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24/01 StrafgesetzbuchNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Verfassungswidrigkeit des strafrechtlichen Verbots jeglicher Hilfe eines Dritten bei der Mitwirkung am Selbstmord auf Grund Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung; das Recht auf freie Selbstbestimmung – abgeleitet vom Recht auf Privatleben, Recht auf Leben und dem Gleichheitsgrundsatz – umfasst sowohl das Recht auf die Gestaltung des Lebens als auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben; der Entschluss zur Selbsttötung muss auf einer freien Selbstbestimmung gründen; die Behandlungshoheit des Einzelnen umfasst neben der Ablehnung von lebenserhaltenden oder verlängernden Maßnahmen insbesondere das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben sowie das Recht, Hilfe eines Dritten in Anspruch zu nehmenRechtssatz
Aufhebung der Wortfolge "oder ihm dazu Hilfe leistet," in §78 StGB idF BGBl 60/1974 (Mitwirkung am Selbstmord); Inkrafttreten der Aufhebung mit Ablauf des 31.12.2021; im Übrigen: Abweisung des Antrags; Zurückweisung des gegen §77 StGB (Tötung auf Verlangen) gerichteten Individualantrags als zu eng, weil §77 StGB eine geringere Strafdrohung enthält und eine lex specialis zu §75 StGB (Mord) darstellt, weshalb im Fall der Aufhebung der Bestimmung die Tötung eines anderen strafbar bliebe und sogar eine Strafverschärfung einträte.
Die aktuelle rechtliche Betroffenheit aller Antragsteller ist gegeben. Das an Dritte gerichtete Verbot der Mitwirkung bei der Selbsttötung zielt auch darauf, die Handlungsfreiheit von bestimmten Personen - auch wenn sie nicht unmittelbar Normadressaten sind - einzuschränken und macht es dem Erst-, Zweit- und Drittantragsteller unmöglich, die von ihnen gewünschte Mitwirkung Dritter beim Suizid in Anspruch zu nehmen. Die aktuelle Betroffenheit durch §78 StGB setzt nicht voraus, dass der völlig gesunde Zweitantragsteller zum Zeitpunkt der Antragstellung bzw der Entscheidung durch den VfGH unheilbar erkrankt ist oder aus anderen Gründen (aktuell) wünscht, durch die Mithilfe Dritter (aktuell) zu sterben. Auf Grund der Strafbestimmung wird ihm verunmöglicht, Vorkehrungen für ein selbstbestimmtes Sterben durch die Mithilfe eines Dritten zu treffen, weil sich dieser dadurch strafbar machen würde.
Dem Erst-, Zweit- und Drittantragsteller steht auch kein anderer Weg zur Verfügung, die Frage der Verfassungskonformität der bekämpften Bestimmung an den VfGH heranzutragen. Im Hinblick auf die strafgerichtliche Verurteilung des Zweitantragstellers wegen Mitwirkung bei der Selbsttötung seiner Ehefrau stellte auch das vor dem Landesgericht geführte Strafverfahren keinen zumutbaren Weg dar, die im vorliegenden Antrag geäußerten Bedenken an den VfGH heranzutragen. Der Zweitantragsteller hegt im vorliegenden Antrag Bedenken gegen §78 StGB aus dem Blickwinkel einer Person, die für sich selbst Sterbehilfe in Anspruch nehmen will, sodass das erwähnte Strafverfahren schon aus diesem Grund nicht als zumutbarer Weg angesehen werden kann.
§78 StGB richtet sich dem Wortlaut nach nicht an potentielle Suizidwillige, sondern an Dritte wie den Viertantragsteller. Der VfGH hegt keine Zweifel, dass die Rechtssphäre des Viertantragstellers durch die Verbotsnorm des §78 StGB berührt wird. Im Falle eines Zuwiderhandelns drohte dem Viertantragsteller insbesondere eine strafgerichtliche Verfolgung. Zudem hat die Berufsausübung des Viertantragstellers "unter Einhaltung der bestehenden Vorschriften" (§49 Abs1 ÄrzteG 1998), insbesondere auch der strafrechtlichen Rahmenbedingungen, zu erfolgen. Dem Viertantragsteller ist es nicht zumutbar, ein Strafverfahren zu provozieren, um in dessen Rahmen eine Antragstellung gemäß Art140 Abs1 Z1 lita B-VG anzuregen oder einen Parteiantrag gemäß Art140 Abs1 Z1 litd B-VG zu stellen.
