Entscheidungsdatum
17.09.2020Norm
AsylG 2005 §54 Abs2Spruch
W134 2195251-1/10E
W134 2195255-1/10E
W134 2195235-1/13E
W134 2195240-1/13E
W134 2195238-1/10E
W134 2195247-1/10E
W134 2195243-1/8E
W134 2195257-1/8E
W134 2195249-1/8E
W134 2212643-1/5E
W134 2211666-1/7E
W134 2232177-1/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas GRUBER über die Beschwerden
1. des XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, 15-1096011404-151828018 (W134 2195251-1),
2. der XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, 15-1096011502-151828093 (W134 2195255-1),
3. der XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, 15-1096011905-151828255 (W134 2195235-1),
4. der XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, 15-1096012009-151828344 (W134 2195240-1),
5. der XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, 15-1096012107-151828379 (W134 2195238-1),
6. des XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, 15-1096012205-151828417 (W134 2195247-1),
7. der XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, 15-1096011600-151828131 (W134 2195243-1),
8. der XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, 15-1096011709-151828158 (W134 2195257-1),
9. des XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.04.2018, 15-1096011807-151828204 (W134 2195249-1),
10. der XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.12.2018, 18-1215178207-18120440 (W134 2212643-1),
11. des XXXX , gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.11.2018, 16-1102447110-160082082 (W134 2211666-1) und
12. des XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.05.2020, 1264317209-200377891 (W134 2232177-1)
alle StA. Afghanistan, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung (BF1-BF10) am 12.03.2020 zu Recht:
A)
I. Den Beschwerden der BF1-BF10 und BF12 wird stattgegeben, und
1. dem XXXX ,
2. der XXXX ,
3. der XXXX ,
4. der XXXX ,
5. der XXXX ,
6. dem XXXX
7. der XXXX
8. der XXXX ,
9. dem XXXX ,
10. der XXXX
12. dem XXXX
wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (zu 3. und 4) bzw. gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 AsylG 2005 (zu 1. 2. und 5. bis 10. und 12) der Status der bzw. des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass
1. dem XXXX ,
2. der XXXX ,
3. der XXXX ,
4. der XXXX ,
5. der XXXX ,
6. dem XXXX ,
7. der XXXX ,
8. der XXXX ,
9. dem XXXX ,
10. der XXXX und
12. dem XXXX
damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. und III. des angefochtenen Bescheides des 11. XXXX wird als unbegründet abgewiesen.
III. Der Beschwerde des XXXX wird hinsichtlich Spruchpunkt IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX eine "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführer (1. – 9.) stellten nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 20.11.2015, der Elftbeschwerdeführer am 16.01.2016 die Zehntbeschwerdeführerin am 13.12.2018 und der Zwölftbeschwerdeführer am 04.05.2020 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016.
2. Am 21.11.2015 und am 17.01.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführer statt.
Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: „BF1“ genannt) brachte zunächst vor, dass er verheiratet sei und 7 Kinder habe.
Zu seinem Fluchtgrund befragt brachte der BF1 vor, dass er eine Wechselstube in Kabul betrieben habe. Es seien Leute der Mafia in einer Limousine gekommen und hätten 20.000 Dollar in Afghani wechseln wollen. Dies hätte wo anders stattfinden sollen. Er habe sich geweigert und gesagt, dass er den Wechsel nur in seiner Wechselstube durchführen könne. Daraufhin hätten sich die Leute entfernt. Am Abend sei er nachhause gegangen und habe das gesamte Geld in einem Gürtel um den Bauch getragen. Er habe die Limousinen gesehen und sei davon gelaufen und habe sich versteckt. Er habe nicht zur Polizei gehen können, weil diese Leute mächtiger seien als die Polizei. Er habe seiner Familie nichts davon erzählt. Da sie um ihr Leben fürchteten seien sie am nächsten Tag geflohen.
Die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: „BF2“ genannt) brachte zunächst vor, dass sie mit dem BF1 verheiratet sei.
