TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/29 W111 2214629-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.09.2020
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Entscheidungsdatum

29.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W111 2214629-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.01.2019, Zl. 1205426601-180847636, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie §§ 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 46, 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein volljähriger Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte am 06.09.2018 infolge illegaler Einreise in das Bundesgebiet den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner am gleichen Datum abgehaltenen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer an, er gehöre der Volkgruppe der Inguschen an, sei moslemischen Glaubens, habe im Herkunftsstaat die Schule und eine Universität absolviert und sei zuletzt als Buchhalter beschäftigt gewesen. In Österreich hielten sich die Mutter und Schwester sowie ein gemeinsam mit dem Beschwerdeführer eingereister minderjähriger Bruder auf. Der Beschwerdeführer habe den Entschluss zur Ausreise im Mai 2018 gefasst und Österreich als sein Zielland gewählt, da er zu seiner Mutter gewollt habe. Die tatsächliche Ausreise aus der Russischen Föderation sei am 01.09.2018 legal auf dem Luftweg unter Mitführung seines – im Original in Vorlage gebrachten – russischen Auslandsreisepasses erfolgt. Von Bosnien aus sei er illegal und schlepperunterstützt nach Österreich weitergereist.

Zum Grund seiner Flucht gab er an, sie seien verfolgt worden, sein Bruder und er hätten Angst um ihr Leben gehabt. Irgendwelche Banditen hätten sie bedroht; sie hätten irgendwelche Dokumente gewollt. Sein Bruder sei am 05.05.2018 schwer zusammengeschlagen worden, sie hätten ihn ins Krankenhaus bringen müssen. Sie hätten den Bruder entführen wollen. Nach diesem Vorfall hätten sie aus Angst ständig den Wohnort gewechselt. Als der Beschwerdeführer in XXXX studiert hätte, hätten sie ihn ebenfalls aufgesucht und Dokumente gewollt. Sie hätten die Mitbewohner seiner dortigen Wohnung zusammengeschlagen und seine Sachen durcheinandergebracht. Ab diesem Zeitpunkt habe der Beschwerdeführer sein Studium nicht mehr weitergeführt. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, dass sie, ebenso wie ihr Vater, einfach verschwinden könnten.

Nach Zulassung seines Verfahrens erfolgte am 12.11.2018 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, bei welcher er im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache zusammengefasst angab (im Detail vgl. Verwaltungsakt, Seiten 56 bis 64), er sei gesund, benötige keine Medikamente und fühle sich psychisch und physisch zur Durchführung der Befragung in der Lage. Seine Angaben in der Erstbefragung seien wahrheitsgemäß gewesen und korrekt zu Protokoll genommen worden. Der Beschwerdeführer habe aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Inguschen sowie aufgrund seines moslemisch-sunnitischen Glaubensbekenntnisses im Herkunftsstaat keine Probleme gehabt. Er habe die Grundschule sowie ein College über Buchhaltung abgeschlossen und im Anschluss vier Jahre eine Management-Ausbildung durchlaufen, diese jedoch nicht abgeschlossen. Seinen Lebensunterhalt im Herkunftsstaat habe er durch die Verrichtung von Gelegenheitsjobs und Unterstützung seitens seiner Verwandten finanziert. Im Vorfeld der Ausreise habe er in einer näher bezeichneten Stadt in der Teilrepublik Inguschetien gelebt. Einen ständigen Aufenthaltsort habe er zuletzt nicht gehabt. Wie lange dieser Zustand bestanden hätte, wisse er nicht genau; eigentlich sei er immer von einem zum anderen Ort übersiedelt, dies ginge schon seit über zehn Jahren so. Auf Ersuchen, seine konkreten Adressen und die Zeiträume, an denen er sich an diesen aufgehalten hätte, aufzuschreiben, erklärte der Beschwerdeführer, er wisse es nicht genau. Über Vorhalt, dass es nicht glaubwürdig erscheine, dass er keine Adressen benennen könne, meinte der Beschwerdeführer, da wo neue Häuser gebaut werden, gebe es keine Adressen. An einige Adressen könne er sich gut erinnern. Aufgefordert, diese aufzuschreiben, erwiderte der Beschwerdeführer, nicht sagen zu können, wann er dort gelebt hätte. Eine von ihm in der Folge erstellte Liste wurde als Beilage zum Akt genommen.