Die Pflicht des Staates nach Art63 Abs1 des Staatsvertrages von Saint-Germain, Schutz von Leben und Freiheit zu gewähren, wird durch mehrere grundrechtliche Gewährleistungen konkretisiert, nämlich insbesondere durch das Recht auf Privatleben gemäß Art8 EMRK und das Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie den Gleichheitsgrundsatz gemäß Art2 StGG und Art7 Abs1 B-VG, aus denen auch das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf freie Selbstbestimmung folgt. Dieses Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst sowohl das Recht auf die Gestaltung des Lebens als auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben.
Da die Rechtslage in den Konventionsstaaten erheblich voneinander abweicht und folglich kein gemeinsamer Konsens erkennbar ist, anerkennt der EGMR letztlich einen erheblichen staatlichen Gestaltungsspielraum hinsichtlich des Rechtes eines Individuums, selbst über den Zeitpunkt und die Art seines Lebensendes zu bestimmen (vgl EGMR 29.04.2002, Fall Pretty, Appl 2346/02, ÖJZ2003, 311, EGMR 20.01.2011, Fall Haas, Appl 31.322/07, NJW 2011, 3773). Sofern ein Staat auf diesem Gebiet einen liberalen Ansatz verfolgt, muss er nach Auffassung des EGMR geeignete Maßnahmen zu deren Umsetzung und adäquate Vorkehrungen gegen Missbrauch treffen; insbesondere verpflichtet das von Art2 EMRK geschützte Recht auf Leben die Staaten dazu, Vorkehrungen zu treffen, die gewährleisten, dass die Entscheidung tatsächlich dem freien Willen des Suizidwilligen entspricht.
Art2 Abs1 EMRK, der das Recht jedes Menschen auf sein Leben schützt, verpflichtet den Staat dazu, das Recht auf Leben nicht nur gegenüber Gefährdungen von staatlicher Seite, sondern auch gegenüber Gefährdungen von nicht-staatlicher Seite zu verteidigen. Dazu zählen nach der Rsp des EGMR unter bestimmten qualifizierten Umständen auch Schutzmaßnahmen zu Gunsten von Personen, die durch Suizidgefahr bedroht sind (zB EGMR 22.11.2016, Fall Hiller, Appl 1967/14, NLMR 2016, 503). Es ist allerdings nicht die Aufgabe bzw Schutzpflicht des Staates, vor dem frei gewünschten Suizid zu schützen.
Aus dem Gleichheitsgrundsatz gemäß Art2 StGG und Art7 Abs1 B-VG ergibt sich das Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung in Bezug auf die Gestaltung des Lebens und die Entscheidung über (den Zeitpunkt für) ein menschenwürdiges Sterben: Mit seinem elementaren Gehalt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, setzt der Gleichheitsgrundsatz voraus, dass jeder Mensch als individuelles Wesen per se unterschiedlich ist, aus ihm lässt sich die spezifische Personalität und Individualität des Menschen ableiten. Die Grundrechtsordnung garantiert die Freiheit des Menschen, er ist in seiner Personalität und Individualität sich selbst verantwortlich.
Zur freien Selbstbestimmung gehört zunächst die Entscheidung des Einzelnen, wie er sein Leben gestaltet und führt. Zur freien Selbstbestimmung gehört aber auch die Entscheidung, ob und aus welchen Gründen ein Einzelner sein Leben in Würde beenden will. All dies hängt von den Überzeugungen und Vorstellungen jedes Einzelnen ab und liegt in seiner Autonomie.
Das aus der Bundesverfassung ableitbare Recht auf freie Selbstbestimmung erfasst nicht nur die Entscheidung und das Handeln des Suizidwilligen selbst, sondern auch das Recht des Suizidwilligen auf Inanspruchnahme der Hilfe eines (dazu bereiten) Dritten. Der Suizidwillige kann nämlich vielfach zur tatsächlichen Ausübung seiner selbstbestimmten Entscheidung zur Selbsttötung und deren gewählter Durchführung auf die Hilfe Dritter angewiesen sein. Der Suizidwillige hat dementsprechend das Recht auf selbstbestimmtes Sterben in Würde; dazu muss er die Möglichkeit haben, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten in Anspruch zu nehmen.