Zu ihrem Fluchtgrund befragt brachte die BF2 vor, dass ihr Mann spät am Abend nachhause gekommen sei und zu ihr gesagt habe, dass sie schnelle alles packen solle und sie am nächsten Morgen ihre Heimat verlassen würden. Einen Grund für die Flucht habe der BF1 ihr nicht genannt.
Die Drittbeschwerdeführerin (im Folgenden: „BF3“ genannt) brachte zunächst vor, dass sie der Volksgruppe der Hazara angehöre und schiitische Muslimin sei.
Zu ihrem Fluchtgrund befragt brachte die BF3 vor, dass sie nach dem Morgengebet mit 2 PKWs das Land verlassen hätten. Ein Grund für die Flucht sei ihnen nicht gesagt worden.
Die Viertbeschwerdeführerin (im Folgenden: „BF4“ genannt) brachte zunächst vor, dass sie der Volksgruppe der Hazara angehöre und schiitische Muslimin sei.
Zu ihrem Fluchtgrund befragt brachte die BF4 vor, dass sie nach dem Morgengebet mit 2 PKWs das Land verlassen hätten. Ein Grund für die Flucht sei ihnen nicht gesagt worden.
Der Elftbeschwerdeführer (im Folgenden: „BF11“ genannt) brachte zunächst vor, dass seine Verlobte, die BF4 vor 3 Monaten nach Österreich gekommen sei. Er habe nach Österreich gewollt, weil seine Verlobte hier sei.
Zu seinem Fluchtgrund befragt brachte der BF11 vor, dass er Probleme mit den Taliban bekommen habe, weil er für die Regierung gearbeitet habe. Einige seiner Kollegen seien von den Taliban getötet worden. Er habe seine Geschwister nicht mehr sehen können. Er habe Angst gehabt und das Land verlassen.
3. Am 30.01.2018 und am 23.05.2018 wurden die Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol (im Folgenden: „BFA“ genannt) im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen.
Der BF1 brachte zunächst vor, dass er schiitischer Moslem sei und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Er sei in Kabul geboren und aufgewachsen. Seine Eltern würden noch immer in Kabul leben. Er habe keine Schule besucht, jedoch als Taxifahrer gearbeitet. Zwischen 2010 und 2015 habe er eine Wechselstube betrieben. Er lebe mit seiner Ehefrau (BF2) und seinen minderjährigen Kindern (BF5-BF9) in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF1 zusammengefasst an, dass er als Geldwechsler gearbeitet habe und eines Tages gegen 10 Uhr ein Mann in einem Auto Marke Hailux vorgefahren sei und 20. 000 USD in Afghani wechseln habe wollen. Er habe das Geld verlangt, doch der Mann habe gesagt, dass er mit ihm in sein Büro fahren solle und er dort das Geld erhalten würde. Er habe gesagt, dass er so nicht arbeite und der Mann das Geld zu ihm bringen müsse. Daraufhin sei der Mann gegangen und nicht wieder gekommen. Als er am Abend am Heimweg war habe er das Auto gesehen und den Mann wieder erkannt. Er habe Angst bekommen und gedacht, dass der Mann ihn verfolgen würde und es sich bei dem Mann um einen Dieb handeln würde. Der Mann sei ausgestiegen und habe ihn ein paar Schritte verfolgt, da er geschrien habe und sich einige Leute versammelt hätten, sei der Mann dann geflüchtet. Ca. 7 Monate vor diesem Vorfall, sei die Tochter eines Kollegen, der ebenfalls Gelwechsler gewesen sei, entführt worden. Er habe nicht gewollt, dass dies seinen 5 Töchtern auch passiert und habe daher beschlossen am nächsten Tag das Land zu verlassen. In Österreich habe er darüber nachgedacht, dass dieser Mann wahrscheinlich gekommen sei, weil er den Heiratsantrag von XXXX für seinen Sohn um seine älteste Tochter XXXX abgelehnt habe. XXXX sei ein einflussreicher Mann mit seinem schlechten Ruf gewesen. Er hätte seine Tochter nur ausnützen und dann den Ruf der Familie durch eine Scheidung zerstören wollen. Die Familie von XXXX sei nach der Absage gegangen ohne etwas dazu zu sagen.
