TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/6 W253 2140827-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.10.2020
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Entscheidungsdatum

06.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W253 2140827-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Schmerlingstrasse 2/2, 6020 Innsbruck, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.11.2016, Zl. 1079718400/150937382/BMI-BFA_STM_AST_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.09.2018 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt.

III. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 54 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 26.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Noch am selben Tag fand die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Zusammengefasst gab der Beschwerdeführer an, dass er ledig und in Mashad, Iran, am XXXX geboren worden sei. Er gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an, spreche Dari und habe zehn Jahre die Grundschule im Iran besucht. Sein Vater, seine Mutter, fünf Schwestern und drei Brüder würden sich noch im Iran befinden. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass er legal im Iran gewohnt habe, jedoch hätten in letzter Zeit die iranischen Behörden ihn nach Syrien in den Krieg schicken wollen. Da der Beschwerdeführer dies nicht wolle und diejenigen Afghanen die das verweigern, nach Afghanistan zurückgeschickt werden würden, sei er geflüchtet.

2. Mit Schreiben vom 06.08.2015 gab der Beschwerdeführer an, dass bei der Niederschrift seiner Daten, ein Fehler unterlaufen sei, da sein Geburtsdatum nicht der XXXX , sondern der XXXX sei. Dementsprechend beantragte er die Änderung seines Geburtsdatums.

3. Die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) fand am XXXX statt. Zusammengefasst gab der Beschwerdeführer an, dass er gesund sei, keine Medikamente nehme und sich nicht in ärztlicher Behandlung befinde. Er habe keine Identitätsdokumente, vorgelegt wurden ein ÖSD Zertifikat A2 und eine Karte auf Deutsch, aus der hervorgehe, dass der Beschwerdeführer einen Termin für den Abschluss am BFI im November und einen Termin in der Berufsschule, für den Beruf des Installateurs, habe. Bei der Erstbefragung habe er aus Angst ausgewiesen zu werden, ein falsches Geburtsdatum angegeben. Der Beschwerdeführer sei sunnitischen Bekenntnisses und habe bis zu seiner Flucht in Mashad im Iran gelebt. In Afghanistan habe er nie gelebt und verfüge über keine Angehörigen dort. Im Iran sei er zehn Jahre in die Schule gegangen und habe zudem seinem Vater, welcher Dachdecker und in der Baubranche sei, für eineinhalb Jahre geholfen. Seit ca. elf Monaten seien der Vater und ein jüngerer Bruder des Beschwerdeführers in Österreich, die Mutter, fünf Schwestern und zwei Brüder befänden sich im Iran, finanziell gehe es den Eltern mittelmäßig.