Auf weitere Befragung gab der Beschwerdeführer an, seine Verwandten seien in Inguschetien und Nordossetien ansässig. Er sei ledig und kinderlos. Sein Vater sei vor 14 Jahren verschleppt worden. Sein Vater sei Söldner in der tschetschenischen Opposition gewesen. Es sei nur ums Geld gegangen, er habe die Familie ernähren wollen. Man habe gesagt, dass er verstorben sei. Seine Mutter lebe seit etwa zehn Jahren in Österreich, nachdem man sie umbringen wollte. Der Beschwerdeführer und sein Bruder seien damals nicht mitgefahren, da der Beschwerdeführer sich um seine zwischenzeitlich verstorbene Großmutter habe kümmern müssen. Seine Mutter habe in Österreich vor rund neun Jahren wieder geheiratet. Sie habe kleine Kinder und habe noch nie in Österreich gearbeitet. In Österreich hielten sich ein Bruder des Beschwerdeführers als Asylwerber, eine volljährige verheiratete Schwester sowie drei hier geborene Stiefgeschwister auf. Seine Tanten und zwei Onkel, mit welchen er regelmäßigen Kontakt hätte, würden noch in der Russischen Föderation leben. Seine Angehörigen hätten keine Probleme. Der Beschwerdeführer sei in der Russischen Föderation nie politisch tätig gewesen und habe dort nie Schwierigkeiten mit Sicherheitsbehörden oder anderen staatlichen Institutionen erlebt, er sei ein gesetzestreuer Mensch. Der Beschwerdeführer habe die Russische Föderation legal auf dem Luftweg verlassen und im Zuge der Ausreisekontrolle keine Probleme erlebt.

Zu den Gründen seiner Flucht aus dem Herkunftsstaat und seines Antrags auf internationalen Schutz führte der Beschwerdeführer aus, sie seien in der Russischen Föderation wegen der Arbeit ihres Vaters verfolgt worden. Man habe ständig irgendwelche Dokumente, Karten sowie einen Koffer gefordert. Sein Vater sei bei der Opposition gewesen und sei dann verschwunden. Die Leute, die sie nicht in Ruhe ließen, würden behaupten, dass er irgendwelche wichtigen Dokumente gehabt hätte und würden seit über zehn Jahren versuchen, diese Dokumente zu bekommen. Die Leute hätten sie bedroht und mehrmals versucht, sie zu verschleppen. Sie hätten sie geschlagen und wollten wissen, wo sich der Vater und die Dokumente befänden. Sie hätten entgegnet, dass sie dies nicht wüssten. Sie hätten Angst gehabt, dass man sie ebenso wie ihren Vater verschleppe und umbringe. Die Leute würden sie immer finden, egal, wo sie sich befänden. Nachdem man sie letztmals umbringen wollte, hätten sie keinen anderen Ausweg als die Flucht gesehen. Die Leute hätten versucht, den gemeinsam mit dem Beschwerdeführer eingereisten Bruder zu verschleppen. Sie seien müde gewesen, in ständiger Angst zu leben. Sie würden in Ruhe leben, lernen und arbeiten wollen; dies sei in der Russischen Föderation nicht möglich gewesen. Vielleicht würden sie sie auch hier finden. Alles habe vor ca. 14 Jahren begonnen, damals seien sie in ihr Haus eingedrungen, hätten sie alle in einem Zimmer versammelt, dem Vater Vorwürfe gemacht und den Beschwerdeführer und seine Schwester geschlagen und bedroht. Auch hätten sie ihren Hund erschossen. Diese Leute hätten nichts zu Hause gefunden und hätten den Vater verprügelt und mitgenommen; seither habe der Beschwerdeführer Probleme mit den Augen und dem Gedächtnis. Sie hätten sich an die Polizei gewandt, welche gesagt hätte, dass sie nichts darüber wisse. Einige Zeit später sei seine Mutter aufgefordert worden, eine stark verbrannte Leiche zu identifizieren, bei der es sich laut Angaben der Polizei um den Vater des Beschwerdeführers gehandelt haben sollte. Seither ließen die Banditen sie nicht in Ruhe und beschatteten sie. Hin und wieder drängen sie nachts bei Feiertagen in ihr Haus ein. Sie würden nicht glauben, dass der Vater nicht mehr am Leben sei und denken, dieser käme an Feiertagen nach Hause. Seine Mutter und seine Schwester seien infolge eines Vorfalls im Jahr 2008/2009 ausgereist. Sie seien wieder verprügelt worden, seiner Schwester sei die Nase gebrochen worden. Seine Mutter hätte es nicht mehr ausgehalten und sei mit der Schwester ausgereist. Seither würden sie regelmäßig verfolgt werden. Als der Beschwerdeführer für eine Ausbildung in eine andere Stadt gefahren sei, seien die Leute dorthin gekommen und hätten ihn gesucht; sie hätten ihn umbringen wollen. Der Beschwerdeführer habe Glück gehabt, er sei zu diesem Zeitpunkt nicht daheim gewesen; seine Mitbewohner seien jedoch verletzt worden. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. Er wolle hier in Ruhe arbeiten und einen Nutzen für die Gesellschaft bringen.

