TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/3 W178 2166871-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.09.2020
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Entscheidungsdatum

03.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W178 2166871-1/12E

Schriftliche Ausfertigung des am 14.07.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch Drin Maria Parzer als Einzelrichterin über die Beschwerde von Herrn XXXX ), geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Gerhard MORY, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.07.2017, Zahl 1091266008-151563014, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.07.2020 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Der Beschwerde zu Spruchpunkt II. wird Folge gegeben und es wird gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 Herrn XXXX ) der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird Herrn XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 14.07.2021 erteilt.

III.    Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (in der Folge: Bf), Herr XXXX ) stellte am 15.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2.       Bei seiner niederschriftlichen Erstbefragung durch die Polizei am 16.10.2015 gab der Bf an, dass sein Vater von dessen Feinden entführt und getötet worden wäre. Aus diesem Grund sei die Mutter des Bf mit ihm und seinen beiden Schwestern in den Iran geflohen. Da er im Iran illegal aufhältig gewesen sei, habe er Angst, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, von den Feinden seines Vaters getötet zu werden.

3.       Am 13.07.2017 wurde der Bf von einem Organ des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA oder belangte Behörde) einvernommen. Dabei brachte er zusammengefasst Folgendes vor: er sei ledig, gesund und kinderlos. Seine Muttersprache sei Dari, er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an und sei in Baghlan-Share Now-Gholambei geboren worden. Er habe einen Onkel, der zuletzt in Baghlan gelebt habe, doch bestehe derzeit kein Kontakt zu ihm, wodurch sein aktueller Aufenthalt unbekannt sei. Zwei Tanten seien bereits verstorben.
Er habe wenige Erinnerungen an Afghanistan, das Geschäft seiner Familie sei aber verkauft und das Haus seiner Familie zurückgelassen worden, als seine Mutter mit ihm und seinen Geschwistern in den Iran flüchtete. Sein Vater sei getötet wurden, woraufhin der Bf mit seiner Mutter und seinen beiden älteren Schwestern in den Iran geflüchtet sei. Mittlerweile sei auch seine Mutter verstorben. Zu seinen beiden Schwestern bestehe noch regelmäßiger Kontakt; diese lebten mit ihren Ehemännern im Iran in Teheran.
Er habe vier Jahre lang eine afghanische Schule im Iran besucht, weshalb er lesen und – mit leichten Problemen – auch schreiben könne. Er habe darüber hinaus über mehrere Jahre praktische Berufserfahrung als Tischler gesammelt.
Im Iran sei er illegal aufhältig gewesen, habe keine reguläre Schule besuchen und keine Ausbildung machen können. Als Afghane werde er benachteiligt, was durch sein sunnitisches Glaubenbekenntnis weiter verschärft werde. Da er kein Paschtu spreche, dies aber von den Taliban verlangt werde, habe er bei der Ausreise auch davor zurückgeschreckt, sich in einem anderen Landesteil von Afghanistan nieder zu lassen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst um sein Leben; die Lage vor Ort sei sehr schlecht, es gebe viele Anschläge. Er habe in Afghanistan niemanden mehr.
In Österreich habe er Kontakt zu einer österreichischen Familie und besuche derzeit einen Deutschsprachkurs auf dem Niveau A2. In Zukunft möchte er gerne Deutsch lernen, eine Ausbildung zum Tischler machen und später studieren.

4.       Mit Bescheid vom 19.07.2017, Zl.: 1091266008-151563014 wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Die belangte Behörde erteilte dem Bf keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte fest, dass die Abschiebung des Bf nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 gewährte die belangte Behörde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

5.       Gegen diesen Bescheid erhob der Bf am 03.08.2017 fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass die Behörde es versäumt habe, den Hinweisen auf seine Verfolgungsgründe von Amts wegen weiter nachzugehen. Nach dem Mord an seinem Vater und der Flucht der Familie in den Iran fürchte der Bf von den Feinden seines Vaters getötet zu werden, sollte er zurückgeschickt werden. Die Befragung zum Fluchtgrund vor der Behörde sei völlig unzureichend hinsichtlich der Ermittlung des wesentlichen Sachverhaltes. Die belangte Behörde habe sich unzureichend mit den Angaben des Bf auseinandergesetzt und somit eine nicht nachvollziehbare Beweiswürdigung vorgenommen. Der Bescheid werde folglich wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten. Die Beschwerde wurde am 01.07.2020 durch eine umfassende Stellungnahme insbesondere hinsichtlich der COVID-19-Pandemie ergänzt.

6.       Das Bundesverwaltungsgericht führte am 14.07.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Bf wurde im Beisein eines Vertreters der belangten Behörde und eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und zu seiner Situation befragt. Sein Rechtsvertreter nahm entschuldigt nicht teil. Der Bf legte diverse Integrationsunterlagen vor, die zum Verhandlungsprotokoll genommen wurden.

7.        Mit 21.07.2020 stellte die belangte Behörde einen Antrag nach § 29 Abs 4 VwGVG auf schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Bf führt den Namen XXXX ) und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Er ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Seine Sprachfärbung deutet dabei auf eine lange Aufenthaltsdauer im Iran hin. Er spricht zudem Farsi und Deutsch. Er ist gesund, ledig und kinderlos.

Der Bf wurde in der Provinz Baghlan, im Distrikt XXXX geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zwei Schwestern bis zum Alter von 6 Jahren auf. Nach dem Tod seines Vaters übersiedelte er mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern 2002 in den Iran. Dort besuchte er etwa 4 Jahre lang eine inoffizielle Schule für afghanische Kinder, wo er etwas lesen und schreiben lernte. Seine Mutter ist 2012 verstorben, seine beiden Schwestern leben mit ihren Ehemännern und Familien im Iran. Ein Onkel väterlicherseits lebt noch in Afghanistan, allerdings hat der Bf keinen Kontakt zu diesem.