Näher befragt zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass man ihm gesagt habe, dass er zum Kämpfen nach Syrien gehen solle, im Falle einer Nichtbefolgung sei ihm die Abschiebung nach Afghanistan in Aussicht gestellt worden. Er habe einen Aufenthaltstitel besessen, der jährlich verlängert worden sei. Etwa ein Monat vor seiner Flucht sei er konkret bedroht worden. Bei einer Razzia am Bau im Iran sei er von der Polizei in ein Camp mitgenommen worden, von wo er abgeschoben hätte werden sollen. Sein Vater habe sich daraufhin beim Fremdenamt gemeldet und ihn frei bekommen. Dem Beschwerdeführer sei dann gesagt worden, er müsse in den Kampfeinsatz nach Syrien, ansonsten würde man ihn nach Afghanistan abschieben. Nachfolgend wurde der Beschwerdeführer näher zu seiner Familie und einem möglichen Verbleib in Afghanistan befragt. Hinsichtlich seiner Familie gab er an, dass diese aus Herat stamme und vor ca. zwanzig Jahren in den Iran gegangen sei. Zu seinen Angehörigen habe er ein- bis zweimal im Monat telefonischen Kontakt. Kinder habe der Beschwerdeführer keine, er sei ledig. In Bezug auf Afghanistan führte er nochmals aus, dass er dort nie gewesen sei und niemand in Afghanistan habe. Er sei mit der iranischen Kultur aufgewachsen und spreche wie ein Iraner, in Afghanistan könne er nicht bleiben, da er dort auffallen und man ihm Landesverrat vorwerfen würde. Auf Vorhalt der Angabe, dass keine Probleme für aus dem Iran oder Pakistan Zurückkehrende bekannt seien und die afghanische Regierung die Wiedereingliederung in die afghanische Gesellschaft fördere, entgegnete er, dass man sich in seine Lage versetzen solle, er habe niemanden dort. Bei einer Rückkehr würde er mit großer Wahrscheinlichkeit einem Anschlag zum Opfer fallen. Befragt zu seinem Leben in Österreich gab der Beschwerdeführer an, dass er unbedingt arbeiten wolle, dazu habe er hinsichtlich des Installateurberufes, einen Termin beim Direktor der Berufsschule. Er besuche zwei- bis dreimal die Woche den A2 Kurs und viermal den B1 Kurs. Sein Vater und sein Bruder seien auch in Österreich, er lebe von staatlicher Unterstützung in einem Asylwerberquartier in Innsbruck und habe keine Freunde oder Verwandte in Österreich die für ihn sorgen könnten.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 05.11.2016 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Seitens der belangten Behörde wurde festgestellt, dass die Identität des Beschwerdeführers nicht feststehe. Er leide an keiner schwerwiegenden lebensbedrohenden psychischen oder physischen Erkrankung. Im Iran habe er einen legalen Aufenthaltstitel gehabt, der jährlich verlängert worden sei. Er sei dort zehn Jahre zur Schule gegangen und habe danach bei seinem Vater, der Dachdecker sei, gearbeitet. Seine Mutter, fünf Schwestern und zwei Brüder seien im Iran, der Vater und ein Bruder befänden sich in Österreich. Es habe keine staatliche Verfolgung festgestellt werden können, auch nicht, dass der Beschwerdeführer der Gefahr einer Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt sei. Er habe in Afghanistan keine Probleme mit der Polizei oder anderen Stellen. Eine gegen ihn gerichtete Bedrohungssituation liege nicht vor. Seine Familie stamme ursprünglich aus der Provinz Herat, die afghanische Regierung habe gegenwärtig und nachhaltig die Kontrolle über die Provinz Herat. Der Beschwerdeführer könne sein Leben in der Herkunftsregion Herat in wirtschaftlicher Hinsicht meistern und es sei ihm zumutbar, sich in dieser Provinz eine neue Existenz aufzubauen.

Begründet wurde dies damit, dass der Beschwerdeführer in der Erstbefragung glaubhaft angegeben habe, dass er in Afghanistan keine Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Stellen gehabt und nie in Afghanistan gelebt habe. Weiters habe er glaubhaft angegeben, dass er über einen legalen Aufenthaltstitel verfüge, welcher jährlich verlängert worden sei. Er habe nicht glaubhaft schildern können, dass er von einer Abschiebung in sein Herkunftsland betroffen gewesen sei. Seine Mutter und sieben Geschwister seien gegenwärtig im Iran aufhältig, wäre der Beschwerdeführer von einer Abschiebung betroffen, würde dies seine gesamte Familie betreffen und somit sei es nicht glaubhaft, dass tatsächlich auch der Beschwerdeführer von einer Abschiebung betroffen gewesen sei. Es sei vielmehr wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer und auch dessen Vater mit einem weiteren Bruder den Iran verlassen hätten, um in Europa bessere Lebensbedingung vorzufinden. Er habe keine glaubhaften nachvollziehbaren Fluchtgründe, bezogen auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan, schildern können.

Zur Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr wurde ausgeführt, dass er gesund, jung und arbeitsfähig sei, er über eine zehnjährige Schulbildung und Erfahrung im Baugewerbe im Iran verfüge. Daher sei es ihm möglich in Herat, der ursprünglichen Herkunftsprovinz seiner Familie, eine Beschäftigung zu finden. Da er in regelmäßigem Kontakt zu seiner Familie im Iran stehe, könne diese ihn von dort aus unterstützen. Er gehöre zur Volksgruppe der Tadschiken, sei sunnitischer Moslem, weshalb er zu seinem Herkunftsstaat Afghanistan, aufgrund seiner ethnoreligiösen Herkunft, engere Bindungen als zum Iran aufweise. Es sei nicht nachvollziehbar, das man dem Beschwerdeführer Landesverrat vorwerfen würde, nur weil seine Eltern vor zwanzig Jahren Afghanistan verlassen hätten. Zudem habe er nur die allgemein prekäre Sicherheitssituation in Afghanistan beschreiben können, eine persönliche individuelle Bedrohung habe er jedoch nicht schildern können.