Der VfGH setzte sich bereits in seinem Erkenntnis VfSlg 20057/2016 mit der Bestimmung des §78 StGB auseinander. Anlassgebend war die beabsichtigte Gründung des Vereins "Letzte Hilfe - Verein für selbstbestimmtes Sterben", die von der Vereinsbehörde wegen Widerspruchs zu §78 StGB untersagt wurde. Der VfGH erachtete die Regelung des §78 StGB in einem Beschwerdeverfahren gemäß Art144 B-VG und damit vor dem Hintergrund des spezifischen Falles (und nicht in einem Gesetzesprüfungsverfahren) als verfassungsrechtlich unbedenklich. Er hat daher über die hier zu beurteilenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen §78 StGB nicht in einer den VfGH bindenden Weise abgesprochen. Soweit in VfSlg 20057/2016 eine andere Auffassung als in dieser Entscheidung zum Ausdruck kommt, wird diese nicht aufrechterhalten.
Nach Auffassung des VfGH kann das Verbot der Selbsttötung mit Hilfe eines Dritten einen besonders intensiven Eingriff in das Recht des Einzelnen darstellen. Da §78 zweiter Tatbestand StGB die Selbsttötung mit Hilfe eines Dritten ausnahmslos verbietet, kann diese Bestimmung unter Umständen den Einzelnen zu einer menschenunwürdigen Form der Selbsttötung veranlassen, wenn er sich kraft freien Entschlusses in einer Situation befindet, die für ihn ein selbstbestimmtes Leben in persönlicher Integrität und Identität und damit in Würde nicht mehr gewährleistet. Daran ändert auch §49a Abs2 ÄrzteG 1998 nichts, weil dieser (erst) bei Sterbenden im Rahmen palliativmedizinischer Maßnahmen anwendbar ist, also zu einem Zeitpunkt, in dem der Prozess des Sterbens im Wesentlichen alleine in der Verantwortung von Ärzten liegt.
Lässt die Rechtsordnung zu, dass ein Betroffener sein Leben mit Hilfe eines Dritten in Würde nach seiner freien Selbstbestimmung zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt beenden kann, kann dies dazu führen, dass dadurch dem Betroffenen ein längeres Leben ermöglicht wird und er sich nicht gezwungen sieht, sein Leben vorzeitig in einer menschenunwürdigen Form zu beenden. Der Betroffene kann also dadurch Lebenszeit gewinnen, weil er die Selbsttötung auch erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Hilfe eines Dritten vornehmen kann. Indem §78 zweiter Tatbestand StGB die Hilfe eines Dritten beim Suizid ausnahmslos verbietet, verwehrt er im Ergebnis dem Einzelnen, über sein Sterben in Würde selbst zu bestimmen.
Da die Regelung des §78 (zweiter Tatbestand) StGB die existentielle Entscheidung über die Gestaltung des Lebens und Sterbens und damit ganz wesentlich das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen betrifft, besteht insoweit kein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.
Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des §78 zweiter Tatbestand StGB geht es nicht um eine Abwägung zwischen dem Schutz des Lebens des Suizidwilligen und dessen Selbstbestimmungsrecht. Steht unzweifelhaft fest, dass der Entschluss der Selbsttötung auf einer freien Selbstbestimmung gründet, hat der Gesetzgeber dies zu respektieren. Es ist nämlich schon im Ansatz verfehlt, aus dem in Art2 EMRK verankerten Recht auf Schutz des Lebens eine Pflicht zum Leben abzuleiten und derart den Grundrechtsträger zum Adressaten der Schutzverpflichtung zu machen.