Der Bf hat seit dem Alter von 13 Jahren als Hilfsarbeiter in einer Tischlerei gearbeitet. Er hat dabei allerdings keine formale Ausbildung vom Tischler erworben oder auch nur begonnen. Seine Mutter und seine Schwestern haben in der Landwirtschaft als Erntehelferinnen gearbeitet.

Der Bf hat sich in Afghanistan nur in seinem Heimatdorf aufgehalten und auch das nur in den ersten 6 Jahren seines Lebens. Er verfügt daher über keine nennenswerten Ortskenntnisse in den größeren Städten Afghanistans (Kabul, Herat, Mazar-e-Sharif) und nur über eingeschränkte Kenntnisse der afghanischen Gepflogenheiten.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Bf individuell und konkret keine Verfolgung durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Dem Bf droht auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen und keine Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Tadschiken.

Die Ermordung des Vaters liegt 18 Jahre zurück und die Umstände weisen auf keine asylrelevante Verfolgung hin. Eine Verfolgung oder konkrete Bedrohung seiner eigenen Person oder eines seiner Familienmitglieder seither hat der Bf weder behauptet noch finden sich Hinweise darauf.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Bf hält sich zumindest seit Oktober 2015 durchgehend, sohin seit 4 Jahren und 10 Monaten, in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 15.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Bf verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2. Darüber hinaus bereitet er sich aktuell auf seine B1-Prüfung vor.

Er hat den Pflichtschulabschluss am 04.07.2019 erworben und besucht derzeit ein Gymnasium für Berufstätige.

Der Bf geht in seiner Freizeit ins Fitness-Center, schaut Deutsch-Lernfilme und fährt Rad. Letztgenannte Sportart übt er auch in einem Verein, dem RC Union Radwerk2010 Eugendorf, aus. Er ist umfassend integriert und hat in Österreich einen gemischten Freundeskreis, der sowohl aus afghanischen als auch aus österreichischen Personen besteht.

Der Beschwerdeführer wird von Vertrauenspersonen, so etwa von seinem Quartiergeber, seinen Deutschlehrerinnen und Unterstützerinnen als wissbegierig, hilfsbereit, verlässlich, respektvoll und freundlich beschrieben.

Nach dem Abschluss seiner Ausbildung plant er als Metalltechniker oder Techniker zu arbeiten sowie – nach Möglichkeit – zu studieren.

1.4.    Zur Situation im Herkunftsstaat (Länderberichte)

Zur Situation im Herkunftsstaat wird auf die aktuellen Länderfeststellungen der Staatendokumentation vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Teilaktualisierung: 29.06.2020 (in der Folge: LIB), sowie die Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender des Hohen Flüchtlingskommissars der Verein Nationen vom 30.08.2018 in ihrer deutschen Übersetzung (in der Folge: UNHCR-Richtlinie) und die Country Guidance: Afghanistan aus Juni 2019 des European Asylum Support Office (in der Folge: EASO Country Guidance) verwiesen.

Darüber hinaus wird speziell bezüglich der Situation infolge der COVID-19-Pandemie neben den einschlägigen Aktualisierungen der oben genannten Dokumente auf folgende Berichte verwiesen: EASO Special Report: Asylum Trends and COVID-19 vom 07.05.2020, Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und Rückkehrerlnnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020, abrufbar unter https://www.ecoi.net/de/dokument/2031621.html ; Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report vom 06.05.2020, abrufbar unter XXXX

Es wurden Berichte aus unterschiedlichen Quellen herangezogen, um die Feststellungen auf ein möglichst breites Spektrum von Informationen zu stützen.

1.4.1. Zur Herkunftsprovinz Baghlan

1.4.1.1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Teilaktualisierung: 29.06.2020 (in der Folge: LIB), S. 64 ff

Baghlan, das sich im Nordosten Afghanistans befindet, grenzt an die Provinzen Bamyan, Samangan, Kunduz, Takhar, Panjshir, Parwan (UNOCHA 4.2014), und in einem sehr kleinen Abschnitt an Balkh (AIMS o.D.). Baghlan ist in die folgenden 15 Distrikte unterteilt: Andarab, Baghlan-e-Jadeed (auch bekannt als Baghlan-e-Markazi), Burka, Dahana-e-Ghuri, Deh Salah, Dushi, Firing Wa Gharu, Gozargah-e-S. Noor, Khinjan, Khost Wa Firing, Khwaja hejran (Jalga), Nahreen, Pul-e-Hisar, Pul-i-Khumri und Tala Wa Barfak. Die Hauptstadt der Provinz ist Pul-i-Khumri (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Die zentrale Statistikorganisation Afghanistan (CSO) schätzt die Bevölkerung von Baghlan für den Zeitraum 2019-20 auf 995.814 Personen (CSO 2019). Eine knappe Mehrheit der Einwohner von Baghlan sind Tadschiken, gefolgt von Paschtunen und Hazara als zweit- bzw. drittgrößte ethnische Gruppen. Außerdem leben ethnische Usbeken und Tataren in Baghlan (NPS o.D.).

Baghlan befindet sich auf der Kabul-Nord-Route, welche insgesamt neun Provinzen miteinander verbindet (PAJ o.D.). Dies ist die einzige Trans-Hindukush-Autobahn in Afghanistan und die wichtigste Transitroute zwischen Kabul und dem Norden des Landes (AAN 21.10.2015). Die Sicherheit entlang der Autobahn ist auch bedeutsam für die Energieversorgung Kabuls, da Stromleitungen aus Tadschikistan und Usbekistan entlang dieser verlaufen (AT 29.3.2019; PAJ 14.4.2018; KP 19.3.2018).