5. Der - nunmehr rechtsfreundlich vertretene - Beschwerdeführer erhob fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass dem BFA eine Verletzung der Ermittlungspflicht im Sinne der Rechtsprechung des VfGH, VwGH und des BVwG vorzuwerfen sei. Das BFA habe in antizipierender Beweiswürdigung kein ordentliches Ermittlungsverfahren durchgeführt. Zunächst sei dies am Außerachtlassen des Parteivorbringens ersichtlich. Aus vom BFA nicht gewürdigten Informationen, betreffend die Provinz Herat, gehe hervor, dass die Sorgen des Beschwerdeführers in einen bewaffneten Konflikt zu geraten, begründet seien, zumal dies bei der rechtlichen Beurteilung gewürdigt hätte werden müssen. Darüber hinaus habe das BFA entscheidungsrelevante und auf eine drohende Gefährdung der Verletzung von Art 2 und 3 EMRK hinweisende Fakten nicht berücksichtigt. Das BFA habe ohne weitere Prüfung die Provinz Kabul und Mazar-e Sharif als sicher festgestellt und aktenwidrig eine innerstaatliche Fluchtalternative dafür festgelegt, die laut den Länderfeststellungen keinesfalls existiere. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit führe dies dazu, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts Opfer von Gewalt und an seinen Rechten gemäß Art 2 und 3 EMRK verletzt werden würde. Der Staatendokumentation zufolge richte sich die Sicherheitslage in Kabul nach innenpolitischen Entwicklungen, demnach werde sich auch die Sicherheitslage in Kabul unvorhergesehen verschlechtern. Der Beschwerdeführer sowie seine Familie seien nie in Kabul gewesen, er sei im Iran aufgewachsen und könne definitiv nicht einschätzen, welcher Bezirk für ihn als „westlicher“ Fremder sicher sei, zumal der Beschwerdeführer über keinerlei Ausbildung verfüge, was seine Chancen in einem fremden Land Arbeit zu finden und eine Familie zu ernähren extrem senken würde. Der Iran verfolge eine restriktive „Rückkehrpolitik“, der Beschwerdeführer habe selbst berichtet, dass er inhaftiert und ihm gesagt worden sei, dass er nach Syrien zum Kämpfen gehen oder nach Afghanistan zurückkehren müsse. Betreffend die Rückkehrsituation und der Sicherheitslage in Afghanistan habe das BFA eine die Rechtssicherheit gefährdende antizipierende Beweiswürdigung betrieben. Eine Verbringung des Beschwerdeführers in ein Land, das ihm komplett fremd sei und eine äußerst fragile Sicherheitslage aufweise, begründe die Gefahr einer Verletzung von Art 2 und 3 EMRK. Zudem habe das BFA Feststellungen unterlassen, inwiefern das Familienleben im Sinn des Art 8 EMRK im Falle einer Abschiebung des Beschwerdeführers berührt werden würde, da sein Vater und Bruder in Österreich aufhältig seien. Das BFA begnüge sich hierbei mit willkürlichen Unterstellungen, ohne jedwede Begründung vermute das BFA, dass wahrscheinlich der Vater mit 2 Söhnen den Iran verlassen habe, um in Europa bessere Lebensbedingungen vorzufinden. Es sei nicht nachvollziehbar wieso das BFA analog davon ausgehe, dass die Mutter des Beschwerdeführers und die übrigen Geschwister dazu angehalten hätten werden müssen in Syrien zu kämpfen. Aufgrund der mangelnden Beweiswürdigung habe das BFA rechtlich unrichtig geurteilt, dabei seien pauschal Rechtssätze veralteter Rechtsprechung des VwGH vor dem Jahr 2000 angeführt und eine laut den Länderfeststellungen nicht existente innerstaatliche Fluchtalternative behauptet worden. Außerdem habe das BFA willkürlich festgestellt, dass im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, obwohl der Beschwerdeführer dort niemals gelebt habe, keine drohende Verletzung von Art 3 EMRK vorliege. Auch sei willkürlich festgestellt worden, dass im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan keine Verletzung von Art 8 EMRK vorliege, dabei sei durch das BFA in unrichtiger rechtlicher Beurteilung - angesichts dessen, dass der Vater und der Bruder des Beschwerdeführers in Österreich seien - ein Vorliegen eines schützenswerten Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK verneint worden. Mit Hinblick auf § 55 AsylG und § 9 Abs 2 BFA-VG habe zudem das BFA die verpflichtende Interessenabwägung im Gesamten keinesfalls ordnungsgemäß und rechtmäßig durchgeführt, weswegen bereits deshalb unter Berücksichtigung der ständigen Rechtsprechung des VfGH der Bescheid wegen Willkür zur Gänze aus dem Rechtsbestand zu beseitigen sei.

