwere der verübten Taten jedenfalls eine unbedingte, deutlich spürbare Freiheitsstrafe zu verhängen gewesen, um ihm einerseits das Unrecht seiner Straftaten eindrucksvoll vor Augen zu führen sowie ihn von der Begehung weiterer strafbarer Handlungen dieser und ähnlicher Art abzuhalten.

5. Am 12.12.2018 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl infolgedessen ein Verfahren zur Aberkennung des Asylstatus und Erlassung eines Einreiseverbotes ein.

6. Nach Auskunft der Justizanstalt mussten gegen den BF keine Ordnungsstrafen verhängt werden. Der Bezug habenden Besucherliste sind Kontakte zu drei bis vier Personen zu entnehmen.

7. Am 20.12.2018 wurde der BF vom BFA in der Justizanstalt zum Aberkennungsverfahren niederschriftlich einvernommen.

Dabei gab er an, dass seine Muttersprache Russisch sei und er außerdem Tschetschenisch und Deutsch spreche. Ferner brachte er vor, gesund zu sein, keine Medikamente zu nehmen und auch arbeitsfähig zu sein. Er sei in Tschetschenien geboren und 2004 nach Österreich gekommen. In Tschetschenien habe er 8 Jahre die Schule besucht, jedoch keinen Beruf erlernt und bei verschiedenen Arbeitgebern verschiedene Hilfsarbeiten verrichtet. Er habe in Österreich geheiratet und eine Familie gegründet, er habe drei Kinder. Im Herkunftsstaat würden noch seine Mutter und vier Schwestern leben. Ein Bruder lebe in Österreich, eine weiterer sowie eine Schwester würden in Deutschland leben. Sonst habe er im Herkunftsstaat noch eine große Familie (Onkel, Tanten, Cousins). Zuletzt habe er vor 2 Jahren und 5 Monaten Kontakt mit seiner Mutter gehabt. Seither sei er in Haft. Sein Bruder informiere ihn nach wie vor über die Befindlichkeit seiner Mutter. Über die Situation im Heimatland habe er keine neuen Informationen und sei daran auch nicht interessiert. Im Fall der Rückkehr sei nicht vorhersehbar, was zu befürchten sei; Probleme hätte er in jedem Fall. Es sei dort für ihn gefährlich. Er sei während der Tschetschenienkriege gegen die Russen gewesen. Er habe zwar nicht gegen sie gekämpft, wenn man dort jedoch ein Problem habe, bleibe es für immer. Er sei in der tschetschenischen Armee gewesen. Er wisse nicht, ob er in einen anderen Teil des Landes zurückkehren könne. Er hätte Angst um sein Leben. Er denke, dass er wegen seiner Probleme in Tschetschenien auch welche in ganz Russland habe. In Österreich habe er Deutschkurse besucht, in einer Wohnung gelebt und zeitweise gearbeitet. Er habe in Österreich mit seiner Familie keinen Kontakt, nur mit seinem Bruder, Onkel und Cousins. Er sei hier auch nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Abschließend wurden ihm Länderfeststellungen zur Kenntnis gebracht, wozu er keine Stellungnahme abgab.

8. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 08.01.2019, erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den mit Bescheid vom 21.01.2004 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Ferner wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf 10 Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Das BFA stellte begründend fest, dass der BF russischer Staatsangehöriger sei, der Volksgruppe der Tschetschenen angehöre und sich zum muslimischen Glauben bekenne. Seine Identität stehe nicht fest. Er spreche Russisch und Tschetschenisch. Er leide an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung und habe noch verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation. Er sei in Österreich straffällig geworden und stelle als Person eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er im Herkunftsstaat einer Verfolgung ausgesetzt wäre. In seinem Fall liege keine Gefährdung im Herkunftsstaat vor. Er sei arbeitsfähig. In Österreich verbüße er seit dem 04.08.2016 eine Strafhaft. Er habe geringe Deutschkenntnisse. Ein Bruder lebe in Österreich. Weitere soziale Kontakte habe er in Österreich nicht. Er sei wegen Verbrechen und Vergehen zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt worden. Sodann wurden Feststellungen zur Russischen Föderation getroffen.