Die BF2 brachte zunächst vor, dass sie schiitische Muslimin sei und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Sie spreche Dari. Sie sei in Kabul geboren und aufgewachsen. Sie habe keine Schule besucht und zuhause als Schneiderin gearbeitet. Sie sei mit dem BF1 verheiratet und die BF3-BF9 seien ihre leiblichen Kinder.
Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die BF2 zusammenfassend an, dass die Sicherheitslage sehr schlecht gewesen sei. Eines Nachts sei ihr Mann zornig nachhause gekommen und habe gemeint, dass sie so schnell wie möglich gehen müssten. Sie habe damals nicht gewusst warum. Erst in Innsbruck habe ihr Ehemann erzählt, dass er und die Familie bedroht worden seien, weil sie damals den Heiratsantrag einer Familie an ihre Tochter XXXX abgelehnt hätten.
Die BF3 brachte zunächst vor, dass sie schiitische Muslimin sei und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Sie spreche Dari. Sie sei in Kabul geboren und aufgewachsen. Sie habe 10 Jahre die Schule besucht und Kinder in Englisch unterrichtet. Der BF1 und die BF2 seien ihre leiblichen Eltern.
Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die BF3 zusammenfassend an, dass die Sicherheitslage sehr schlecht gewesen sei. Ihr Vater habe ihr in Innsbruck erzählt, dass sie in Afghanistan verfolgt worden seien, weil er den Heiratsantrag eines Mannes abgelehnt habe. Ihr Leben als Frau sei in Afghanistan sehr eingeschränkt gewesen. Frauen hätten dort keine Rechte und würden nicht gleichbehandelt werden. Frauen hätten keinen Zugang zu Universitäten. Sie wolle nicht ein Leben wie ein Häftling führen und jeden Tag eine Burka tragen müssen. Sie wolle wie ein Mensch und nicht wie ein Ding behandelt werden. Sie genieße in Österreich ihre neu gewonnene Freiheit.
Die BF4 brachte zunächst vor, dass sie schiitische Muslimin sei und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Sie spreche Dari. Sie sei in Kabul geboren und aufgewachsen. Sie habe 9 Jahre die Schule besucht und ihrer Mutter bei der Schneiderei geholfen. Der BF1 und die BF2 seien ihre leiblichen Eltern.
Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die BF4 zusammenfassend an, dass es einen Giftangriff auf ihre Mädchenschule gegeben habe um den Mädchen Angst einzujagen. Sie sei als Mädchen sehr unzufrieden gewesen, sie habe immer eine Burka tragen müssen. Sie habe die gesamte Welt nur durch ein kleines Gitter gesehen. Mädchen hätten keine Rechte und Freiheiten und würden ungleich behandelt werden. Sie sei sehr glücklich in Österreich gleich behandelt zu werden. Sie wolle lernen und studieren. Sie sei intensiv auf Jobsuche und wolle sich zur Hebamme ausbilden lassen. Sie liebe Make-up und wolle selbst über ihre Kleidung bestimmen. Sie habe bereits neben der Schule gemeinnützig gearbeitet. Sie habe erst in Österreich durch ihren Vater erfahren, dass sie in Afghanistan verfolgt worden sind.