Gemäß dem UNODC Opium Survey 2018 gehörte Baghlan im Jahr 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. Der Schlafmohnanbau blieb in Baghlan im Jahr 2018 im Vergleich zu 2017 ungefähr gleich (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Baghlan zählt zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans; Aufständische der Taliban sind in gewissen unruhigen Distrikten aktiv, in denen sie oftmals terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitsinstitutionen durchführen (KP 20.5.2019; vgl. KP 11.6.2019, KP 11.4.2019). Im Dezember 2018 erklärte das afghanische Innenministerium (MoI), dass Baghlan zu den Provinzen mit einer hohen Taliban-Präsenz gehört und dass afghanische Streitkräfte in Teilen der Provinz in tödliche Kämpfe verwickelt sind (TN 26.12.2018). Zwischen 2014 und 2018 wurde in Baghlan ein Angriff des ISKP gezählt (CTC 3.12.2018).

Aufseiten der Regierungstruppen liegt Baghlan im Verantwortungsbereich des 217. ANA Corps, das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 349 zivile Opfer (123 Tote und 226 Verletzte) in der Provinz Baghlan. Dies entspricht einer Steigerung von 34% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von gezielten Tötungen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) (UNAMA 2.2020).

Baghlan liegt im Fokus der im April 2019 von der Regierung beschlossenen „Operation Khalid“ (UNGASC 14.6.2019). Seit dem Jahr 2018 führen die ANDSF regelmäßig Operationen in der Provinz durch (KP 20.5.2019; vgl. PAJ 5.11.2018; PAJ 11.9.2018). Bereits im November wurden zusätzliche Sicherheitskräfte vom Verteidigungsministerium als Verstärkung nach Baghlan entsandt (TN 8.11.2018). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Regierungstruppen und den Taliban finden statt (TN 3.9.2019; vgl. 13.9.2019). Taliban-Kämpfer griffen im Mai 2019 in der Provinzhauptstadt Pul-i-Khumri Sicherheitskräfte an (AJ 5.5.2019) und im September 2019 die Provinzhauptstadt Pul-i-Khumri selbst (NZZ 1.9.2019) und lieferten sich weitere bewaffnete Zusammenstöße. Die Verbindungsstraßen in die Hauptstadt waren temporär gesperrt (TN 3.9.2019) und waren erst nach großangelegten Sicherheitsoperationen der afghanischen Regierungstruppen wiedereröffnet worden (TN 13.9.2019).

1.4.1.2. EASO Country Guidance (S. 91 f)

Baghlan province borders the provinces of Bamyan, Samangan, Kunduz, Takhar, Panjshir, Parwan, and Balkh on a short stretch, and is divided into 15 districts. Baghlan is known to be an economic hub connected to eight other provinces by the Kabul-North highway, which is also of strategic importance for military operations.

Baghlan is among the provinces with a high Taliban presence and Afghan forces have been engaged in deadly battles in parts of the province. Jundullah, which has affiliated itself with ISKP, also has presence in the province.

The majority of the districts are categorised by LWJ as contested, with one district considered under Taliban control, and one district categorised as under government control or undetermined.

According to GIM, 131 incidents related to insurgents were reported in the period of January 2018 – February 2019 (average of 2.2 incidents per week).

Examples of incidents include kidnappings, Taliban attacks on checkpoints, electoral violence in Pul-e Khumri, districts being temporarily overrun/controlled by the Taliban, clearing operations by government forces, mortar shell attacks on civilian houses with resulting deaths.

UNAMA documented 261 civilian casualties (68 deaths and 193 injured) in 2018, representing 27 civilian victims per 100 000 inhabitants. This is an increase of 17 % compared to 2017. The leading causes for the civilian casualties were ground engagements, followed by (non-suicide) IEDs and targeted killings.

In the period 1 January 2018 – 28 February 2019, 13 491 persons were displaced from the province of Baghlan, within the province itself as well as to other provinces.

In the map depicting conflict severity in 2018, UNOCHA places the district Pul-e-Khumri in the highest category. Baghlan-e-Jadid and Burka districts are placed in the second highest category. The remaining districts fall in the lower categories.

Further impact on the civilian population includes taxes being imposed by the Taliban in regions under their control and damage of civilian property.

Looking at the indicators, it can be concluded that indiscriminate violence is taking place in the province of Baghlan, however not at a high level and, accordingly, a higher level of individual elements is required in order to show substantial grounds for believing that a civilian, returned to the territory, would face a real risk of serious harm within the meaning of Article 15(c) QD.

Zusammenfassung: Die Herkunftsprovinz des Bf, die Provinz Baghlan, weist eine allgemein schlechte Sicherheitslage auf und gehört zu den volatilsten Provinzen Afghanistans.

1.4.2 LIB, Kapitel zu Wirtschaft und Versorgungslage in den Städten Herat, Kabul und Mazar-e Sharif

Kabul

Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen tätig ist (CSO 8.6.2017). Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist (USIP 10.4.2017). Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung (CSO 8.6.2017). Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten (USIP 10.4.2017). Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten (USIP 10.4.2017).

Ergebnisse einer Studie ergaben, dass Kabul unter den untersuchten Provinzen den geringsten Anteil an Arbeitsplätzen im Agrarsektor hat, dafür eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Die besten (Arbeits)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (49,6 Prozent). Im Gegensatz dazu zeigt die Provinz Ghor ist der traditionelle Agrarsektor hier bei weitem der größte Arbeitgeber, des Weiteren, existieren hier sehr wenige Möglichkeiten (Jobs und Ausbildung) für Kinder, Jugendliche und Frauen (CSO 8.6.2019).