In der Beweiswürdigung wurde dargelegt, dass seine Identität mangels russischer Dokumente nicht habe festgestellt werden können. Infolge seiner Straftaten (Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen) sei davon auszugehen, dass er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle, zumal er dieses Verbrechen jederzeit wiederholen könne, vor Allem weil er dieses über einen längeren Zeitraum und wiederholt begangen habe. Auch sein Wohlverhalten in der Strafhaft könne angesichts seines Leugnens seiner Taten in der Therapie während der Haft keine positive Zukunftsprognose rechtfertigen. Seine Straftat stelle ein besonders schweres Verbrechen dar, weswegen er als Gefahr für die Gemeinschaft zu betrachten sei. Er habe in der Einvernahme am 20.12.2018 keine aktuellen bzw. individuellen Fluchtgründe in Bezug auf die Russische Föderation vorgebracht und ergäben sich auch aus dem Länderinformationsblatt keinerlei Diskriminierungen seitens der Behörden im Fall der Rückkehr und auch sonst keine ihm drohenden Verfolgungshandlungen. Zudem könne er familiäre Unterstützung in Anspruch nehmen. Sein ursprüngliches Vorbringen zu den Fluchtgründen liege über 15 Jahre zurück und sei nicht aktuell, zumal er auch nicht vorgebracht habe, deswegen noch immer verfolgt zu werden, sondern nur, im Fall der Rückkehr mit Problemen konfrontiert zu sein, ohne diese näher konkretisieren zu können. Es bestehe vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen kein Zweifel, dass er in der Lage wäre, im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation als erwachsener, gesunder und arbeitsfähiger Mann seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, zumal der die Landessprache(n) spreche, mit der dortigen Kultur vertraut sei, den Großteil seines Lebens dort verbracht habe und dort über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte (Mutter, Schwestern, Onkel und Tanten) verfüge bzw. ihn auch seine im Ausland aufhältigen Angehörigen finanziell unterstützen könnten. Da zur Einvernahme ein Dolmetscher beizuziehen gewesen sei, müsse davon ausgegangen werden, dass er Deutsch noch nicht einwandfrei beherrsche. Außer seinen in Österreich lebenden Verwandten habe er keine weiteren sozialen Kontakte in Österreich, auch nicht zu seinen Kindern. Eine Bindung zu diesen sei wegen seiner Straftaten auch in Zukunft nicht zu erwarten.

