Entscheidungsdatum
06.10.2020Norm
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2Spruch
W189 2230964-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung – Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.04.2020, Zl. 241842703-200115145, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird gem. §§ 7 Abs. 1 Z 2, 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Gemäß § 9 BFA-VG wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, und gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
III. Der Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes VII. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dieser ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) wurde nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 15.03.2003 aufgegriffen und durch die Bundesgendarmerie niederschriftlich befragt. Dabei gab er im Wesentlichen an, aus der Republik Tschetschenien zu stammen und mit seiner Familie sein Heimatland verlassen zu haben, da das russische Militär ihm zu Hause keine Möglichkeit zum Leben gebe.
1.2. Am 17.03.2003 wurde der BF durch das Bundesasylamt (in der Folge: BAA) niederschriftlich einvernommen. Zu seinem Ausreisegrund brachte er im Wesentlichen vor, dass er im Frühjahr 2000 von russischen Soldaten verschleppt und fünf Tage lang festgehalten worden sei, bis er von Familienangehörigen freigekauft worden sei. Er habe sich daraufhin mit seiner Familie nach Astrakhan (Föderationskreis Südrussland) in Sicherheit gebracht und nach mehreren Monaten das Land verlassen, da sich die Lage in Tschetschenien weiter verschlechtert habe und er kein Geld mehr gehabt habe, um die Miete zu zahlen.
1.3. Am 05.08.2003 wurde der BF erneut durch das BAA niederschriftlich einvernommen und ergänzte zu seinem Ausreisegrund im Wesentlichen, dass er im Jänner 2000 im Filtrationslager XXXX festgehalten und zwei Tage gefoltert worden sei. Er habe unterschreiben sollen, dass Waffen oder Drogen bei ihm gefunden worden seien, er habe sich jedoch geweigert. Sein Bruder habe ihn dann freigekauft und der BF sei nach Inguschetien gefahren. Im Dezember 2002 sei er einmal zu Hause in Tschetschenien gewesen. Danach habe er erfahren, dass immer noch nach ihm gesucht werde, weshalb er das Land verlassen habe.
1.4. Mit Bescheid des BAA vom 11.08.2003, Zl. 03 08.804-BAS, wurde der Asylantrag des BF gem. § 7 AsylG 1997 abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gem. § 8 AsylG 1997 zulässig erklärt.
1.5. Mit Schreiben vom 26.08.2003 erhob der BF dagegen Berufung.
1.6. Mit Urteil des LG Salzburg vom 28.09.2005 zur Zl. 41 Hv 110/05s wurde der BF wegen des Vergehens der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung nach § 287 Abs. 1 StGB iVm mit dem Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB zu einer auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
1.7. Mit Urteil des LG Salzburg vom 31.10.2006 zur Zl. 41 Hv 95/06m wurde der BF wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach den §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB zu einer auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und die Verlängerung der im vorgenannten Urteil bestimmten Probezeit auf fünf Jahre beschlossen.
1.8. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats (in der Folge: UBAS) vom 08.02.2007, Zl. 241.121/0/15E-VI/18/03, wurde der Bescheid des BAA behoben und die Angelegenheit an dieses zurückverwiesen.
1.9. Am 12.09.2007 wurde der BF wiederum durch das BAA niederschriftlich einvernommen. Konkret befragt gab der BF unter anderem an, dass er an keinen Kampfhandlungen beteiligt gewesen sei. Er habe nur im ersten Tschetschenienkrieg eine Schussverletzung erlitten.
1.10. Mit Bescheid des BAA vom 21.09.2007, Zl. 03 08.804-BAS, wurde der Asylantrag des BF erneut gem. § 7 AsylG 1997 abgewiesen, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gem. § 8 Abs. 1 AsylG 1997 zulässig erklärt und der BF gem. § 8 Abs. 2 AsylG 1997 aus dem Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
1.11. Mit Schreiben vom 17.10.2007 erhob der BF dagegen Berufung.
1.12. Mit Bescheid des UBAS vom 27.11.2007, Zl 241.121-2/3E-VI/18/07, wurde der Bescheid des BAA erneut behoben und die Angelegenheit an dieses zurückverwiesen.