Anlässlich der am 27.12.2018 fortgesetzten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte der Beschwerdeführer aus (im Detail vgl. Verwaltungsakt, Seiten 65 bis 73), er sei erst neun Jahre nach seiner Mutter ausgereist, da die Situation in letzter Zeit angespannter gewesen wäre; man habe sie gesucht. Sie seien auch eine Gefahr für die Verwandten gewesen. Sie seien von Banditen gesucht worden. Zur Erstattung konkreter Angaben aufgefordert, gab der Beschwerdeführer an: „Wie soll ich das erklären.“ Auf Wiederholung der Frage meinte der Beschwerdeführer, es seien Banditen, welche nach Geld und Dokumenten suchen würden. Um welche Dokumente es sich handle, wisse der Beschwerdeführer nicht, es ginge um irgendwelche Dokumente seines Vaters. Welche Dokumente gesucht werden, wisse er nicht. Sein Vater sei vor vierzehn Jahren verstorben. Dazu aufgefordert, die persönliche Bedrohung seiner Person konkret zu schildern, erklärte der Beschwerdeführer: „Als mein Vater verstorben ist.“ Auf Wiederholung der Frage gab der Beschwerdeführer an, die Leute hätten ihm gesagt, dass sie ihm etwas antun würden. Sie wollten den Vater des Beschwerdeführers unter Druck setzen und hätten den Beschwerdeführer mit der Waffe bedroht. Es sei damals gewesen, als sein Vater verschwunden sei. Sie hätten nicht nur den Beschwerdeführer, sondern alle, die zu Hause gewesen wären, bedroht. Zuletzt sei er vor der Ausreise seiner Mutter vor neun Jahren bedroht worden. Auf die Frage, ob er in den seither vergangenen neun Jahren abermals bedroht worden sei bzw. es Vorfälle gegeben hätte, erwiderte der Beschwerdeführer, er sei seither auf der Flucht. Auf Wiederholung der Frage gab der Beschwerdeführer an, er sei die ganze Zeit gesucht worden. Befragt, wer ihn gesucht hätte, wiederholte der Beschwerdeführer, dass es Banditen gewesen seien und er sich ständig auf der Flucht befunden hätte. Befragt, ob er jemals Kontakt mit diesen Banditen gehabt hätte, gab der Beschwerdeführer an, damals als sein Vater mitgenommen und die Mutter bedroht worden sei. Das letzte Mal sei vor neun Jahren gewesen. Sie seien zu Hause gewesen, sie hätten nach dem Vater gesucht, sie geschlagen und nach dem Vater gefragt. Sie hätten diese Dokumente gewollt. Sie hätten gedroht, dass sie die Schwester des Beschwerdeführers verschleppen werden. Nach einiger Zeit sei die Mutter mit der Schwester ausgereist. Auf die Frage, was konkret er über diese Leute wisse, meinte der Beschwerdeführer, es habe sich um Söldner gehandelt, sein Vater hätte mit diesen gearbeitet. Sie seien in der Opposition gewesen und gegen die Regierung aufgetreten. Mehr wisse er nicht darüber. Von der versuchten Entführung seines Bruders wisse er aus dessen Erzählung. Sein Bruder sei damals noch sehr jung gewesen und sei unterwegs gewesen, um ein Geburtstagsgeschenk für den Beschwerdeführer zu besorgen. Man habe ihn beschattet. Die Leute seien damals aus dem Auto gesprungen, hätten ihn geschlagen, zu Boden geworfen und hätten ihn ins Auto verfrachten wollen. Fußgänger hätten seinem Bruder geholfen. Man hätte den Bruder in ein Krankenhaus gebracht, eine Behandlung sei jedoch verweigert worden. Er habe einen Gips bekommen und sei dann entlassen worden. Man habe sich geweigert, ihn zu operieren; er sei für eine Operation in ein anderes Krankenhaus in Tschetschenien gebracht worden. Der Bruder sei etwa sieben bis acht Tage im Krankenhaus gewesen, in Österreich sei eine Operation zur Entfernung der Schrauben durchgeführt worden. Auf die Frage, wie der Beschwerdeführer nach der Ausreise seiner Mutter neun Jahre in der Russischen Föderation habe verbleiben können, meinte der Beschwerdeführer, seine Schwester sei in Gefahr gewesen, man habe diese verschleppen wollen. Befragt, wie er sich neun Jahre von diesen Leuten habe fernhalten können, erklärte der Beschwerdeführer, er habe die Aufenthaltsorte gewechselt. Ersucht, konkrete Angaben zu seinen Aufenthaltsorten zu erstatten, gab der Beschwerdeführer an, er habe vorwiegend die Orte gewechselt, man habe ihn aber immer gefunden. Nachgefragt, hätten die Banditen ihn gefunden. Auf die Frage, was passiert sei, nachdem er von den Banditen gefunden worden sei, wiederholte der Beschwerdeführer, er hätte die Aufenthaltsorte gewechselt. Zur Aufforderung, konkrete Angaben über seine Aufenthaltsorte und -zeiträume zu erstatten, verwies der Beschwerdeführer darauf, bereits in der vorigen Einvernahme alles gesagt zu haben.