6. Mit Schreiben vom 24.11.2016 wurde die gegenständliche Beschwerde – ohne von der Möglichkeit eine Beschwerdevorentscheidung zu erlassen – dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

7. Am 24.03.2017 übermittelte der Beschwerdeführer per E-Mail das Prüfungszeugnis über das Bestehen des „ÖSD Zertifikat Deutsch Österreich B1“ sowie eine Besuchsbestätigung über die Teilnahme am Vorbereitungskurs zum Pflichtschulabschluss.

8. Am 06.04.2017 wurde ein Empfehlungsschreiben vorgelegt.

9. Am 15.05.2017 übersandte der Beschwerdeführer zwei Bestätigungen über die Teilnahme an einem Deutschkurs sowie am XXXX der XXXX .

10. Am 19.08.2017 übermittelte der Beschwerdeführer per E-Mail das Prüfungszeugnis über das Bestehen des „ÖSD Zertifikat Deutsch Österreich B2“.

11. Am 01.06.2018 wurde eine Bestätigung über die Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung vorgelegt.

12. Mit E-Mail vom 14.08.2018 legte der Beschwerdeführer ein Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung, einen Lehrvertrag sowie mehrere Bestätigungen über die ehrenamtliche Tätigkeit und Teilnahme an sportlichen Aktivitäten, Laufveranstaltungen und Wettkämpfen und die Mithilfe bei Holz- und Gartenarbeiten vor.

13. In einer Stellungnahme vom 10.09.2018 brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass dem LIB zu entnehmen sei, dass die Sicherheitslage in Afghanistan seit Abzug der internationalen Truppen 2014 landesweit verfallen und von einem sehr hohen Maße an willkürlicher Gewalt gegen die Zivilbevölkerung geprägt sei. In Afghanistan herrsche Krieg, die fortgesetzte Anzahl bewaffneter Zusammenstöße sei auffallend hoch. Die offizielle Regierung kontrolliere nur einen Bruchteil des Landes, die afghanischen Sicherheitskräfte seien nicht schutzfähig. Da es „Mittel und Wege“ gebe um Personen ausfindig zu machen, sei es schwierig in Afghanistan unbemerkt zu bleiben. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen zu unterstützen sei beschränkt. Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran hätten einen stark eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsvorsorge, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe, für das Überleben von Rückkehrern sei ein familiäres oder andere soziales Netzwerk äußerst wichtig. Betreffend die Integration des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass dieser in Innsbruck einen sehr engen freundschaftlichen-familiären Kontakt zu einer AHS-Lehrerin pflege. Diese habe sich der Familie - der Vater und Bruder des Beschwerdeführers seien auch in Innsbruck als Asylwerber zugegen – angenommen und sei auch bereit gewesen die beiden Söhne der Familie zu adoptieren. Der Beschwerdeführer habe bereits einige Reisen innerhalb Österreichs mit der obengenannten Lehrerin unternommen und verbringe zwei Drittel seiner Zeit im Haushalt von ihr, dort verfüge er auch über ein eigenes Zimmer. Der Beschwerdeführer habe sechs Wochen als Lehrling gearbeitet und im Anschluss daran sich um einen anderen Lehrlingsplatz bemüht, ein Vorstellungsgespräch habe er dabei schon vereinbaren können. Er habe seinen Pflichtschulabschluss gemacht, die deutsche Sprache auf B2- Niveau erlernt und in Österreich sein zu Hause gefunden. Er versuche nun am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, außerdem sei er in einem Sportverein aktiv tätig und dabei sportlich erfolgreich. Ein Foto wurde auch vorgelegt.