1.13. Mit vom BAA in Auftrag gegebenem, psychiatrischen Gutachten vom 20.02.2008 wurde dem BF eine mittel- bis schwergradige posttraumatische Belastungsstörung durch wiederholte Traumatisierung diagnostiziert.
1.14. Mit Bescheid des BAA vom 28.02.2008, Zl. 03 08.804-BAS, wurde dem Asylantrag des BF gem. § 8 AsylG 1997 stattgegeben, ihm in Österreich Asyl gewährt und gem. § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
2.1. Mit Urteil vom 11.03.2009 wurde der BF vom BG Korneuburg zur Zl. 11 U 106/08s wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt und die Verlängerung der im unter Punkt 1.7. genannten Urteil bestimmten Probezeit auf fünf Jahre beschlossen.
2.2. Am 31.05.2009 wurde der BF in einem internationalen Reisezug im russischen Schlafwagen von der Polizei einer Schengenkontrolle unterzogen. Der BF habe sich zunächst mit seinem Konventionspass ausgewiesen und auf Nachfrage erklärt, dass er auch einen russischen Reisepass besitze, um nach Russland reisen zu können. Auch diesen habe er vorgewiesen.
2.3. Nach Aufforderung des BAA vom 29.06.2009 legte der BF diesem seinen russischen Reisepass vor.
2.4. Auf Anfrage des BAA gab die Staatendokumentation am 21.07.2009 Auskunft, dass der Reisepass in einer Zweigstelle des FMS (Federal Migration Service) in Moskau ausgestellt wurde.
2.5. Mit Urteil vom 07.07.2011 wurde der BF vom BG Donaustadt zur Zl. 32 U 64/11d wegen des Vergehens versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen à EUR 10,- verurteilt und die Verlängerung der im unter Punkt 2.1. genannten Urteil bestimmten Probezeit auf fünf Jahre beschlossen.
2.6. Mit Strafverfügung der Landespolizeidirektion (in der Folge: LPD) Wien vom 17.05.2018 wurde über den BF eine Strafe von EUR 76,- wegen einer Geschwindigkeitsübertretung verhängt.
2.7. Mit Strafverfügung der LPD Wien vom 28.09.2018 wurde über den BF eine Strafe von EUR 96,- wegen Nichtbeantwortung einer Lenkererhebung verhängt.
3.1. Mit Aktenvermerk vom 30.01.2020 leitete das nunmehrige Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) ein Aberkennungsverfahren gem. § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ein.
3.2. Am 27.02.2020 wurde der BF durch das BFA niederschriftlich einvernommen. Der BF erklärte zu Beginn der Einvernahme, einen Dolmetscher zu benötigen. Auf Nachfrage konnte der BF sich nicht auf Deutsch vorstellen. Er habe Deutschkurse auf dem Niveau A1 und A2 besucht. Ein Zertifikat liege bei ihm zu Hause. Er sei gesund, aber nehme Tabletten gegen Bluthochdruck. Er sei traditionell verheiratet und habe sechs Kinder, mit denen er – bis auf die älteste Tochter – im gemeinsamen Haushalt lebe. Er gehe keiner Erwerbstätigkeit nach. Befragt, weshalb er in den letzten fünf Jahren lediglich sieben Monate lang erwerbstätig war, erklärte der BF, dass es in Wien schwierig sei, eine Arbeit zu finden. Die Einheimischen würden bevorzugt werden. Er wolle zukünftig als LKW-Fahrer arbeiten, benötige dafür aber noch einen entsprechenden Führerschein. Er sei nicht in Vereinen aktiv und repariere in seiner Freizeit kostenlos Fahrräder von Freunden und Bekannten. Er habe tschetschenische Freunde. Er spreche mit seinen Kindern Tschetschenisch, diese würden ansonsten ständig Deutsch reden. Zwei seiner Kinder würden Russisch beherrschen, eines nicht so gut und drei gar nicht.