Infolge seiner Verurteilung wegen eines besonders schweren Verbrechens sei ihm der Status des Asylberechtigten abzuerkennen gewesen, da er dadurch eine Gefahr für die Gemeinschaft darstelle. Eine positive Zukunftsprognose habe angesichts der Schwere seiner Straftaten nicht erstellt werden können, zumal Wiederholungen nicht auszuschließen seien (zu Spruchpunkt I.). Er habe keine glaubhaften Gründe vorgebracht, dass ihm ein Leben in der Russischen Föderation nicht zumutbar sei. Aus seinem Vorbringen habe sich keine Gefährdung seiner Person ergeben und habe eine aktuelle Bedrohung seiner Person im Herkunftsland nicht erkannt werden können. Auch sonstige Abschiebungshindernisse (lebensbedrohliche Erkrankung, fehlender Lebensunterhalt) habe er weder behauptet noch hätten solche vor dem Hintergrund der Länderberichte sonst erkannt werden können. Aus den Länderberichten ergebe sich keine Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK für jede zurückkehrende Person. Anhaltspunkte dafür, dass von einer asylrelevanten wirtschaftlichen Benachteiligung auszugehen wäre, lägen nicht vor. Es sei von einer in der Russischen Föderation gewährleisteten Grundversorgung auch in medizinischer Hinsicht auszugehen und eine Rückführung in den Herkunftsstaat erscheine daher nicht unzulässig iSd § 8 AsylG. Die bloße Möglichkeit einer unmenschlichen Behandlung sei für die Gewährung eines Abschiebeschutzes nicht ausreichend, vielmehr erfordere dies die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der EMRK. Zudem sei er als arbeitsfähiger junger Mann mit familiären und sozialen Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes so wie vor seiner Ausreise in der Lage (zu Spruchpunkt II.). Mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach § 57 AsylG 2005 komme die Gewährung eines Aufenthaltstitels nicht in Betracht (zu Spruchpunkt III.). In Österreich befänden sich ein Bruder sowie Onkel und Cousins, jedoch lebe er mit diesen nicht im gemeinsamen Haushalt, zumal er eine Haftstrafe verbüße. Da er auch mit seinen Kindern keinen Kontakt pflege, werde mit einer Rückkehrentscheidung auch nicht in sein Familienleben eingegriffen. Er verfüge über keine „nennenswerten“ Deutschkenntnisse und gehe keiner Arbeit nach. Nennenswerte private Bindungen habe er in Österreich nicht und auch keine anderen vorgebracht. Eine besondere Integration in Österreich sei nicht hervorgekommen. Demgegenüber sei das öffentliche Interesse infolge seiner strafgerichtlichen Verurteilung höher zu bewerten und eine Rückkehrentscheidung daher zulässig (zu Spruchpunkt IV.). Mangels Vorliegens von Gründen im Sinne von § 50 FPG sei seine Abschiebung auch zulässig (zu Spruchpunkt V.) und die Frist für seine freiwillige Ausreise mangels Gründen gemäß § 55 FPG zur Recht mit 14 Tagen festgesetzt worden (zu Spruchunkt VI.). In Fall des BF seien die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG für die Erlassung eines Einreiseverbotes infolge seiner Verurteilung zu einer 4-jährigen Haftstrafe erfüllt, was das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit indiziere. Unter Bedachtnahme auf die Schwere der Tat und das Gesamtverhalten des BF sei die Annahme gerechtfertigt, dass der BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Auch hier sei davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit sein persönliches Interesse am Verbleib in Österreich überwiege. Die Dauer des verhängten Einreiseverbotes sei angesichts seines Verhaltens, seiner Lebensumstände sowie seiner familiären und privaten Anknüpfungspunkte auch gerechtfertigt sowie notwendig, um die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 3 EMRK genannten Ziele zu verhindern (zu Spruchpunkt VII.).

9. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 08.01.2019 wurde dem BF für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

10. Gegen den oben angeführten Bescheid des BFA erhob der BF durch seinen anwaltlichen Vertreter fristgerecht Beschwerde. Darin wurde kritisiert, dass die Behörde Ermittlungen darüber unterlassen habe, ob dem BF auf Grund seiner rechtskräftigen Verurteilung in Österreich in Tschetschenien eine grausame und unmenschliche Bestrafung oder Folter drohe, zumal sich aus den Länderfeststellungen ergebe, dass die am Südrand der Russischen Föderation eingesetzte Sharia-Gerichtsbarkeit eine alternative Justiz bilde. Infolge seiner Vorverurteilung und als ehemals asylberechtigter Rückkehrer bestehe für den BF ein konkretes und reales Risiko in Tschetschenien einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt zu sein, weshalb ihm subsidiärer Schutz zuzuerkennen wäre. Es sei zwingend davon auszugehen, dass den tschetschenischen Behörden die Verurteilung des BF bekannt sei, weil Kadyrow auch in Westeuropa über ein weitverzweigtes Informatensystem verfüge.

11. Am 03.08.2020 übermittelte das BMI eine Kopie des russischen Reisepasses des BF, ausgestellt auf „ XXXX , geb. XXXX “, gültig von 23.10.2013 bis zum 23.10.2018.

12. Zu der für 04.08.2020 beim BVwG anberaumten Verhandlung ist der BF nicht erschienen. Er reichte eine Honorarnote für eine ärztliche Behandlung am 04.08.2020 nach (Diagnose: Gastroenteritis).

13. Am 31.08.2020 fand beim BVwG eine mündliche Verhandlung unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Russische Sprache statt, zu welcher der BF ohne Rechtsvertreter erschienen ist. Vertreter der belangten Behörde sind (entschuldigt) nicht erschienen.