14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.09.2018 in Anwesenheit des Beschwerdeführers und seiner Vertrauensperson eine mündliche Verhandlung durch. Im Rahmen dieser Verhandlung gab der Beschwerdeführer zusammengefasst - mitunter in deutscher Sprache - an, dass er in der Stadt Mashad, im Iran, geboren und aufgewachsen sei, sein Vater habe ihm gesagt, dass er ein Afghane sei. Im Iran hätte er eine Aufenthaltsberechtigung gehabt, die jedes Jahr verlängert werden müsse. Ein falsches Geburtsdatum bei der Sicherheitsbehörde habe er aus Angst abgeschoben zu werden angeben. Er stamme aus dem Dorf Torghondi Moghor in der Provinz Herat und sei Tadschike sunnitischen Bekenntnisses sowie ledig und kinderlos. Im Iran habe er zehn Jahre die Schule besucht, jedoch nicht abgeschlossen, da er von Kindern, Lehrern und dem Direktor aufgrund seiner afghanischen Herkunft diskriminiert worden sei. Seinem Vater habe er bei seiner Arbeit als Dachdecker geholfen, nebenbei habe der Beschwerdeführer Parfüm verkauft, die finanzielle Situation seiner Familie im Iran sei mittelmäßig gewesen. Mit zwanzig habe er den Iran verlassen. Seine Mutter, zwei Brüder und fünf Schwestern befänden sich noch im Iran. Ein Bruder arbeite auch als Dachdecker und finanziere die Mutter und Schwestern. Die Familienmitglieder im Iran des Beschwerdeführers seien in Sorge, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert werden würde. Die Geburtsdaten seiner Brüder habe der Beschwerdeführer in der Erstbefragung aufgrund von Müdigkeit und Stress falsch angegeben. Beide Brüder sowie zwei Schwestern seien verheiratet, alle hätten auch Kinder, der Beschwerdeführer habe aber nicht sehr viel Kontakt zu den Schwestern. Die Brüder hätten eine Arbeitserlaubnis, aber keine fixe Arbeit, mit diesen habe der Beschwerdeführer „ab und zu“ telefonischen Kontakt. Eineinhalb Monate nach der Ankunft des Beschwerdeführers in Österreich, seien dessen Vater und sein dritter Bruder aus dem Iran ausgereist. Da der Vater als Mujahed in Afghanistan gegen die Taliban gekämpft und dort Feinde habe, sei er mit der Mutter des Beschwerdeführers in den Iran geflohen. Im Iran nun sei der Vater durch diese Feinde wiedererkannt worden, weshalb er aus Angst um sein Leben den Iran verlassen habe. Der Bruder habe den Vater dabei unterstützen wollen, zumal die Gefahr bestanden habe, dass der Bruder nach Syrien in den Krieg geschickt werden würde, da er ledig sei. Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass er bei der Arbeit von der Polizei aufgesucht worden sei und diese seine Arbeitsbewilligung hätten sehen wollen. Da er keine bei sich gehabt habe, sei er festgenommen und nach Sange Sefid gebracht worden. Dort sei ihm gesagt worden, er solle in den Kampf nach Syrien ziehen oder man würde ihn nach Afghanistan abschieben. Sein Vater habe mit der Hilfe eines Bekannten für seine Freilassung gesorgt. Danach habe der Beschwerdeführer seine Flucht organisiert, weil er dort nicht mehr leben wolle. In Afghanistan sei er noch nie gewesen, er habe dort weder Bekannte, Freunde noch Verwandte. Es herrsche dort Krieg und die Sicherheitslage sei sehr schlecht. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan müsse der Beschwerdeführer ins Gefängnis, da es dort Aufenthaltslager für Flüchtlinge, die aus Pakistan oder aus den EU-Staaten zurückkehren, gebe. Die Umstände in diesen Lagern seien sehr schlecht, für ihn sei das „wie ein Gefängnis“. Zu seiner Situation in Österreich gab der Beschwerdeführer an, dass die anwesende Vertrauensperson wie eine „Mutter“ für ihn und seinen Bruder sei, er kenne sie aus einem Deutschkurs und sie habe ihm viel geholfen. Sein Vater und sein Bruder seien auch in Österreich, der Beschwerdeführer sehe die beiden spätestens alle zwei Tage. Er habe einen B1- und B2-Deutschkurs abgeschlossen und sei momentan auf Arbeitssuche, wobei nächste Woche der Beginn seines „Schnuppermonats“ bei einer Firma sei (dazu legte er auch eine Zusage der Firma für eine Schnupperlehre im Original vor). Zuvor habe er schon freiwillige Arbeit geleistet. Außerdem nehme er auch in einem Sportverein an Wettkämpfen teil und habe dabei immer wieder gute Platzierungen erreicht. In dem Verein habe der Beschwerdeführer auch viele Freunde, mit denen er gemeinsam laufe. Vorgelegt wurde zudem ein Konvolut von Bestätigungs- und Empfehlungsschreiben.