In Österreich lebe der Beschwerdeführer von der Grundversorgung, seine Mutter und seine Schwester gingen keiner Beschäftigung nach. Der Beschwerdeführer habe keine konkreten Integrationsschritte gesetzt. Er besuche Deutschkurse und spreche schon etwas Deutsch. Seinen Alltag gestalte er überdies mit Sport, er erkunde die Stadt und helfe seiner Mutter, wenn diese etwas benötige. Er würde jede Arbeit annehmen. Für den Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation befürchte er, dass man ihn bedrohen werde; er wisse es nicht. Man werde ihn verschleppen.

Der Beschwerdeführer verzichtete auf die Abgabe einer Stellungnahme zu den von der Behörde herangezogenen Berichten zur Situation in seinem Herkunftsstaat, erklärte, ausreichend Möglichkeit zur Darstellung seines Vorbringens gehabt zu haben und bestätigte nach erfolgter Rückübersetzung die Richtigkeit und Vollständigkeit der aufgenommenen Niederschrift.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 08.01.2019 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der beschwerdeführenden Partei auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und den Antrag gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.) sowie dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Die Behörde stellte die Identität, Staatsbürgerschaft, Religion und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers fest und legte ihrer Entscheidung Feststellungen zur aktuellen Situation in dessen Herkunftsstaat zu Grunde.