Auf Befragen brachte er im Wesentlichen vor, dass er bisher mangels Dokumenten keine behördliche Meldung seines Wohnsitzes habe vornehmen können. Der Führerschein sei dafür nicht ausreichend gewesen. Sobald er Papiere bekomme, werde er sofort eine Meldung nachholen. Zu der ihm vorgehaltenen strafgerichtlichen Verurteilung brachte er vor, dafür in Strafhaft gewesen zu sein. Zum Vorhalt, dass ihm deswegen und wegen der Annahme, dass er im Herkunftsstaat nach so langer Zeit keine Probleme mehr hätte, Asyl aberkannt worden sei, brachte er vor, dass seine Frau allen ihren Bekannten von seiner Angelegenheit erzählt hätte, auch seine Freunde in Tschetschenien hätte sie angerufen. Seine Frau wohne nicht mehr mit ihm zusammen. Die ihm zur Kenntnis gebrachten Länderberichte nahm er zur Kenntnis und brachte vor, die Lage in Tschetschenien zu kennen. Auf die Frage, welchen Beruf er in Österreich ausgeübt habe, gab er an, keinen zu haben, aber dass es mit Papieren kein Problem für ihn wäre, Arbeit zu finden. Er habe im Gefängnis gearbeitet, verschiedenste handwerkliche Tätigkeiten für eine Firma. Er habe in Tschetschenien nach der Schule während des Krieges keinen Beruf erlernt, sondern sei beim Militär gewesen. Hier habe er Schlosser werden wollen, aber nichts bekommen. Er sei geschieden, habe drei Kinder, jedoch keinen Kontakt zu ihnen. Auf Deutsch gab er an, dass seine Mutter noch in Tschetschenien lebe, weiters auch drei Schwestern, mit welchen er Kontakt habe.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum moslemischen Glauben. Seine Identität steht fest.

Er ist ledig, wuchs in Tschetschenien auf, wo er 8 Jahre die Schule besuchte, jedoch keinen Beruf erlernte. 2004 hat er die Russische Föderation verlassen, nachdem er vermutlich wegen seiner Tätigkeit für den öffentlichen Sicherheitsdienst von 1997 bis 1998 in XXXX während der Regierung Maschadovs im Jahr 2003 von den Männern Kadyrows inhaftiert und gefoltert sowie schließlich gegen Geld freigelassen wurde. Er reiste am 07.01.2004 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag in Österreich einen Asylantrag, zu welchem ihm mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 21.01.2004 Asyl zuerkannt und festgestellt wurde, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Seine Mutter und mehrere Schwestern leben noch in Tschetschenien, ferner Onkel, Tanten und Cousins. In Österreich lebt ein Bruder des BF, ein weiterer Bruder sowie eine Schwester des BF leben in Deutschland. Mit seiner österreichischen Lebensgefährtin, ihren beiden Kindern und den drei gemeinsamen Kindern wohnt der BF nicht im gemeinsamen Haushalt.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 26.01.2017 wurde der BF gem. § 206 (1) StGB, § 207 Abs. 1 StGB, § 212 Abs. 1 Z 1 StGB, §105 Abs.1 StGB und § 50 Abs.1 Z 1 und 2 WaffG zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt.

Im Falle des BF kann keine positive Zukunftsprognose erstellt werden. Der BF hatte alle Möglichkeiten, seine Chancen in Österreich zu nützen und sich zu integrieren, was ihm jedoch, insbesondere vor dem Hintergrund seines strafrechtlichen Verhaltens und der diesbezüglichen Verurteilung, nicht gelungen ist. Der BF ist massiv straffällig geworden, indem er ua. ein besonders schweres Verbrechen (geschlechtliche Handlungen mit einer Unmündigen) begangen hat, wofür er zu einer unbedingten Haftstrafe verurteilt wurde, welche er bis zum 03.08.2020 verbüßte. Seiher ist jedenfalls noch kein ausreichend langer Zeitraum verstrichen, welcher einen nachweislich geänderten Lebenswandel gestatten könnte. Zudem wird das Wohlverhalten des BF während der Strafhaft durch sein Leugnen der Straftat im Rahmen seiner Therapie, welche er vorzeitig beendete, völlig aufgewogen und lässt schon deshalb keine positive Prognose für die Zukunft zu.

Festgestellt wird, dass der BF einen Asylausschlussgrund gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 verwirklicht hat (§ 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005): Er wurde von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt und bedeutet aufgrund dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft.