15. Am 04.10.2018 erging seitens des Beschwerdeführers eine Stellungnahme. Diesem Schreiben ist zu entnehmen, dass die Frage, ob die Betroffenen ein soziales Netzwerk in Afghanistan vorfinden, wesentlich sei. In den LIB sei die enorme Wichtigkeit des Sozialkapitals betont worden, für ein Überleben in Afghanistan sei ein familiäres oder ein anderes soziales Netzwerk äußerst wichtig. Da im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan ein solches Netzwerk nicht vorliege, würde er in eine ausweglose Situation geraten, weshalb ihm subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Bezüglich der Integration des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer, sein Vater und sein Bruder im September 2016 eine pensionierte, alleinstehende AHS-Lehrerin kennengelernt hätten. Der Beschwerdeführer habe sich öfters bei ihr zu Hause eingefunden um zu lernen, gemeinsam zu kochen und zu essen. Nach einem Unfall der Lehrerin, hätten sich der Beschwerdeführer und sein Bruder sehr um diese gekümmert, dazu habe sie den beiden auch ein Zimmer bei sich eingerichtet. In dieser Zeit habe sich die Beziehung intensiviert und die beiden seien „wie Söhne“ für sie geworden. Seit Jänner 2017 erbringe die Lehrerin laufend finanzielle Zuwendungen für den Beschwerdeführer und seinen Bruder, sie sei zudem bestrebt ihnen ein kulturelles Leben zu ermöglichen. Von Anfang Mai bis Juni 2018 habe der Beschwerdeführer eine Lehre zum Elektrotechniker gemacht, Grund für die Beendigung sei der Arbeitskollege des Beschwerdeführers gewesen. Dieser habe nur auf „urtirolerisch“ gesprochen und sich gegenüber dem Beschwerdeführer nicht um eine halbwegs verständliche Sprache bemüht. Nach Juni 2018 habe der Beschwerdeführer keine finanzielle Unterstützung von der Grundversorgungstelle erhalten, seit diesem Zeitpunkt sei er von der Lehrerin finanziell abhängig geworden. Da er ohnedies bei ihr wohne und sie ihn versorge, habe sie für ihn eine notariell beglaubigte Haftungserklärung unterschrieben und er sei mit Hauptwohnsitzmeldung zu ihr übersiedelt. Außerdem plane die Lehrerin, den Beschwerdeführer bei ihrer Lebensversicherung als Begünstigten im Falle ihres Ablebens einzusetzen. Die enge Verbundenheit zwischen der Lehrerin, ihrer Familie, dem Beschwerdeführer und dessen Familie zeige sich in allen Lebensbereichen. Der Beschwerdeführer und sein Bruder seien mittlerweile auch ein Teil der Großfamilie der Lehrerin geworden. Darüber hinaus signalisierte die Lehrerin, dass sie bereit sei den Beschwerdeführer zu adoptieren. Dieser bemühe sich weiterhin um eine höhere Ausbildung und besuche ein „Abendgymnasium“. Im Oktober 2018 beginne er sein „Schnuppermonat“ bei einer Baugesellschaft. In Verbindung mit der Stellungnahme wurden außerdem zwei Stellungnahmen, drei Empfehlungsschreiben, eine individuelle Kursübersicht zum Pflichtschulabschluss beim BFI, vier Zeugnisse zu unterschiedlichen Fächern beim BFI, eine notariell beglaubigte Haftungserklärung, eine Schulbesuchsbestätigung, ein Nachweis zum Pensionsbezug, eine Meldebestätigung, ein Antrag auf Selbstversicherung, ein Grundbuchauszug, eine Nachricht einer Versicherung zur Fälligkeit der persönlichen Vorsorge und ein Konvolut an Fotos vorgelegt.

16. Mit Schreiben vom 11.07.2017 legte der Beschwerdeführer zwei Semesterzeugnisse, ausgestellt durch das Bundesgymnasium für Berufstätige Innsbruck, vor.

17. Am 07.09.2020 wurde dem Beschwerdeführer Parteiengehör gewährt. Am 18.09.2020 ging eine entsprechende Stellungnahme ein beim Bundesverwaltungsgericht. Diesem Schreiben ist zu entnehmen, dass das Länderinformationsblatt aktuell festhalte, dass die Ausmaße der Pandemie in Afghanistan unbekannt, aber gravierend seien. Die EASO Country Guidance nehme ausdrücklich jene Gruppe von Rückkehrern von einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan aus, die entweder außerhalb Afghanistans geboren oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt hätten. Laut den UNHCR-Richtlinien sei eine Rückkehr auch bei volljährigen, gesunden, jungen und arbeitsfähigen Männern unzulässig, sofern Unterkunft, Infrastruktur, Sanitäranlagen, Versorgung usw. nicht vorhanden seien. Der Beschwerdeführer habe keinerlei Erfahrungen mit Afghanistan, daher drohe ihm im Fall der Rückkehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit und Hunger und somit eine reale Gefahr einer Art 3 EMRK Verletzung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer stellte am 26.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vollinhaltlich ab und es wurde im kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer erlassen und es wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für eine freiwillige wurde mit zwei Wochen festgesetzt. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Daraufhin wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht am 12.09.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.