Der Beschwerdeführer habe keine Gefährdungslage in seinem Herkunftsstaat glaubhaft machen können. Beweiswürdigend wurde dazu ausgeführt, die Schilderungen des Beschwerdeführers würden nicht den Anforderungen an ein substantiiertes und nachvollziehbares und somit glaubhaftes Vorbringen entsprechen. Dieser sei bei der Einvernahme nicht in der Lage gewesen, die Rahmenumstände und die Fluchtgründe konkret und detailliert zu schildern. Seine Darstellung vor dem Bundesamt habe sich auf die Wiedergabe von Eckdaten beschränkt, ohne diese durch spezifische detaillierte Angaben anzureichern. Selbst auf entsprechende Nachfragen habe der Beschwerdeführer keine lebensnahen und nachvollziehbaren Angaben erstatten können. Wäre ein Sachverhalt wie der vom Beschwerdeführer geschilderte tatsächlich eingetreten, so sei keinesfalls nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer keine Kenntnis darüber hätte, nach welchen konkreten Dokumenten man seit vierzehn Jahren bei ihm gesucht hätte; sollten die Banditen tatsächlich entsprechende Dokumente gesucht haben, so wäre jedenfalls anzunehmen, dass sie dem Beschwerdeführer mitgeteilt hätten, um welche Dokumente es sich handle, um ihm eine Kooperation zu vereinfachen. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer die Abläufe der Bedrohungen selbst auf Nachfrage nicht nachvollziehbar wiedergeben können. Er habe lediglich äußerst oberflächlich ausgeführt, dass es damals gewesen wäre, als sein Vater verschwunden sei. Auf die Frage nach der letzten Bedrohung habe er ausgeführt, dass dies vor neun Jahren gewesen sei und er seitdem auf der Flucht wäre. Er habe festgehalten, dass der letzte Kontakt zu den Banditen neun Jahre zuvor stattgefunden hätte und habe ansonsten keine näheren Informationen vorbringen können. Ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der geschilderten Bedrohungssituation und der Ausreise des Beschwerdeführers sei nicht gegeben und es werde auch die geschilderte versuchte Entführung des Bruders des Beschwerdeführers als nicht glaubhaft erachtet, da weder der Beschwerdeführer, noch seine Mutter oder sein Bruder, in der Lage gewesen wären, diese Situation klar und deutlich darzulegen. Desweiteren sei unverständlich, weshalb die Leute über vierzehn Jahre versuchen sollten, an diese Dokumente zu gelangen; auch sei davon auszugehen, dass diese, sollten sie tatsächlich versuchen, an die Dokumente zu gelangen, intensivere Schritte gesetzt hätten und nicht sämtlichen Familienmitgliedern die Zeit gegeben hätten, das Land legal zu verlassen. Sollten die Angaben des Beschwerdeführers bezüglich der Beschattung durch Banditen zutreffen, so wäre es für diese ein Leichtes gewesen, ihn im Vorfeld seiner Ausreise abzufangen und ihn an dieser zu hindern.

Der Beschwerdeführer habe keine weiteren Fluchtgründe angeführt und Probleme mit den Behörden seines Herkunftsstaates ausdrücklich verneint.

Es seien keine Umstände bekannt, dass in der Russischen Föderation eine solch extreme Gefahrenlage bestünde, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehre, einer Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre oder eine derartige humanitäre Katastrophe vorherrsche, vor deren Hintergrund das Überleben von Personen mangels Nahrung und Wohnraums tatsächlich in Frage gestellt wäre.

Der Beschwerdeführer sei als junger, gesunder Mann mit einem hohen Bildungsstand und Berufserfahrung in der Lage, seinen Lebensunterhalt im Herkunftsstaat durch Teilnahme am Erwerbsleben zu finanzieren. Dieser habe den Großteil seines bisherigen Lebens im Herkunftsstaat verbracht, sei in die russische bzw. tschetschenische Gesellschaft integriert und mit den dortigen Werten vertraut. Aufgrund des erst kurzen Aufenthaltes in Europa sei von keiner Entfremdung auszugehen. Dieser habe noch zahlreiche verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte im Heimatland, zu denen ein guter Kontakt bestünde und die ihm bei einer Wiedereingliederung, wie schon im Vorfeld der Ausreise, unterstützend zur Seite stehen könnten. Zudem wäre es dem Beschwerdeführer möglich, auf Leistungen des russischen Sozialsystems zurückzugreifen. Der Beschwerdeführer sei keinen Verfolgungshandlungen im Herkunftsstaat ausgesetzt und liefe nicht Gefahr, in eine ausweglose Lage zu geraten oder einen Eingriff in seine Rechte auf körperliche Unversehrtheit zu erleiden.