Da die Selbsttötung irreversibel ist, muss die entsprechende freie Selbstbestimmung der zur Selbsttötung entschlossenen Person tatsächlich auf einer (nicht bloß vorübergehenden, sondern) dauerhaften Entscheidung beruhen. Sowohl der Schutz des Lebens als auch das Recht auf Selbstbestimmung verpflichten den Gesetzgeber, die Hilfe eines Dritten bei der Selbsttötung zuzulassen, sofern der Entschluss auf einer freien Selbstbestimmung beruht, dem also ein aufgeklärter und informierter Willensentschluss zugrunde liegt. Dabei hat der Gesetzgeber auch zu berücksichtigen, dass der helfende Dritte eine hinreichende Grundlage dafür hat, dass der Suizidwillige tatsächlich eine auf freier Selbstbestimmung gegründete Entscheidung zur Selbsttötung gefasst hat.
In diesem Zusammenhang kann der VfGH darauf verweisen, dass der Gesetzgeber das Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung, in vielfachem Zusammenhang, und zwar auch, wenn es um das Leben und die Gesundheit der betroffenen Person geht, anerkennt und näher regelt:
Die Bestimmungen der §252 ff ABGB, des §110 StGB und des Patientenverfügungs-Gesetzes zeigen, dass der Gesetzgeber dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen im Bereich medizinischer Behandlungen einen zentralen Stellenwert einräumt. Die Patientenverfügung gewährleistet darüber hinaus, dass der behandelnde Arzt dem Willen des Patienten hinsichtlich der Ablehnung einer bestimmten medizinischen Behandlung oder jeglicher medizinischer Behandlung - und damit dem Recht auf Selbstbestimmung des Patienten - nachkommen muss, wenn der Patient dazu im relevanten Zeitpunkt nicht mehr in der Lage ist. Gerade die Regelungen über die Patientenverfügung erweisen, dass der Gesetzgeber auch im Zusammenhang mit der Entscheidung über das Lebensende das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen anerkennt.
Aus grundrechtlicher Perspektive macht es nach Auffassung des VfGH im Grundsatz keinen Unterschied, ob der Patient im Rahmen seiner Behandlungshoheit bzw im Rahmen der Patientenverfügung in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes lebensverlängernde oder lebenserhaltende medizinische Maßnahmen ablehnt oder ob ein Suizidwilliger unter Inanspruchnahme eines Dritten in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes sein Leben beenden will, um ein Sterben in der vom Suizidwilligen angestrebten Würde zu ermöglichen. Entscheidend ist vielmehr in jedem Fall, dass die jeweilige Entscheidung auf der Grundlage einer freien Selbstbestimmung getroffen wird.
Ferner hat der Gesetzgeber mit §49a iVm §2 Abs2 Z6a ÄrzteG 1998 eine Regelung geschaffen, wonach in bestimmten, engen Grenzen die aktive (indirekte) Sterbehilfe ausdrücklich für zulässig erklärt wird: Gemäß §49a Abs2 leg cit ist es "bei Sterbenden insbesondere auch zulässig, im Rahmen palliativmedizinischer Indikationen Maßnahmen zu setzen, deren Nutzen zur Linderung schwerster Schmerzen und Qualen im Verhältnis zum Risiko einer Beschleunigung des Verlusts vitaler Lebensfunktionen überwiegt". Bei dieser Form der Sterbehilfe nimmt der Arzt die durch die schmerzlindernden Maßnahmen bewirkte Beschleunigung des Todes als eine unvermeidbare Nebenwirkung seines Handelns in Kauf.
Nach der in Österreich herrschenden Auffassung erfüllt die indirekte aktive Sterbehilfe - ungeachtet des §49a Abs2 ÄrzteG 1998 - nicht den objektiven Tatbestand der Tötungsdelikte; die indirekte aktive Sterbehilfe wird nach der in Österreich herrschenden Lehre nach der ratio der Tötungsdelikte als sozial adäquates Verhalten qualifiziert. Dies wird unter anderem damit begründet, dass das erklärte oder mutmaßliche Interesse des Sterbenden an der Behandlung seiner Schmerzen seine Interessen an der Lebenserhaltung "um jeden Preis" deutlich überwiege.
Die Rechtsordnung erlaubt ferner die Sterbehilfe durch Unterlassung (sogenannte passive Sterbehilfe): Die Durchführung jeder ärztlichen Maßnahme, welche die körperliche Integrität oder Freiheit des Patienten berührt, bedarf der (ausdrücklichen oder mutmaßlichen) Einwilligung des Patienten. Der Patient kann die erteilte Einwilligung auch jederzeit widerrufen. Dabei ist irrelevant, aus welchem Grund ein einwilligungsfähiger Patient seine Einwilligung in eine ärztliche Behandlung - wie zB in eine lebensrettende oder lebensverlängernde Behandlungsmaßnahme - verweigert.