1.2. Zum Beschwerdeführer

Der volljährige Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist zum dort angegebenen Datum geboren. Er ist afghanischer Staatsanghöriger und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Er ist sunnitischer Moslem. Er spricht Dari und Farsi. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Seine Kernfamilie besteht aus seinen Eltern, seinen drei Brüdern und seinen fünf Schwestern. Die Mutter, seine Schwestern sowie zwei seiner Brüder befinden sich im Iran. Der Beschwerdeführer steht in Kontakt mit seinen Familienmitgliedern im Iran.

Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt Mashad, im Iran, geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern auf. Seine Familie stammt aus der Provinz Herat in Afghanistan. Er besuchte zehn Jahre lang die Schule und half danach seinem Vater bei dessen Arbeit als Dachdecker aus, nebenbei arbeitete er noch als Parfümverkäufer.

Der Beschwerdeführer ist XXXX .

Der Beschwerdeführer ist gesund.

Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache zumindest auf B2 Niveau und hat den Pflichtschulabschluss in Österreich absolviert. Gegenwärtig besucht er ein „Abendgymnasium“. Für wenige Wochen machte der Beschwerdeführer eine Lehre als Elektrotechniker, schloss diese aber nicht ab. Außerdem verbrachte er ein „Schnuppermonat“ bei einer Baugesellschaft.

In einem Deutschkurs lernte der Beschwerdeführer eine österreichische pensionierte AHS-Lehrerin kennen. Zu dieser baute er eine enge Bindung auf und nimmt sie mittlerweile als „Mutter“ wahr. Auch für die Lehrerin ist der Beschwerdeführer wie ein „Sohn“ geworden, dazu möchte sie den Beschwerdeführer adoptieren. Zudem gab sie für ihn eine notariell beglaubigte Haftungserklärung ab und beabsichtigt den Beschwerdeführer als Begünstigen in ihrer Lebensversicherung einzusetzen. Seinen Hauptwohnsitz hat der Beschwerdeführer bei der Lehrerin und ist finanziell abhängig von ihr. Der Beschwerdeführer pflegt überdies freundschaftliche Kontakte in Österreich, ist Mitglied in einem Sportverein und nahm an mehreren sportlichen Wettkämpfen teil. Dazu engagierte er sich des Öfteren auch ehrenamtlich bei diversen Vereinen.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über einen Bruder und seinen Vater an familiären Anknüpfungspunkten. Zu beiden hat der Beschwerdeführer regelmäßig Kontakt. Darüber hinaus weist sein Bruder ebenfalls eine enge Bindung zur obengenannten Lehrerin auf und wird zusammen mit dem Beschwerdeführer als ein Teil der „Großfamilie“ der Lehrerin betrachtet.

Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

1.3.1. Der Beschwerdeführer verließ den Iran aufgrund von Schwierigkeiten mit der iranischen Polizei, sowie aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort lebende Afghanen. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Neuansiedlung in Afghanistan keine konkret gegen ihn gerichtete, individuelle physische oder psychische Gewalt.

1.3.2. Der Beschwerdeführer wird aktuell durch die Taliban weder verfolgt noch bedroht. Auch bei einer Rückkehr ist der Beschwerdeführer keiner konkreten, aktuellen Verfolgung oder Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hatte keinen Kontakt zu den Taliban, er wird von diesen auch nicht gesucht.

1.3.3. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell, aktuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer auch keine Zwangsrekrutierung.

1.3.4. Auch aufgrund der Tatsache, dass der Beschwerdeführer im Iran geboren wurde und sich zuletzt seit fünf Jahren in Österreich aufhält bzw. dass er als afghanischer Staatsbürger, der aus dem Iran sowie aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, deshalb in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist, kann keine aktuelle Verfolgung mit maßgeblicher Intensität festgestellt werden.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat

Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan (in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat) nicht in Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten, nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat/Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen könnten, können nicht festgestellt werden. Er kann dort seine Existenz-zumindest anfänglich-mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Es kann nicht festgestellt werden, dass er nicht in der Lage ist in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Herat und Mazar-e Sharif sind über die dortigen Flughäfen sicher zu erreichen.