Der Beschwerdeführer habe Familienangehörige in Österreich, zu denen jedoch keine Abhängigkeiten bestünden. Dieser würde ausschließlich von Geldern der öffentlichen Hand leben und würde keine engen Bindungen im Bundesgebiet aufweisen. Seine Einreise sei zum Zweck der Verschaffung einer dauerhaften Niederlassung in Österreich unter Umgehung der Einreise- und Niederlassungsvorschriften erfolgt und sein Aufenthalt sei nur durch die illegale Einreise und unbegründete Stellung eines Asylantrages möglich gewesen. Die Bindungen zu seinem Herkunftsstaat würden gegenüber den in Österreich begründeten überwiegen. Da auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 nicht vorliegen würden, erweise sich der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung als zulässig.

3. Gegen diesen, dem Beschwerdeführer am 17.01.2019 zugestellten, Bescheid, wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation am 05.02.2019 die vorliegende Beschwerde eingebracht, in welcher der Bescheid in seinem gesamten Umfang wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt wurde. Begründend wurde ausgeführt, das Vorbringen des Beschwerdeführers erfülle die Anforderungen an die Glaubhaftmachung, dieser habe durchgehend gleichbleibende Angaben erstattet und sich nicht widersprochen; auch habe er seine Fluchtgründe sehr genau geschildert und alle Nachfragen beantwortet. Die Familie des Beschwerdeführers sei aufgrund der Tätigkeit seines vor Jahren verschollenen Vaters verfolgt worden. Seine Mutter und Schwester hätten in Österreich den Status von Asylberechtigten zuerkannt bekommen. Der Beschwerdeführer und sein Bruder seien jedoch in Inguschetien verblieben, wo die Bedrohungen bis zu ihrer Ausreise nicht aufgehört hätten. Sie hätten stets in Angst gelebt und ihren Wohnort ständig gewechselt. Die unmittelbar zur Ausreise geführt habenden Ereignisse habe der Beschwerdeführer bereits geschildert. Aus dem glaubhaften Vorbringen des Beschwerdeführers folge, dass dieser im Fall seiner Rückkehr in die Russische Föderation Verfolgung ausgesetzt wäre, da er bereits in der Vergangenheit misshandelt, bedroht und verfolgt worden sei. Die Länderberichte würden belegen, dass es zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte komme, deren strafrechtliche Verfolgung unzureichend sei. Die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides erscheine wenig substantiiert, die belangte Behörde habe sich mit der individuellen Lage des Beschwerdeführers nicht ernsthaft auseinandergesetzt. Sie habe auch unterlassen, zu prüfen, was den Familienmitgliedern im Heimatland wegen des Beschwerdeführers drohe. Wenn auch die Verfolgung nicht direkt von staatlichen Organen ausginge, sei diese mangels Bestehens staatlichen Schutzes respektive einer innerstaatlichen Fluchtalternative dennoch asylrelevant. Aufgrund der allgemeinen Sicherheits- und Menschenrechtslage in der Russischen Föderation wäre dem Beschwerdeführer jedoch zumindest der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen. Es sei zwar richtig, dass der Beschwerdeführer im Heimatland noch Verwandte habe, seine Kernfamilie befinde sich jedoch in Österreich und es bestünde ein enger Bezug zu dieser. Eine Ausweisung würde zu einer Trennung der Familie und damit zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familien- und Privatlebens führen.

4. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 15.02.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher die im Spruch ersichtlichen Personalien führt, der Volksgruppe der Inguschen angehört und sich zum islamischen Glauben sunnitischer Ausrichtung bekennt. Seine Identität steht fest. Der Beschwerdeführer stammt aus Inguschetien, hat im Herkunftsstaat eine elfjährige Grundschulbildung sowie eine Ausbildung zum Buchhalter absolviert und eine vierjährige akademische Ausbildung im Bereich Management durchlaufen, diese jedoch nicht abgeschlossen. Der Beschwerdeführer hat den Herkunftsstaat im September 2018 gemeinsam mit seinem damals minderjährigen Bruder (IFA-Zahl: 1205426710) legal auf dem Luftweg Richtung Bosnien verlassen und reiste von dort illegal und schlepperunterstützt nach Österreich weiter, wo er am 06.09.2018 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz stellte. Seitdem hält er sich durchgehend in Österreich auf.

In Österreich leben die Mutter und eine volljährige Schwester des Beschwerdeführers, welchen infolge ihrer im Jahr 2009 erfolgten Ausreise aus der Russischen Föderation im Jahr 2010 der Status von Asylberechtigten im Bundesgebiet zuerkannt worden ist. Abgeleitet vom Status seiner Mutter wurde dem gemeinsam mit dem Beschwerdeführer eingereisten, damals minderjährigen, Bruder des Beschwerdeführers mit Bescheid des Bundesamtes vom 08.01.2019 nach den Bestimmungen über das Familienverfahren ebenfalls der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.

Der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Mutter des Beschwerdeführers mit Bescheid des Bundeasylamtes vom 02.09.2010 lag im Wesentlichen die Schilderung eines Übergriffs am 29.11.2007 im Haus der Familie durch unbekannte uniformierte und bewaffnete Personen zugrunde, welche insbesondere die Schwester des Beschwerdeführers schwer verletzt und gedroht hätten, diese mitzunehmen.

1.2. Der Beschwerdeführer ist in der Russischen Föderation aufgrund der ehemaligen Tätigkeit seines vor rund fünfzehn Jahren verschollenen Vaters keiner Verfolgung durch unbekannte kriminelle Personen wegen der Suche nach Dokumenten ausgesetzt. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation respektive Inguschetien aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation respektive Inguschetien festgestellt werden. Dieser ist aus familiären und wirtschaftlichen Gründen nach Österreich gereist, um in Umgehung der Regelungen über einen regulären Zuzug ins Bundesgebiet einen gemeinsamen Aufenthalt mit seinen hier lebenden Familienmitgliedern zu begründen.

1.3. Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation respektive Inguschetien in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der gesunde Beschwerdeführer ist in der Lage, am Erwerbsleben teilzunehmen und seinen Lebensunterhalt eigenständig zu erwirtschaften. Im Herkunftsstaat kann er zusätzlich auf die Unterstützung seiner dort lebenden Tanten und Onkeln sowie auf Leistungen des russischen Sozialsystems zurückgreifen.

1.4. In Österreich leben die Mutter, eine volljährige Schwester sowie ein jüngerer Bruder des Beschwerdeführers als Asylberechtigte. Die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers sind jeweils verheiratet und haben Kinder. Der Beschwerdeführer steht zu keinem seiner Angehörigen in einem speziellen Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis und konnte den gemeinsamen Aufenthalt nur durch seine illegale Einreise und Stellung eines unbegründeten Antrages auf internationalen Schutz erwirken. Sowohl der Beschwerdeführer als auch seine Angehörigen waren sich der Unsicherheit des Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers bewusst und konnten demnach zu keinem Zeitpunkt auf die Möglichkeit zur Führung eines gemeinsamen Familienlebens im Bundesgebiet vertrauen.

Der Beschwerdeführer ging in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nach, bestritt seinen Lebensunterhalt durch den Bezug staatlicher Unterstützungsleistungen und war zu keinem Zeitpunkt selbsterhaltungsfähig. Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse auf dem Niveau A1 besucht und bislang keinen formellen Nachweis über bereits vorhandene Sprachkenntnisse in Vorlage gebracht. Dieser hat sich in keinen Vereinen engagiert, war nicht ehrenamtlich tätig und hat mit Ausnahme der erwähnten aufenthaltsberechtigten Angehörigen seiner Herkunftsfamilie keine engen sozialen Bezugspersonen im Bundesgebiet. Eine den Beschwerdeführer betreffende aufenthaltsbeendende Maßnahme würde keinen ungerechtfertigten Eingriff in dessen gemäß Art. 8 EMRK geschützte Rechte auf Privat- und Familienleben darstellen.