Herat

Der Einschätzung einer in Afghanistan tätigen internationalen NGO zufolge gehört Herat zu den „bessergestellten“ und „sichereren Provinzen“ Afghanistans und weist historisch im Vergleich mit anderen Teilen des Landes wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf (BFA 13.6.2019). Aufgrund der sehr jungen Bevölkerung ist der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter in Herat – wie auch in anderen afghanischen Städten – vergleichsweise klein. Erwerbstätige müssen also eine große Anzahl an von ihnen abhängigen Personen versorgen. Hinzu kommt, dass die Hälfte der arbeitstätigen Bevölkerung in Herat Tagelöhner sind, welche Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt in besonderem Ausmaß ausgesetzt sind (USIP 2.4.2015).

Die Herater Wirtschaft bietet seit langem Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran (GOIRA 2015; vgl. EASO 4.2019, WB/NSIA 9.2018), wie auch Bergbau und Produktion (EASO 4.2019). Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt (GOIRA 2015; vgl. EASO 4.2019). Manche alten Handwerksberufe (Teppichknüpfereien, Glasbläsereien, die Herstellung von Stickereien) haben es geschafft zu überleben, während sich auch bestimmte moderne Industrien entwickelt haben (z.B. Lebensmittelverarbeitung und Verpackung) (EASO 4.2019). Die meisten der in KMUs Beschäftigten sind entweder Tagelöhner oder kleine Unternehmer (GOIRA 2015). Die Arbeitsplätze sind allerdings von der volatilen Sicherheitslage bedroht (insbesondere Entführungen von Geschäftsleuten oder deren Angehörigen durch kriminelle Netzwerke, im stillen Einverständnis mit der Polizei). Als weitere Probleme werden Stromknappheit, bzw. -ausfälle, Schwierigkeiten, mit iranischen oder anderen ausländischen Importen zu konkurrieren und eine steigende Arbeitslosigkeit genannt (EASO 4.2019).

Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan, wie auch ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten (GOIRA 2015).

Dürre und Überschwemmungen

Während der Wintersaat von Dezember 2017 bis Februar 2018 gab es in Afghanistan eine ausgedehnte Zeit der Trockenheit. Dies verschlechterte die Situation für die von Lebensmittelunsicherheit geprägte Bevölkerung weiter und hatte zerstörerische Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, was wiederum zu Binnenflucht führte und es den Binnenvertriebenen mittelfristig erschwert, sich wirtschaftlich zu erholen sowie die Grundbedürfnisse selbständig zu decken (FAO 23.11.2018; vgl. AJ 12.8.2018).

Günstige Regenfälle im Frühling und beinahe normale Temperaturen haben 2019 die Weidebedingungen wieder verbessert. Da sich viele Haushalte noch von der Dürre des Jahres 2018 erholen müssen, gilt die Ernährungslage für viele Haushalte im Zeitraum 10.2019-1.2020, weiterhin als „angespannt“ bis „krisenhaft“. Es wird erwartet, dass viele Haushalte vor allem in den höher gelegenen Regionen ihre Vorräte vor dem Winter aufbrauchen werden und bei begrenztem Einkommen und Zugang auf Märkte angewiesen sein werden (FEWS NET 8.2019).

Im März 2019 fanden in Afghanistan Überschwemmungen statt, welche Schätzungen zufolge, Auswirkungen auf mehr als 120.000 Personen in 14 Provinzen hatten. Sturzfluten Ende März 2019 hatten insbesondere für die Bevölkerung in den Provinzen Balkh und Herat schlimme Auswirkungen (WHO 3.2019). Unter anderem waren von den Überschwemmungen auch Menschen betroffen, die zuvor von der Dürre vertrieben wurden (GN 6.3.2019).

Armut und Lebensmittelsicherheit

Einer Befragung aus dem Jahr 2016/2017 an rund 155.000 Personen zufolge (Afghan Living Condition Survey - ALCS), sind rund 45% oder 13 Millionen Menschen in Afghanistan von anhaltender oder vorübergehender Lebensmittelunsicherheit betroffen (CSO 2018; vgl. USAID 11.4.2019), wobei der Anteil der Betroffenen im Osten, Norden und Nordosten am höchsten ist (CSO 2018). Gegenüber dem Zeitraum 2011-12 ist ihr Anteil bei einem Ausgangsniveau von 30% um 15 Prozentpunkte gestiegen (CSO 2018).

Im Zeitraum 2016-17 lebten dem ALCS zufolge 54,5% der Afghanen unter der Armutsgrenze. Gegenüber früheren Erhebungen ist der Anteil an armen Menschen in Afghanistan somit gestiegen (2007-08: 33,7%, 2011-12: 38,3%). Im ländlichen Raum war der Anteil an Bewohnern unter der Armutsgrenze mit 58,6% höher als im städtischen Bereich (41,6%) (CSO 2018). Es bestehen regionale Unterschiede: In den Provinzen Badghis, Nuristan, Kundus, Zabul, Helmand, Samangan, Uruzgan und Ghor betrug der Anteil an Menschen unter der Armutsgrenze gemäß offizieller Statistik 70% oder mehr, während er in einer Provinz – Kabul – unter 20% lag (NSIA 2019). Schätzungen zufolge, ist beispielsweise der Anteil der Bewohner unter der Armutsgrenze in Kabul-Stadt und Herat-Stadt bei rund 34-35%. Damit ist der Anteil an armen Menschen in den beiden urbanen Zentren zwar geringer als in den ländlichen Distrikten der jeweiligen Provinzen, jedoch ist ihre Anzahl aufgrund der Bevölkerungsdichte der Städte dennoch vergleichsweise hoch. Rund 1,1 Millionen Bewohner von Kabul-Stadt leben unter der Armutsgrenze. In Herat-Stadt beträgt ihre Anzahl rund 327.000 (WB/NSIA 9.2018).