Der BF11 brachte zunächst vor, dass er sunnitischer Moslem sei und der Volksgruppe der Uzbeken angehöre. Er sei in Kunduz geboren und aufgewachsen. Seine Eltern seien bereits verstorben. Seine Geschwister würden noch immer in Kunduz leben. Er habe 5 Jahre die Grundschule und 2 Jahre ein Mittelschule besucht und als Leichtmetallschmied, Bauarbeiter und Angestellter in einem staatlichen Motel gearbeitet. Er lebe mit seiner Freundin der BF4 zusammen. Die BF4 sei von ihm im 3. Monat schwanger.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF11 zusammengefasst an, dass er 2012 beruflich nach Kabul gegangen sei. Bis ins Jahr 2014 habe er seine Familie regelmäßig besuchen können. Ab 2014 sei die Sicherheitslage in seinem Heimatdorf immer schlechter geworden. Die Taliban hätten gegen die Regierung gekämpft und junge Männer zwangsrekrutiert. Seine Familie sei deshalb in die Stadt Kunduz gezogen. Er habe in einem staatlichen Motel gearbeitet und die Taliban seien gegen die Regierung gewesen. Er habe seine Familie nicht mehr besuchen könne, zudem sei seine Freundin mittlerweile im Ausland gewesen und er habe zu ihr gewollt. Er und seine Freundin hätten aufgrund ihrer unterschiedlichen Konfessionen in Afghanistan auch nicht heiraten können.
4. Das BFA hat mit den angefochtenen Bescheiden vom 13.04.2018, 28.11.2018, 19.12.2018 und 20.05.2020 die gegenständlichen Anträge der BF1-BF12 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde Ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gegen die BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
5. Gegen die oben genannten Bescheide richten sich die im Wege der Rechtsvertretung erhobenen Beschwerden vom 07.05.2018, 17.12.2018 und 08.01.2019, 16.06.2020 welche fristgerecht beim BFA einlangten. Der BF11 erhob gegen Spruchpunkt I. seines Bescheides ausdrücklich keine Beschwerde.
6. Die gegenständlichen Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 08.05.2018, 17.12.2018, 08.01.2019 und 19.06.2020 vom BFA vorgelegt.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte in den gegenständlichen Rechtssachen am 12.03.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer (BF1-BF10) im Beisein ihrer bevollmächtigten Vertretung persönlich teilnahmen.
8. Die Beschwerdeführer verzichteten, vertreten durch ihren Rechtsvertreter, aufgrund vorhandener Kenntnis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (im Folgenden kurz „UNHCR-RL“ genannt), des Berichtes von ACCORD: Afghanistan: Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif (Provinz Balkh) und Kabul 2010-2018 vom 07.12.2018 (im Folgenden „ACCORD-Bericht“ genannt), sowie der EASO Country Guidance Afghanistan vom Juni 2019, auf deren Übergabe.
9. Dem BF11 wurde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 29.06.2020 im Parteiengehör übermittelt und eine Stellungnamefrist gewährt. Es wurde jedoch keine Stellungname erstattet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF1:
Der BF1 wurde am XXXX geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, schiitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Die Muttersprache des BF1 ist Dari. Er wurde in Kabul geboren und wuchs dort auf. Der BF1 ist mit der BF2 verheiratet. Die BF3-BF9 sind die leiblichen Kinder des BF1.
Der BF1 lebt mit seiner Ehefrau und seinen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt in Österreich. Der BF1 ist strafrechtlich unbescholten, arbeitsfähig und gesund.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF1 seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung durch die Familie dessen Heiratsantrag er abgelehnt hat oder einer anderen konkreten individuellen Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.
1.2. Zur Person der BF2:
Die BF2 wurde am XXXX geboren und führt den im Spruch Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF2 während ihres Aufenthaltes in Österreich eine Lebensweise verinnerlicht hätte, aufgrund derer sie eine Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre. Sie ist afghanische Staatsangehörige, schiitische Muslimin und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Die Muttersprache der BF2 ist Dari. Sie wurde in Kabul geboren und wuchs dort auf. Sie besuchte keine Schule in Afghanistan und arbeitete als Schneiderin von zuhause aus.
Die BF2 ist mit dem BF1 verheiratet und hat sieben zum Antragszeitpunkt minderjährige Kinder, die BF3-BF9. Die BF3-BF7 sind mittlerweile volljährig. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF2 ihren Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor einer anderen Familie oder einer anderen konkreten individuellen Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF2 während ihres Aufenthaltes in Österreich eine Lebensweise verinnerlicht hätte, aufgrund derer sie eine Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre.