1.3. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global

Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen: - AA – Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018 - BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reiseaufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018 - Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018 - EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018 - GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der ISSprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine Provinz Kaukasus, als Teil des ISKalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018 - Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018 - DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/ aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018 - SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von „Geständnissen“ (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018 - EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden „unantastbaren Polizeieinheiten“ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg - EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018 - Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018, - US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018
Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CATOP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).

Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“ kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht

für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung „Novaya Gazeta“ veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018 - EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 3.8.2018 - HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/ dokument/1422501.html, Zugriff 3.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegenrusslands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 2.8.2018 - Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenienaufklaeren, Zugriff 3.8.2018, - US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2018a). Die Verfassung der Russischen Föderation vom Dezember 1993 postuliert, dass die Russische Föderation ein „demokratischer, föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform“ ist. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach „sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems." Russland ist an folgende VNÜbereinkommen gebunden: - Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969) - Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991) - Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973) - Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004) - Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987) - Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001) - Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.09.2012) (AA 21.5.2018).

Der Europarat äußerte sich mehrmals kritisch zur Menschenrechtslage in der Russischen Föderation. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) waren 2016 knapp 10% der anhängigen Fälle Russland zuzurechnen (77.821 Einzelfälle). Der EGMR hat 2016 228 Urteile in Klagen gegen Russland gesprochen. Damit führte Russland die Liste der verhängten Urteile mit großem Abstand an (an zweiter Stelle Türkei mit 88 Urteilen). Die EGMREntscheidungen fielen fast ausschließlich zugunsten der Kläger aus (222 von 228 Fällen) und konstatierten mehr oder wenige gravierende Menschenrechtsverletzungen. Zwei Drittel der Fälle betreffen eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit. [Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 21.5.2018).

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wurden 2017 weiter eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger und unabhängige NGOs sahen sich nach wie vor mit Schikanen und Einschüchterungsversuchen konfrontiert (AI 22.2.2018). Auch Journalisten und Aktivisten riskieren Opfer von Gewalt zu werden (FH 1.2018). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur, führten zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Angehörige religiöser Minderheiten mussten mit Schikanen und Verfolgung rechnen. Das Recht auf ein faires Verfahren wurde häufig verletzt. Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weit verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wurde weiter erschwert. Im Nordkaukasus kam es auch 2017 zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018).

Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie einer unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden. Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2017, vgl. FH 1.2018, AA 21.5.2018). Im Zuge der illegalen Annexion der Krim im März 2014 und der Krise in der Ostukraine wurde die Gesellschaft v.a. durch staatliche Propaganda nicht nur gegen den Westen mobilisiert, sondern auch gegen die sog. „fünfte Kolonne“ innerhalb Russlands. Der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland ist derzeit aufgrund prozeduraler Unstimmigkeiten ausgesetzt. Laut einer Umfrage zum Stand der Menschenrechte in Russland durch das Meinungsforschungsinstitut FOM glauben 42% der Befragten nicht, dass die Menschenrechte in Russland eingehalten werden, während 36% der Meinung sind, dass sie sehr wohl eingehalten werden. Die Umfrage ergab, dass die russische Bevölkerung v.a. auf folgende Rechte Wert legt: Recht auf freie medizinische Versorgung (74%), Recht auf Arbeit und gerechte Bezahlung (54%), Recht auf kostenlose Ausbildung (53%), Recht auf Sozialleistungen (43%), Recht auf Eigentum (31%), Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (31%), Recht auf eine gesunde Umwelt (19%), Recht auf Privatsphäre (16%), Rede- und Meinungsfreiheit (16%). Der Jahresbericht der föderalen Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa für das Jahr 2017 bestätigt die Tendenz der russischen Bevölkerung zur Priorisierung der sozialen v

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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