2018 gaben rund 30% der 15.012 Befragten an, dass sich die Qualität ihrer Ernährung verschlechtert hat, während rund 17% von einer Verbesserung sprachen und die Situation für rund 53% gleichblieb. Im Jahr 2018 lag der Anteil der Personen, welche angaben, dass sich ihre Ernährungssituation verschlechtert habe, im Westen des Landes über dem Anteil in ganz Afghanistan. Beispielsweise die Provinz Badghis war hier von einer Dürre betroffen (AF 2018).

1.4.3 UNHCR, Richtlinien, Abschnitt III.C.4:

Im konkreten Fall von Kabul als einer vorgeschlagenen internen Schutzalternative, sieht UNHCR folgende Leitlinien vor.

Zur Beurteilung der Relevanz von Kabul als möglicher interner Schutzalternative und insbesondere des Risikos, dass der Betroffene einer tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens – einschließlich einer schwerwiegenden Gefahr für Leben, Sicherheit, Freiheit oder Gesundheit, oder schwerer Diskriminierung – ausgesetzt wäre, müssen die Entscheidungsträger die negativen Trends in Bezug auf die Sicherheitslage für Zivilisten in Kabul gebührend berücksichtigen. Von besonderer Bedeutung ist hier der Jahresbericht der UNAMA vom Februar 2018 über den Schutz von Zivilpersonen, in dem es heißt, dass die Mission 2017 „wieder Höchstwerte im Hinblick auf die Zahl ziviler Opfer in der Provinz Kabul dokumentierte, die vor allem auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren. Von den in der Provinz Kabul registrierten 1 831 zivilen Opfern (479 Tote und 1 352 Verletzte) resultierten 88 Prozent aus Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) in der Stadt Kabul”. UNAMA berichtete, dass die Zahl der 2017 durch Selbstmordanschläge und komplexe Angriffe in der Stadt Kabul ums Leben gekommenen oder verletzten Zivilisten 70 Prozent aller 2017 dokumentierten zivilen Opfer solcher Angriffe in Afghanistan ausmachte.

UNHCR stellt fest, dass Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt bestehenden Gefahr zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.

Zur Beurteilung der Zumutbarkeit von Kabul als vorgeschlagener interner Schutzalternative muss festgestellt werden, dass die Person Zugang zu Folgendem hat:

(i)      einer Unterkunft;

(ii)    grundlegender Versorgung, wie Trinkwasser, sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung;

(iii)   Lebensgrundlagen oder erwiesener und nachhaltiger Unterstützung, um einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen.

Maßgebliche Informationen, die die Entscheidungsträger diesbezüglich zu berücksichtigen haben, sind unter anderem die schwerwiegenden Bedenken, die Akteure der humanitären Hilfe und Entwicklungsarbeit hinsichtlich der begrenzten Aufnahmekapazität Kabuls zum Ausdruck gebracht haben. Seit dem Fall des einstigen Taliban-Regimes 2001 hat die Region Kabul City den größten Bevölkerungszuwachs in Afghanistan erlebt. Offiziellen Bevölkerungsschätzungen zufolge hatte die Region Kabul City Anfang 2016 5 Millionen Einwohner, 60 Prozent davon in der Stadt Kabul. Dazu kamen 2016, wie in Abschnitt II.F beschrieben, über eine Million aus Iran und Pakistan zurückkehrender Afghanen, gefolgt von weiteren 620 000 Heimkehrern im Jahr 2017. Der Protection Cluster in Afghanistan stellte schon im April 2017, nach den Rückkehrerströmen von 2016, aber noch vor den meisten Rückkehrern des Jahres 2017, Folgendes fest: „Der enorme Anstieg der Zahl der Heimkehrer [aus Pakistan und Iran] führte zu einer extremen Belastung der bereits an ihre Grenzen gelangten Aufnahmekapazität der wichtigsten Provinz- und Distriktzentren Afghanistans, nachdem sich viele Afghanen den Legionen von Binnenvertriebenen anschlossen, da sie aufgrund des sich zuspitzenden Konflikts nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten. [...] Mit begrenzten Lebensgrundlagen, ohne soziale Schutznetze und angewiesen auf schlechte Unterkünfte sind die Vertriebenen nicht nur mit einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert, sondern werden auch in erneute Vertreibung und negative Bewältigungsstrategien gezwungen, wie etwa Kinderarbeit, frühe Verheiratung, weniger und schlechtere Nahrung usw.”

Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen. Das International Growth Centre vermerkte im Januar 2018: „Kabul hat in den letzten drei Jahrzehnten eine rasante Urbanisierung erfahren. Das Bevölkerungswachstum in der Stadt übersteigt die Fähigkeit der Stadt, die nötige Infrastruktur sowie die erforderlichen Versorgungsdienste und Arbeitsplätze für die Bewohner bereitzustellen, wodurch ausgedehnte informelle Siedlungen entstehen, in denen geschätzte 70 Prozent der Stadtbewohner leben.”

Vor dem Hintergrund der allgemeinen Sorge angesichts der zunehmenden Armut in Afghanistan – der Anteil der Bevölkerung, der unter der nationalen Armutsgrenze lebt, ist Berichten zufolge von 34 Prozent in 2007/2008 auf 55 Prozent im Berichtszeitraum 2016/2017 angestiegen – stellte die Asia Foundation in ihrer Erhebung über die afghanische Bevölkerung aus dem Jahr 2017 fest, dass eine Verschlechterung der Finanzlage in der Region Zentralafghanistan/Kabul mit 43,9 Prozent am stärksten wahrnehmbar war. Im Januar 2017 wurde berichtet, dass 55 Prozent der Haushalte in den informellen Siedlungen Kabuls mit ungesicherter Nahrungsmittelversorgung konfrontiert waren.