1.3. Zur Person der BF3:
Die BF3 wurde am XXXX geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Sie ist afghanische Staatsangehörige, schiitische Muslimin und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Die Muttersprache der BF3 ist Dari. Sie wurde in Kabul geboren und wuchs dort auf. Sie besuchte 10 Jahre die Schule in Afghanistan und arbeitete als Englischlehrerin für Kinder.
Die BF3 ist die Tochter des BF1 und der BF2. Sie hat in Österreich ein Kind zur Welt gebracht und einen Freund.
Die BF3 entscheidet in Österreich selber über ihren Kleidungsstil und genießt es sich modisch anzuziehen sowie sich zu schminken (siehe VH-Protokoll Seite 11). Die BF3 hat bis zu ihrer Schwangerschaft regelmäßig einen Deutschunterricht besucht. In ihrer Freizeit geht die BF3 alleine einkaufen und mit Freunden aus. Die BF3 schätzt ihre in Österreich neu gewonnene Entscheidungsfreiheit und, dass sie sich ihren Freund den sie liebt selbst aussuchen konnte. In Afghanistan wäre es der BF3 nicht möglich gewesen mit einem Mann, der einer anderen Volksgruppe und Religion angehört zusammen zu sein. Ihr Freund sei im Gegensatz zu ihr Paschtune und Sunnite. Ihr gefällt, dass sie alleine das Haus verlassen kann und dass Männer und Frauen die gleichen Rechte haben. In Zukunft möchte die BF3 als Englischdolmetscherin arbeiten. Sie möchte gern auf eigenen Beinen stehen und selbständig sein. Die BF3 lebt selbstbestimmt und erledigt ihre Angelegenheiten alleine. Die BF3 genießt es selbst über ihr Leben zu bestimmen. Auch ihr Kind soll zukünftig frei leben können.
Im gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass die der BF3 im Fall der Rückkehr nach Afghanistan drohende Situation als Frau und auf Grund der von ihrer inneren Wertehaltung getragenen und nach außen hin erkennbaren überwiegenden Orientierung am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild, ihrem bisherigen Verhalten sowie ihrer individuellen Lebensumstände in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität ist.
Der BF3 steht keine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative zur Verfügung.
1.4. Zur Person der BF4:
Die BF4 wurde am XXXX geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Sie ist afghanische Staatsangehörige, schiitische Muslimin und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Die Muttersprache der BF4 ist Dari. Sie wurde in Kabul geboren und wuchs dort auf. Sie besuchte 9 Jahre die Schule in Afghanistan und half ihrer Mutter mit den Schneiderarbeiten.
Die BF4 ist die Tochter des BF1 und der BF2. Sie hat in Österreich zwei Kinder zur Welt gebracht (BF10 und BF12) und ist mit ihrem Freund nicht verheiratet.
Die BF4 entscheidet in Österreich selber über ihren Kleidungsstil und genießt es sich modisch anzuziehen sowie sich zu schminken (siehe VH-Protokoll Seite 16). In ihrer Freizeit geht die BF4 alleine einkaufen, spazieren und trifft sich mit ihren österreichischen Freunden. Vor ihrer Schwangerschaft ging die BF4 auch schwimmen. Die BF4 arbeitete 3 Jahre in einer Schule als Reinigungskraft. Die BF4 schätzt ihre in Österreich neu gewonnene Entscheidungsfreiheit und, dass sie sich ihren Freund den sie liebt selbst aussuchen konnte und mit ihm zusammen leben kann, obwohl sie nicht verheiratet sind. In Afghanistan wäre es der BF4 nicht möglich gewesen mit einem Mann, der einer anderen Volksgruppe und Religion angehört zusammen zu sein. Ihr Freund sei im Gegensatz zu ihr Uzbeke und Sunnite. Die Familie ihres Lebensgefährten würde Sie deshalb in Afghanistan verfolgen. Eine uneheliche Beziehung und uneheliche Kinder seien in Afghanistan verboten. Ihr gefällt, dass sie alleine das Haus verlassen kann und dass Männer und Frauen die gleichen Rechte haben. In Zukunft möchte die BF4 weiterhin arbeiten und einen Beruf erlernen. Sie möchte gern auf eigenen Beinen stehen und selbständig sein. Die BF4 lebt selbstbestimmt und erledigt ihre Angelegenheiten alleine. Die BF4 genießt es selbst über ihr Leben zu bestimmen. Auch ihre Tochter soll zukünftig frei leben können.