1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

1.5.1.  Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.5.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.5.2.  Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.3.  Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.4.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.5.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).

Islamischer Staat (IS/DaesH) – Islamischer Staat Khorasan Provinz:

Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).

1.5.6.  Provinzen und Städte

1.5.6.1 Mazar-e Sharif/ Herat Stadt

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gab bzw. gibt es aufgrund der Corona Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Masar-e Sharif).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die in der Stadt Mazar-e Scharif und Umgebung befindlichen Orte, an denen die Mehrheit der IDPs und RückkehrerInnen letztlich unterkommen, teilt UNHCR in drei Kategorien ein: Die erste Kategorie ist das Stadtzentrum, wo die Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch sind. In der zweiten Kategorie befinden sich längerfristige und dauerhafte Siedlungen bzw. Stätten („sites“), welche sich in den Vororten oder am Stadtrand befinden. Dort gibt es ein gewisses Maß an Infrastruktur, und humanitäre Organisationen bieten dort ein gewisses Ausmaß an Unterstützung an. Es gibt dort einen gewissen Zugang zu soliden Unterkünften, Bildung und medizinischer Versorgung. Die beiden größten längerfristigen Siedlungen bzw. Stätten sind das Sakhi-Camp (20 km nordöstlich der Stadt), Qalen Bafan (im westlichen Teil von Mazar-e Scharif), sowie Zabihullah (etwa 20 km südöstlich der Stadt). Die dritte Kategorie von Gebieten sind jene Siedlungen oder Stätten, die erst vor kürzerer Zeit und aufgrund der anhaltenden und zunehmenden Vertreibung entstanden sind. Diese Siedlungen, die in der Regel von der Regierung nicht anerkannt werden, befinden sich häufig auf Landstrichen mit unklaren Eigentumsverhältnissen. In diesen neueren Siedlungen leben viele Menschen in Zelten, oft unter prekären Bedingungen und mit stark eingeschränktem Zugang zu humanitärer Hilfe. Es mangelt dort an Wasser, Strom und sozialen Einrichtungen. Im Prinzip ist die Situation hinsichtlich des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Wasser und anderen Dienstleistungen umso schlimmer, je weiter außerhalb der Stadt jemand lebt, wobei die Situation in den informellen Siedlungen bzw. Stätten am schlimmsten ist. Ob allerdings die Situation in der Innenstadt besser ist, hängt von den individuellen - insbesondere finanziellen - Umständen eines Binnenvertriebenen oder Rückkehrers ab (ACCORD Masar-e Sharif).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 „minimal“ (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, wird Mazar-e Sharif im Zeitraum April bis Mai 2020 in Stufe 3 „crisis“ eingestuft. In Stufe 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Stufe 3 weisen Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung auf oder sind nur geringfügig in der Lage, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ECOI, Kapitel 3.1).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

Herat-Stadt ist die Provinzhauptstadt der Provinz Herat. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 2.13).

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten auszuüben. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 20).

In der Stadt Herat gab bzw. gibt es aufgrund der Corona Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Herat).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die größten und bedeutendsten IDP- und RückkehrerInnen-Siedlungen in Herat- Stadt und Umgebung sind: Shahrak-e-Sabz (im Distrikt Gusara), Kahddestan (im Distrikt Indschil), Shaidayee (5km östlich der Stadt Herat) und Urdo Bagh. Die Versorgung der dort lebenden Menschen ist schlecht, der Zugang zur Grundversorgung ist eingeschränkt (ACCORD Herat).

Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70%) und zu Abwasseranlagen (30%). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat ist Zeitraum April 2020 bis Mai 2020 als IPC Stufe 3 „crisis“ (IPC - Integrated Phase Classification) eingestuft. In Stufe 3 weisen Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung auf oder sind nur geringfügig in der Lage, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, und dies nur indem Güter, die als Lebensgrundlage dienen, vorzeitig aufgebraucht werden bzw. durch Krisenbewältigungsstrategien (ECOI, Kapitel 3.1).

1.5.7.  Situation für Rückkehrer/innen

Im Zeitraum vom 01.01.2019 bis 04.01.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan. Seit 01.01.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 22).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgepräg

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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