Der BF hat sich am 23.10.2013 auch einen russischen Reisepass ausstellen. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle der Rückkehr eine aktuelle Verfolgung aus asylrelevanten Gründen drohen würde.

Der BF leidet an keinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ist gesund.

Ein Abhängigkeitsverhältnis zu den in Österreich aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen des BF aus gesundheitlichen oder anderen Gründen besteht nicht. Er hat während der Haft nur Besuch von seinem Bruder und drei weiteren Personen erhalten. Diesen Kontakt kann er auch von der Russischen Föderation aus über elektronische Medien und Internet aufrecht erhalten. Er hat keinen Kontakt zu seinen drei österreichischen Kindern und wohnt auch nicht bei seiner österreichischen Lebensgefährtin.

Der BF spricht und versteht Deutsch. Zusätzlich spricht und versteht er Tschetschenisch sowie Russisch. In Österreich besuchte er Deutschkurse. Er hat gelegentlich auch gearbeitet, jedoch zuletzt Sozialhilfe in Höhe von 570.-€ bezogen.

Der BF stellt nach wie vor eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Es kann nicht festgestellt werden, dass beim BF bereits ein Lebenswandel eingetreten ist.

Der BF ist erkennbar in der Lage, Hilfstätigkeiten auszuüben und ist auch arbeitswillig.

Eine Rückkehr des BF in die Russische Föderation stellt keine Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention dar. Im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation droht dem BF weder die Todesstrafe noch eine Haftstrafe unter unmenschlichen Bedingungen, Folter oder unmenschliche Behandlung.

Dem BF droht in der Russischen Föderation keine Doppelbestrafung und auch außerhalb der Strafverfolgung keine Verfolgung auf Grund des der Verurteilung in Österreich zugrundliegenden Verhaltens. Dem BF droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation keine Folter oder unmenschliche Behandlung auf Grund seiner Verurteilung in Österreich und des dieser Verurteilung zugrundeliegenden Verhaltens. Ihm droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation auch keine Verfolgung wegen der Asylantragstellung oder wegen des langjährigen Aufenthaltes außerhalb der Russischen Föderation.

Es ist dem BF jedenfalls möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation, entweder in Tschetschenien selbst oder auch in anderen Landesteilen - etwa in Moskau- niederzulassen und anzumelden sowie durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele russische Städte verfügen über eine große tschetschenische Diaspora und bieten die stärkeren Metropolen und Regionen Russlands bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch Chancen für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Der BF hat weiters Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung. Zudem sind nach wie vor Verwandte des BF (Mutter, Schwestern sowie zahlreiche Onkel und Tanten sowie Cousins) im Heimatland aufhältig und kann der BF den Kontakt zu diesen Personen (notfalls über seinen in Österreich lebenden Bruder) wieder herstellen. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit finanzieller oder sonstiger Unterstützung seitens seiner außerhalb der Russischen Föderation lebenden Geschwister.

Zur Lage in der Russischen Föderation/Tschetschenien:

(aus dem Länderinformationsblatt für die Russische Föderation vom 27.03.2020, letzte KI vom 21.07.2020 )

1. Politische Lage Letzte Änderung: 21.07.2020

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale JablokoPartei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen: - AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/ politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020 - CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020 - EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020 - GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020 - GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 17.7.2020 - Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020 - Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-beiKundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020 - MDR 16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/ nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html, Zugriff 21.7.2020 - ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-201955603/, Zugriff 10.3.2020 - OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577? download=true, Zugriff 10.3.2020 - Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volkschliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020 - RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020 - Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020 - Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020 - Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

1.1. Tschetschenien Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020; vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum . „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020 - FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020 - HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020 - NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nachprotesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020 - ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https:// www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

2. Sicherheitslage Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen: - AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020 - BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reiseaufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020 - Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020 - EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020 - GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

2.1. Nordkaukasus Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr alBaghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020 - Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020 - Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020 - Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020 - Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020 - Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020 - ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/ aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

2.2. Tschetschenien Letzte Änderung: 27.03.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen: - Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020 - Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020 - Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020 - Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020 - Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

3. Rechtsschutz / Justizwesen Letzte Änderung: 21.7.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungsund Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des LewadaZentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020 - AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020 - AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.6.2020 - EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020 - FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rec

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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