Das Patientenverfügungs-Gesetz trifft in diesem Zusammenhang besondere Regelungen, um Zweifelsfragen über den mutmaßlichen Willen des Patienten von Vornherein auszuschließen. Danach kann ein Patient bestimmte medizinische Behandlungen, insbesondere auch lebensrettende und lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen, ablehnen. Eine solche Patientenverfügung soll erst dann wirksam werden, wenn der Patient im Zeitpunkt der Behandlung nicht entscheidungsfähig ist.
Die sogenannte passive Sterbehilfe stellt einen Anwendungsfall des Prinzips der Behandlungshoheit des Patienten dar; die passive Sterbehilfe wird durch die Behandlungshoheit des Patienten gleichsam überlagert. Der behandelnde Arzt muss der aufgeklärten und informierten Entscheidung des Patienten, ob und unter welchen Umständen dieser in eine medizinische Behandlungsmaßnahme einwilligt oder diese ablehnt, in jedem Fall nachkommen; und zwar gleichgültig, ob diese Entscheidung aus medizinischer Sicht zweckmäßig ist oder nicht.
Nach Auffassung des VfGH steht es zu dem einerseits in der (verfassungs-)rechtlich begründeten Behandlungshoheit und andererseits in §49a Abs2 ÄrzteG 1998 - jedenfalls bei Vorliegen einer Patientenverfügung - zum Ausdruck kommenden Stellenwert der freien Selbstbestimmung in Widerspruch, dass §78 zweiter Tatbestand StGB jegliche Hilfe im Zusammenhang mit der Selbsttötung verbietet. Wenn einerseits der Patient (durch Nichteinwilligung oder Widerruf der Einwilligung) darüber entscheiden kann, ob sein Leben durch eine medizinische Behandlung gerettet oder verlängert wird, und andererseits durch §49a Abs2 ÄrzteG 1998 unter den dort festgelegten Voraussetzungen sogar das vorzeitige Ableben eines Patienten im Rahmen einer medizinischen Behandlung in Kauf genommen wird, ist es nicht gerechtfertigt, dem Sterbewilligen die Hilfe durch einen Dritten in welcher Art und Form auch immer im Zusammenhang mit der Selbsttötung zu verbieten und derart das Recht auf Selbstbestimmung ausnahmslos zu verneinen.
Der VfGH übersieht nicht, dass die freie Selbstbestimmung auch durch vielfältige soziale und ökonomische Umstände beeinflusst wird. Dementsprechend hat der Gesetzgeber (auch) Maßnahmen (Sicherungsinstrumente) zur Verhinderung von Missbrauch vorzusehen, damit die betroffene Person ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fasst.
Im Zusammenhang mit dem Recht auf Selbstbestimmung in Verbindung mit der Selbsttötung darf keinesfalls übersehen werden, dass angesichts der realen gesellschaftlichen Verhältnisse die tatsächlichen Lebensbedingungen, die zu einer solchen Entscheidung führen, nicht gleich sind.
Bei einem solchen Entschluss können auch Umstände eine entscheidende Rolle spielen, die nicht ausschließlich in der Sphäre bzw Disposition des Suizidwilligen liegen, wie seine Familienverhältnisse, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse, die Pflegebedingungen, die Hilfsbedürftigkeit, der eingeschränkte Aktivitätsspielraum, der real zu erwartende Sterbeprozess und dessen Begleitung sowie sonstige Lebensumstände und erwartbare Konsequenzen.
Es sind daher gesetzgeberische und sonstige staatliche Maßnahmen notwendig, um den Unterschieden in den Lebensbedingungen von Betroffenen entgegenzuwirken und allen einen Zugang zu palliativmedizinischer Versorgung zu ermöglichen. Dessen ungeachtet darf die Freiheit des Einzelnen, über sein Leben in Integrität und Identität selbst zu bestimmen und damit in diesem Zusammenhang zu entscheiden, dieses auch mit Hilfe Dritter zu beenden, nicht schlechthin verneint werden.