In Russland würden noch ein Bruder und drei Schwestern, deren Kinder, sowie zwei Cousins des BF leben. Er stehe in Kontakt mit seinen Geschwistern, kenne aber deren genauen Lebensumstände nicht. Zwei Schwestern würden in Moskau leben, die dritte Schwester und der Bruder in Tschetschenien. Er habe keine sonstigen Kontakte nach Russland. Er sei zuletzt 2002 in Russland gewesen. 2009 sei er nach Weißrussland gefahren und am Rückweg von der österreichischen Polizei angehalten worden. Er könne sich nicht erinnern, wo sein damaliger russischer Reisepass ausgestellt worden sei. Der BF sei noch mit Sprache und Kultur der Heimat vertraut.
Der BF wisse nicht, was passieren würde, wenn er nach Russland abgeschoben werden würde, habe aber von anderen Personen gehört, dass diese wieder mitgenommen und getötet worden seien. Das habe er von anderen Tschetschenen gehört. Weder er noch seine Angehörigen hätten sich aktiv am Tschetschenienkrieg beteiligt. Nachgefragt befürchte er aufgrund seines Asylstatus in Österreich in Russland Verfolgung.
Der BF verzichtete auf die Ausfolgung der Länderfeststellungen zur Russischen Föderation.
3.3. Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 05.04.2020 wurde dem BF der Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt V.), die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.) und gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG ein zweijähriges Einreiseverbot gegen den BF erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass sich die Lage im Herkunftsstaat des BF seit Zuerkennung des Status maßgeblich und nachhaltig geändert habe, weshalb ihm der Status des Asylberechtigten abzuerkennen sei. Eine refoulementschutzrechtlich relevante Gefährdung im Falle einer Rückkehr nach Russland sei nicht gegeben. Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens nicht entgegen. Angesichts der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Russland. Die Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien. Da der BF vorbestraft und mittelos sei, sei zudem die Verhängung eines Einreiseverbotes geboten gewesen.
3.4. Mit Schriftsatz vom 04.05.2020 brachte der BF durch seinen Rechtsvertreter fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde ein und monierte nach Wiederholung des Sachverhaltes und Verfahrensgangs im Wesentlichen, dass die belangte Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe, die Länderberichte unzureichend gewürdigt habe und die Beweiswürdigung mangelhaft sei, woraus letztlich eine falsche rechtliche Beurteilung folge. Beantragt wurde die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung und die Zeugeneinvernahme der Ehefrau des BF zum Beweis des gemeinsamen Haushaltes.
3.5. Gemäß Abschlussbericht der LPD Salzburg an die Staatsanwaltschaft Salzburg vom 08.06.2020 sei nach urkundentechnischer Untersuchung eine Fälschung bzw. Verfälschung des russischen Reisepasses des BF auszuschließen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1 Zur Person des BF
1.1.1. Der BF ist russischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an. Er ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Er spricht Tschetschenisch und Russisch.
Der BF wurde in XXXX , Republik Tschetschenien, geboren und ist dort aufgewachsen. Die letzten rund drei Jahre vor seiner Ausreise verbrachte er in der Republik Inguschetien und in der Stadt Astrakhan. Am 15.03.2003 reiste er zusammen mit seiner Frau und seinen damals vier minderjährigen Kindern in das österreichische Bundesgebiet ein und hält sich seither hier auf. Er hat in seiner Heimat zehn Jahre die Grundschule besucht und als Berufskraftfahrer gearbeitet.
Zwei Schwestern des BF leben in Moskau, eine weitere Schwester und ein Bruder in Tschetschenien. Der BF hat Kontakt zu seinen Geschwistern.
Der BF hat eine Frau, XXXX , und sechs Kinder, XXXX , geb. XXXX .2005, XXXX , geb. XXXX 1994, XXXX , geb. XXXX 1997, XXXX , geb. XXXX 1999, XXXX , geb. XXXX .2001 und XXXX , geb. XXXX 2004. Mit diesen lebt er – abgesehen von der inzwischen ausgezogenen ältesten Tochter – seit seiner Einreise in Österreich – bzw. seit Geburt der Kinder – im gemeinsamen Haushalt. Diese sind in Österreich aufenthaltsberechtigt. Der BF beherrscht die deutsche Sprache nicht. Er hat in den letzten fünf Jahren für sieben Monate gearbeitet. Er hat in Österreich tschetschenische Freunde, repariert in seiner Freizeit kostenlos Fahrräder und ist nicht Mitglied in einem Verein.