1.4.4. Zur Situation von Rückkehrern

1.4.4.1. LIB (S. 348 ff)

Seit 1.1.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Die höchste Anzahl an Rückkehrer/innen ohne Papiere aus dem Iran wurden im März 2020 (159.789) verzeichnet. Die Anzahl der seit 1.1.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer/innen aus dem Iran beläuft sich auf 29.019. Seit Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan (Anm.: 23.4.-24.5.2020) hat sich die Anzahl der Rückkehr/innen (undokumentierter, aber auch unterstützter Rückkehr/innen) reduziert. Im gleichen Zeitraum kehrten 1.833 undokumentierte und 1.662 von IOM unterstütze Personen aus Pakistan nach Afghanistan zurück (IOM 11.3.2020). Pakistan hat temporär und aufgrund der COVID-19-Krise seine Grenze nach Afghanistan geschlossen (VoA 4.4.2020; vgl. IOM 11.5.2020; TN 18.3.2020; TiN 13.3.2020). Durch das sogenannte „Friendship Gate“ in Chaman (Anm.: in Balochistan/ Spin Boldak, Kandahar) wurden im April 37.000 afghanische Familien auf ausdrücklichen Wunsch der afghanischen Regierung von Pakistan nach Afghanistan gelassen. An einem weiteren Tag im Mai 2020 kehrten insgesamt 2.977 afghanische Staatsbürger/innen nach Afghanistan zurück, die zuvor in unterschiedlichen Regionen Balochistans gestrandet waren (DA 10.5.2020).

Im Zeitraum 1.1.2019 – 4.1.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan (IOM 4.1.2020). Im Jahr 2018 kehrten aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 nach Afghanistan zurück: 773.125 aus dem Iran und 32.725 aus Pakistan (IOM 5.1.2019). Im Jahr 2017 stammten 464.000 Rückkehrer aus dem Iran 464.000 und 154.000 aus Pakistan (AA 2.9.2019).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrer als positiv empfunden (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020). Jedoch ist der Reintegrationsprozess der Rückkehrer oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (BFA 4.2018). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 2.9.2019).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (BFA 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (BFA 4.2018).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 2.9.2019). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (BFA 13.6.2019).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 2.9.2019). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (BFA 13.6.2019).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (AA 2.9.2019). Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig (USDOS 13.3.2019). Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (BFA 13.6.2019).

Viele Rückkehrer, die wieder in Afghanistan sind, werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Trotz offenem Werben für Rückkehr sind essentielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet (AAN 31.1.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA 4.2018). Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer (BFA 4.2018; vgl. Asylos 8.2017). Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück (AAN 19.5.2017).

In Kooperation mit Partnerninstitutionen des European Return and Reintegration Network (ERRIN) wird im Rahmen des ERRIN Specific Action Program sozioökonomische Reintegrationsunterstützung in Form von Beratung und Vermittlung für freiwillige und erzwungene Rückkehrer angeboten (IRARA 9.5.2019).

Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung

Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement. Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen (BFA 4.2018).

Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden (Kandiwal 9.2018; vgl. UNHCR 6.2008). Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess (Kandiwal 9.2018; vgl. UNAMA 3.2015, AAN 29.3.2016, WB/UNHCR 20.9.2017). Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller bzw. die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzen. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen (Kandiwal 9.2018). Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen (IDMC/NRC 2.2014).

Bereits 2017 hat die afghanische Regierung mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben mit neuer rechtlicher Grundlage an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Eine Hürde ist die Identifizierung von geeigneten, im Staatsbesitz befindlichen Ländereien. Generell führt die unklare Landverteilung häufig zu Streitigkeiten. Gründe hierfür sind die jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, mangelhafte Verwaltung und Dokumentation von An- und Verkäufen, das große Bevölkerungswachstum sowie das Fehlen eines funktionierenden Katasterwesens. So liegen dem afghanischen Innenministerium Berichte über widerrechtliche Aneignung von Land aus 30 Provinzen vor (AA 2.7.2019).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

1.4.4.2 EASO Country Guidance, S. 139:

This profile refers to Afghans who were born in or have spent a very long period as a refugee or a migrant in Iran or Pakistan. Not being accustomed to Afghan norms and expectations and having no support network in Afghanistan may lead to difficulties in finding job or shelter. Afghans who lived outside Afghanistan for a long period of time may also have a strong accent, which would be a further obstacle in finding a job. Afghans who grew up in Iran and are perceived as ‘Iranised’ or ‘not Afghan enough’ may sometimes receive offensive comments. In general, the treatment faced by individuals under this profile would not amount to persecution. In exceptional cases and based on additional individual circumstances, the accumulation of measures, including violations of human rights which is sufficiently severe as to affect an individual in a similar manner, could amount to persecution. (EASO Country Guidance, S. 75)

Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsistence means and basic services. An existing support network could also provide the applicant with such local knowledge. The background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as previous experience of living on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations. For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence.