Ob der Entschluss eines Suizidwilligen, seinem Leben mit Hilfe eines Dritten ein Ende zu setzen, und die tatsächliche Vornahme der Tötung durch den Suizidwilligen selbst auf einer freien Selbstbestimmung basiert, mag unter bestimmten Umständen schwierig festzustellen sein. Dies darf jedoch nicht als Rechtfertigung dafür genommen werden, durch ein ausnahmsloses Verbot jegliche Hilfeleistung zur Selbsttötung welcher Art und Form auch immer gemäß §78 zweiter Tatbestand StGB zu untersagen und damit das Recht des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich das Leben mit Hilfe eines Dritten zu nehmen, unter allen Umständen zu verneinen.
Da §78 zweiter Fall StGB jede Art der Hilfeleistung zur Selbsttötung ausnahmslos verbietet, sohin auch ein Sterben in der vom Suizidwilligen gewollten Würde nicht möglich ist, verstößt diese Regelung gegen das aus der Bundesverfassung ableitbare Recht auf Selbstbestimmung.
An der Verfassungswidrigkeit des §78 zweiter Tatbestand StGB vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Gesetzgeber mit den Strafzumessungsregeln sowie dem außerordentlichen Milderungsrecht gemäß §41 StGB Instrumente vorgesehen hat, die auf der Ebene der Strafzumessung für eine schuldangemessene Differenzierung bei Vorliegen von (erheblichen) Milderungsgründen sorgen können. Die Strafzumessung im jeweiligen Einzelfall kann nämlich nicht den objektiven Unrechtsvorwurf, den §78 zweiter Fall StGB pauschal und ohne Differenzierung allen denkbaren Hilfestellungen zur Selbsttötung beimisst, beseitigen.
Keine Verfassungswidrigkeit der Wortfolge "Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten" des § 78 StGB:
Aus den vorstehenden Ausführungen wird deutlich, dass die Entscheidung des Suizidwilligen, sich unter Mitwirkung eines Dritten zu töten, nur dann Grundrechtsschutz genießen kann, wenn diese Entscheidung auf einer freien und unbeeinflussten Entscheidung fußt. Da diese Voraussetzung bei §78 erster Tatbestand StGB von Vornherein nicht erfüllt wird, verstößt diese Regelung weder gegen den Gleichheitsgrundsatz gemäß Art2 StGG und Art7 Abs1 B-VG noch gegen das Recht auf Privatleben gemäß Art8 EMRK oder gegen ein anderes verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht.
Da es verschiedene, im Vorhinein nur schwer vorauszusehende, aktive Handlungen der psychischen Beeinflussung geben kann, die (vorsätzlich) bei einem anderen den Entschluss des Suizides erwecken, hat der Gesetzgeber bewusst auf eine abschließende Festlegung verzichtet. Damit weist der Tatbestand des "Verleitens" zur Selbsttötung gemäß §78 erster Fall StGB zwar (notwendigerweise) eine bestimmte Offenheit auf; insbesondere im Hinblick auf die zu §78 erster Fall StGB ergangene Rechtsprechung ist der Straftatbestand jedoch einer Auslegung zugänglich: Der Begriff des "Verleitens" in §78 StGB (als erster Tatbestand) ist nach der Rsp des OGH als Anstiftungsverhalten zu verstehen. Die von den Antragstellern gegen §78 erster Fall StGB unter dem Blickwinkel des Art18 B-VG vorgebrachten Bedenken gehen somit ins Leere.
Zur Herstellung eines verfassungskonformen Rechtszustandes genügt es, die Wortfolge "oder ihm dazu Hilfe leistet," in §78 StGB aufzuheben. Der erste und zweite Tatbestand des §78 StGB stehen auch nicht in einem untrennbaren Zusammenhang, der es erforderte, §78 StGB zur Gänze aufzuheben.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Strafrecht, Recht auf Leben, Privat- und Familienleben, Rechtsbegriffe unbestimmte, VfGH / Individualantrag, Rechtspolitik, VfGH / Weg zumutbarer, VfGH / Verwerfungsumfang, VfGH / Fristsetzung, Rechte höchstpersönliche, Determinierungsgebot, VfGH / VerhandlungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:G139.2019Zuletzt aktualisiert am
06.04.2022