Im gegenständlichen Fall ist festzuhalten, dass die der BF4 im Fall der Rückkehr nach Afghanistan drohende Situation als Frau und auf Grund der von ihrer inneren Wertehaltung getragenen und nach außen hin erkennbaren überwiegenden Orientierung am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild, ihrem bisherigen Verhalten sowie ihrer individuellen Lebensumstände in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität ist.
Der BF4 steht keine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative zur Verfügung.
1.5. Zur Person der BF5-BF9:
Die BF5-BF9 führen die im Spruch genannten Namen. Sie sind afghanische Staatsangehörige. Die Muttersprache der BF5-BF9 ist Dari. Sie sind die leiblichen zumindest zum Antragszeitpunkt minderjährigen Kinder des BF1 und der BF2.
Eigene in der Person der BF5-BF9 liegende Gründe einer asylrelevanten Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat wurden nicht vorgebracht.
1.6 Zur Person der BF10:
Die BF10 führt den im Spruch genannten Namen. Sie ist afghanische Staatsangehörige. Die Muttersprache der BF10 ist Dari. Sie ist die leibliche minderjährige Tochter der BF4 und des BF11.
Eigene in der Person der BF10 liegende Gründe einer asylrelevanten Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat wurden nicht vorgebracht.
1.7. Zur Person des BF11:
Der BF11 wurde am XXXX geboren und führt den im Spruch genannten Namen. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Uzbeken an. Die Muttersprache des BF11 ist Dari. Er wurde in Kunduz geboren und wuchs dort auf. Der BF11 lebt mit der BF4 zusammen. Die BF10 ist die leibliche Tochter und der BF12 der leibliche Sohn des BF11.
Der BF11 lebt der BF4 und seinen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt in Österreich. Der BF11 ist strafrechtlich unbescholten, arbeitsfähig, jung und gesund.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF11 bei einer allfälligen Rückkehr nach Kabul, Herat und Mazar-e Sharif mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Der BF leidet an keinen Atemwegserkrankungen oder anderen chronischen Krankheiten, wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen, geschwächtem Immunstatus, Krebs oder Fettleibigkeit. Der BF gehört aufgrund seiner Gesundheit und seines jungen Alters nicht der Risikogruppe einer COVID-19 Erkrankung an.
Die Lebensgefährtin (BF4) und die Kinder (BF10 und BF12) des BF11 bekommen mit diesem Erkenntnis den Status der Asylberechtigten zuerkannt. Die gemeinsame Tochter der BF4 und des BF11, die BF10 wurde am XXXX und der gemeinsame Sohn, der BF12 wurde am XXXX in Österreich geboren.
Der BF11 lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt. Der BF11 unterstützt seine Lebensgefährtin bei der Erziehung der Kinder und führt mit seiner Lebensgefährtin einen gemeinsamen Haushalt.
1.8 Zur Person des BF12:
Der BF12 führt den im Spruch genannten Namen. Er ist afghanischer Staatsangehöriger. Die Muttersprache des BF12 ist Dari. Er ist der leibliche minderjährige Sohn der BF4 und des BF11.
Eigene in der Person des BF12 liegende Gründe einer asylrelevanten Verfolgung in seinem Herkunftsstaat wurden nicht vorgebracht.
1.9. Feststellungen zum Herkunftsstaat:
1.9.1. LIB:
Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt – Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen,
Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Abb.1: Kabul, Police Distrikts (Darstellung der Staatendokumentation)
(Quelle: BFA 13.2.2019)
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).
Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).
In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).
Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Kabul gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2018 und die ersten drei Quartale 2019 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
2018
2019 (bis 30.9.)
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
ACLED
Tote
Bagrami
1
1
3
5
Chahar Asyab
1
3
5
10
Dehsabz
1
4
7
Estalef
Farza
Guldara
2
4
Kabul
256
58
677
146
71
389
Kalakan
1
2
6
Khak-e-Jabar
1
3
39
1
5
Mir Bacha Kot
1
5
Musahi
2
4
1
22
70
Paghman
4
7
20
2
14
49
Qara Bagh
1
2
12
27
Shakar Dara
7
12
2
11
Surubi
16
8
34
18
28
110
Insg.
284
81
780
181
167
698
(ACLED 5.10.2019; ACLED 12.7.2019; GIM o.D.)
Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA 1.866 zivile Opfer (596 Tote und 1.270 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einer Zunahme von 2% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmord- und komplexe Angriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) und gezielten Tötungen (UNAMA 24.2.2019).
Die afghanischen Sicherheitskräfte führten insbesondere im Distrikt Surubi militärische Operationen aus der Luft und am Boden durch, bei denen Aufständische getötet wurden (KP 27.3.2019; vgl. TN 26.3.2019, SAS 26.3.2019, TN 23.10.2018,. KP 23.10.2018, KP 9.7.2018). Dabei kam es unter anderem zu zivilen Opfern (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Außerdem führten NDS-Einheiten Operationen in und um Kabul-Stadt durch (TN 7.8.2019; vgl. PAJ 7.7.2019, TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019). Dabei wurden unter anderem Aufständische getötet (TN 7.8.2019) und verhaftet (TN 7.8.2019; PAJ 7.7.2019; vgl TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019), sowie Waffen und Sprengsätze konfisziert (TN 9.6.2019; vgl. PAJ 28.5.2019).
IDPs – Binnenvertriebene
UNOCHA meldete für den Zeitraum 1.1.-31.12.2018 35 konfliktbedingt aus dem Distrikt Surubi vertriebene Personen, die alle in der Provinz Logar Zuflucht fanden (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA keine durch gewaltsamen Konflikt aus der Provinz Kabul vertriebene Personen (UNOCHA 18.8.2019). Im Zeitraum 1.1.-31.12.2018 meldete UNOCHA 9.422 Vertriebene, welche in die Provinz Kabul kamen, die meisten davon in den Distrikt Kabul (UNOCHA 28.1.2019). Im Zeitraum 1.1.-30.6.2019 meldete UNOCHA 2.580 Vertriebene in die Provinz Kabul, alle in den Distrikt Kabul. Sie stammten aus Kapisa, Kunar, Nangarhar wie auch Logar, Ghazni, Baghlan und Wardak (UNOCHA 18.8.2019).
Bis zu zwei Drittel aller Afghanen, die außerhalb ihrer Provinz vertrieben wurden, bewegen sich in Richtung der fünf Regionalhauptstädte (NRC 30.1.2019) und Kabuls Wachstum war besonders umfangreich. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Kabul ist nicht bekannt. Die Bewegung in und innerhalb der Stadt fluktuiert und viele kehren regelmäßig in friedlicheren Zeiten in ihr Herkunftsgebiet zurück (Metcalfe et al. 6.2012; vgl. AAN 19.3.2019). Im September 2018 schätzte der afghanische Minister für Flüchtlinge und Repatriierung die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen in Kabul auf 70.000 bis 80.000 Menschen (TN 21.9.2018).
[…]
Herat
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA 4.2014). Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh (AAN 9.12.2018; vgl. PAJ o.D., PAJ 13.6.2019), Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere „temporäre“ Distrikte – Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko (CSO 2019; vgl. IEC 2018) –, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (CSO 2019). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ o.D.).
Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. BFA Staatendokumentation 13.6.2019).
Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (iMMAP 19.9.2017). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in