1.4.4.3. UNHCR-Richtlinie, S. 124 f zur Frage der Rückkehrer:

Aufgrund der komplexen Situation in Afghanistan, die die Region als Ganzes betrifft, haben die Islamischen Republiken Iran, Afghanistan und Pakistan mit Unterstützung von UNHCR 2011 einen vierseitigen Konsultationsprozess initiiert, um langfristige Lösungen für afghanische Flüchtlinge in der Region zu ermitteln und umzusetzen. Auf Grundlage dieses Prozesses entstand die Solutions Strategy for Afghan Refugees to Support Voluntary Repatriation, Sustainable Reintegration and Assistance for Host Countries (SSAR), die ein umfassendes und integriertes Rahmenwerk für gemeinsame Maßnahmen bietet, dessen Ziel es ist, Asylraum für afghanische Flüchtlinge in den Nachbarländern zu erhalten und die nachhaltige Integration der Afghanen zu unterstützen, die sich freiwillig für eine Rückkehr nach Afghanistan entscheiden. Vor allem Letzteres ist wichtig angesichts der Schwierigkeiten vieler Rückkehrer sich in ihren Heimatgemeinden wiedereinzugliedern. Es wird berichtet, dass es für Rückkehrer außerordentlich schwierig ist, sich ein neues Leben in Afghanistan aufzubauen. Es wird berichtet, dass sie ganz besonders schutzbedürftig sind, da sie kaum Zugang zu Lebensgrundlagen, Nahrungsmitteln und Unterkunft haben. Zu den Problemen, mit denen sowohl Binnenvertriebene als auch zurückkehrende Flüchtlinge konfrontiert sind, zählen die andauernde Unsicherheit in ihren Herkunftsgebieten, der Verlust ihrer Existenzgrundlage und Vermögenswerte, fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Bildung sowie Schwierigkeiten bei der Rückforderung von Land und Besitz. (UNHCR-Richtlinie, S. 41 f)

Der Protection Cluster in Afghanistan stellte schon im April 2017, nach den Rückkehrerströmen von 2016, aber noch vor den meisten Rückkehrern des Jahres 2017, Folgendes fest: „Der enorme Anstieg der Zahl der Heimkehrer [aus Pakistan und Iran] führte zu einer extremen Belastung der bereits an ihre Grenzen gelangten Aufnahmekapazität der wichtigsten Provinz- und Distriktzentren Afghanistans, nachdem sich viele Afghanen den Legionen von Binnenvertriebenen anschlossen, da sie aufgrund des sich zuspitzenden Konflikts nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten. [...] Mit begrenzten Lebensgrundlagen, ohne soziale Schutznetze und angewiesen auf schlechte Unterkünfte sind die Vertriebenen nicht nur mit einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert, sondern werden auch in erneute Vertreibung und negative Bewältigungsstrategien gezwungen, wie etwa Kinderarbeit, frühe Verheiratung, weniger und schlechtere Nahrung usw.”“ Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen. (UNHCR-Richtlinie, S. 126)

UNHCR ist ferner der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann als zumutbar angesehen werden kann, wenn die Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft hat und man sich vergewissert hat, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne die oben beschriebenen besonderen Gefährdungsfaktoren dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen.

1.4.5. Zu Besonderheiten in Folge der COVID-19-Pandemie

1.4.5.1. Allgemeines

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.

Der Beschwerdeführer ist kein Angehöriger einer Risikogruppe für einen besonders schweren Verlauf der Krankheit.

1.4.5.2. Kurzinformation der Staatendokumentation zu COVID 19 Afghanistan, Stand 29.06.2020

1.4.5.3 ACCORD- Austrian Centre for Country of Oirigin and Asylum Research and Documentation, Afghanistan, Covid-19 (allgemeine Informationen, Lockdown-Maßnahmen, Proteste, Auswirkugnen auf das Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen, Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung)

- Allgemeine Informationen zur Anzahl der Covid-19 Fälle und Lockdown –Maßnahmen

Am 3. Juni 2020 berichtet UNOCHA, dass in Afghanistan 15.451 Personen positiv auf Covid-19 getestet worden seien. Etwa 1.522 Personen hätten sich bislang von der Krankheit erholt und 297 Personen seien verstorben. Insgesamt seien 42.273 Personen getestet worden. Afghanistan habe 37,6 Millionen EinwohnerInnen. Unter den Covid-19-Toten befänden sich 13 MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens. Über fünf Prozent der bestätigten Covid-19 Fälle seien unter MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens aufgetreten. Großteils seien Personen zwischen 40 und 69 Jahren an Covid-19 verstorben. (UNOCHA, 3. Juni 2020, S. 1)

Einer Pressemitteilung des International Rescue Committee (IRC) vom 1. Juni 2020 zufolge seien die bestätigten Covid-19-Fälle in Afghanistan im Mai 2020 um 684 Prozent gestiegen. Die extrem geringen Testkapazitäten des Landes würden bedeuten, dass viele Fälle nicht getestet und daher nicht erkannt würden. Das Gesundheitsministerium könne laut eigenen Angaben nur 2.000 Fälle täglich testen, würde aber täglich 10.000 bis 20.000 Proben erhalten. Dies bedeute, dass zwischen 80 und 90 Prozent der potenziellen Fälle nicht getestet würden. (IRC, 1. Juni 2020)

Kabul sei UNOCHA zufolge die am schwersten von Covid-19 betroffenene Region des Landes, gefolgt von Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar. Zudem werde erwartet, dass die Fälle in den kommenden Wochen weiter ansteigen. (UNOCHA, 3. Juni 2020, S. 1; UNOCHA, 31. Mai 2020, S. 1)

Am 2. Mai 2020 habe die afghanische Regierung angekündigt, den landesweiten Lockdown auszuweiten. Die bestehenden landesweiten Maßnahmen würden einer Überprüfung unterzogen. Einige Provinzen hätten die Lockdown-Maßnahmen bereits gelockert, darunter die Provinzen Kandahar, Hilmand und Ghazni, Badakhshan, Khost, Paktya, Kunduz und Takhar. Einige Provinzen im Osten des Landes würden weiterhin strengere Lockdown-Maßnahmen durchsetzen (Laghman, Kunar). In Nangarhar würden aufgrund einer steigenden Anzahl von Personen mit möglichen Covid-19-Symptomen weiterreichende physische Abstandsmaßnahmen bestehen. Die Provinzregierung von Balkh habe entschieden, die Quarantäne-Maßnahmen in der Stadt Masar-e Scharif auf einen zehntägigen vollständigen Lockdown auszuweiten, mit Inkrafttreten am 31. Mai 2020. Lebensnotwendige Geschäfte (etwa Apotheken, Bäckereien, Gemüsegeschäfte und Lebensmittelgeschäfte) dürften weiter geöffnet bleiben. Der Rest der Geschäfte/Büros, die am 10. Mai wieder geöffnet hätten (Elektronikgeschäfte, Spielzeugläden, Kleidungsgeschäfte, Schneidereien, Wechselstuben, Friseure), würden erneut geschlossen. Ein ähnlicher Rückgriff auf eine komplette Quarantäne sei in der Stadt Aybak in der Provinz Samangan am 30. Mai 2020 erfolgt. (UNOCHA, 31. Mai 2020, S. 1; vgl. UNOCHA, 3. Juni 2020, S. 1)

UNOCHA berichtet am 18. Mai 2020, dass kommerzielle Flüge nach Afghanistan weiterhin ausgesetzt seien. Es bestehe jedoch eine Luftbrücke zwischen Kabul und Doha, die vom United Nations Humanitarian Air Service (UNHAS) betrieben werde, mit drei wöchentlichen Flügen. UNHAS würde in reduziertem Ausmaß auch innerhalb Afghanistans Flüge durchführen. Kommerzielle Inlandsflüge seien bis nach den Eid-Feiern (24. und 25. Mai 2020) ausgesetzt. (UNOCHA, 18. Mai 2020, S. 2)

Die Kapazitäten Afghanistans zur Bekämpfung des Coronavirus seien einem Bericht des Central Asia-Caucasus Analyst vom 26. Mai 2020 zufolge eingeschränkt. Die Gesundheitsinfrastruktur sei schon immer fragil und schlecht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung vorbereitet gewesen. Der Mangel an Einrichtungen sei nun umso mehr spürbar. Ein akuter Mangel an Testsets, Medikamenten und persönlicher Schutzausrüstung (personal protection equipment, PPE) lege die afghanischen Kapazitäten zum Kampf gegen Covid-19 lahm. (Central Asia-Caucasus Analyst, 26. Mai 2020)

-        Auswirkungen auf die Versorgungslage

Am 7. April 2020 erwähnt The New Humanitarian (TNH), dass Grenzschließungen und Ausfuhrbestimmungen Auswirkungen auf die Versorgungslage hätten und die Nahrungsmittelpreise in die Höhe trieben. Während des Anstiegs der Covid-19-Fälle in den letzten beiden Märzwochen seien die Preise für Weizenmehl landesweit gestiegen, darunter um 20 Prozent in der nordöstlichen Stadt Faizabad. (TNH, 7. April 2020)

Anfang Mai 2020 erwähnt Save the Children ebenfalls die steigenden Nahrungsmittelpreise und weist zudem auf die sinkenden finanziellen Möglichkeiten der Tagelöhner zum Kauf von Nahrungsmitteln hin, da es aufgrund der landesweiten Covid-19-Beschränkungen weniger Gelegenheitsarbeit gebe. Ein großer Teil der afghanischen Arbeitskräfte sei auf den informellen Arbeitsmarkt angewiesen, der bei Arbeitsmangel keine Sicherheitsnetze biete. (Save the Children, 1. Mai 2020)

Auch die Nachrichtenagentur Reuters erwähnt am 5. Mai 2020 die steigenden Nahrungsmittelpreise. Im April 2020 sei die Nahrungsmittelinflation in Kabul dem Ökonomen Omar Joya zufolge bei 16,7 Prozent gelegen. Joya habe als Mitarbeiter des afghanischen Think-Tanks Biruni Institute Zugang zu den neusten Regierungsdaten zur Preisentwicklung. Parvathy Ramaswami vom Welternährungsprogramm in Afghanistan habe angegeben, dass sich die Covid-19-Lage in Afghanistan von einem Gesundheitsnotfall zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise entwickle. (Reuters, 5. Mai 2020)

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF schätzt Ende Mai 2020, dass in Afghanistan 11,9 Millionen Menschen vom Entzug der Nahrungsmittelsicherheit bedroht sein könnten, was wiederum zum Anstieg der multidimensionalen Armut (Einzelindikatoren zur Bemessung: Bildung, Gesundheit und Lebensstandard, Anm. ACCORD) von 51,7 auf 61,4 Prozent führen könnte. (UNICEF, 29. Mai 2020)

Humanitarians remain concerned about the impact of extended lockdown measures on the most-vulnerable, particularly families who rely on causal daily labour and lack alternative income sources. According to WFP’s market monitoring, the prices of wheat flour, rice, pulses or cooking oil have increased by 15 per cent between 14 March and 4 May, while the cost of pulses, sugar and rice increased by 14 per cent, 7 per cent, and 9 per cent, respectively, over the same period. FSAC partners have also noted that the purchasing power of casual labourers and pastoralists has significantly deteriorated by 18 per cent and 10 per cent, respectively, due to price increases and decreased wages (compared to 14th March). Already, humanitarian partners note a rise in protection risks as vulnerable households resort to negative coping mechanisms to meet basic subsistence needs. As public fear of COVID-19 spreads, humanitarians remain concerned about potential stigmatisation of and discrimination against those who are perceived to have COVID-19, particularly those who have recently returned from neighbouring countries. Humanitarians urge authorities to put additional measures in place to safeguard individuals and families from exclusion and abuse. (OCHA, Afghanistan, 06.05.2020)

-        Stigmatisierung

Einem Bericht des United States Institute of Peace (USIP) vom April 2020 zufolge würden einige AfghanInnen aufgrund der religiösen Stigmatisierung (als Strafe Gottes, Anm. ACCORD) des Virus ihre Symptome verheimlichen und sich weigern medizinische Hilfe in Ans

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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