Der BF leidet unter Bluthochdruck. Im Jahr 2008 wurde dem BF eine mittel- bis schwergradige posttraumatische Belastungsstörung aufgrund wiederholter Traumatisierung diagnostiziert.
1.1.2. Mit Urteil des LG Salzburg vom 28.09.2005 zur Zl. 41 Hv 110/05s wurde der BF wegen des Vergehens der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung nach § 287 Abs. 1 StGB iVm mit dem Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB zu einer auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
Mit Urteil des LG Salzburg vom 31.10.2006 zur Zl. 41 Hv 95/06m wurde der BF wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach den §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB zu einer auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und die Verlängerung der im vorgenannten Urteil bestimmten Probezeit auf fünf Jahre beschlossen.
Mit Urteil vom 11.03.2009 wurde der BF vom BG Korneuburg zur Zl. 11 U 106/08s wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt und die Verlängerung der im vorgenannten Urteil bestimmten Probezeit auf fünf Jahre beschlossen.
Mit Urteil vom 07.07.2011 wurde der BF vom BG Donaustadt zur Zl. 32 U 64/11d wegen des Vergehens versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen à EUR 10,- verurteilt und die Verlängerung der im vorgenannten Urteil bestimmten Probezeit auf fünf Jahre beschlossen.
1.1.3. Mit Strafverfügung der LPD Wien vom 17.05.2018 wurde über den BF eine Strafe von EUR 76,- wegen einer Geschwindigkeitsübertretung verhängt.
Mit Strafverfügung der LPD Wien vom 28.09.2018 wurde über den BF eine Strafe von EUR 96,- wegen Nichtbeantwortung einer Lenkererhebung verhängt.
1.2. Zu den Gründen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten
Dem BF wurde mit Bescheid 28.02.2008, Zl. 03 08.804-BAS, der Status des Asylberechtigten zuerkannt, da er mit hoher Wahrscheinlichkeit im Zuge des Zweiten Tschetschenienkrieges im Jänner 2000 von russischen Soldaten angehalten und im Filtrationslager XXXX misshandelt wurde.
1.3. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten
Die Lage im Herkunftsstaat des BF hat sich seit Zuerkennung des Status maßgeblich und nachhaltig geändert. Der BF unterliegt in der Russischen Föderation daher keiner aktuellen Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.
Zudem hat sich der BF im Jahr 2009 einen russischen Reisepass ausstellen lassen und ist unter dessen Verwendung in die Russische Föderation eingereist.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation
1.4.1. Politische Lage in Tschetschenien
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale
1.4.2. Sicherheitslage in Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
Quellen:
- Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%
- Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019
- Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus
- Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus
- Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus
1.4.3. Rechtsschutz und Justizwesen in Tschetschenien
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).
Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).
Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 13.2.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation
- CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus
- EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser)
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik
- US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland
1.4.4. Sicherheitsbehörden in Tschetschenien
Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Aufseiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben“ (EASO 3.2017).
Quellen:
- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection
- HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia
- US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland
1.4.5. Korruption
Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).
Korruption ist in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene (ÖB Moskau 12.2019). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).
Quellen:
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation
- SEM – Staatssekretariat für Migration (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien
1.4.6. Allgemeine Menschenrechtslage in Tschetschenien
NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten (ÖB Moskau 12.2019). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 13.2.2019). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird, und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. BAMF 11.2019).
In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 12.2019). Der regierungskritische tschetschenische Blogger Tumso Abdurachmanow ist nach eigenen Angaben in seinem polnischen Exil von einem bewaffneten Angreifer attackiert worden. Es sei ihm gelungen, den Angreifer zu überwältigen. Menschenrechtsgruppen verurteilten den Angriff als "Mordversuch". Abdurachmanow betreibt bei YouTube einen Videokanal, der etwa 75.000 Abonnenten hat. In seinen Videos setzt er sich kritisch mit dem tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow auseinander. Nach eigenen Angaben wurde er in Tschetschenien mit dem Tode bedroht, seit 2015 lebt er im Exil. Dies war nicht der erste Angriff auf einen Tschetschenen, der von Kadyrow als "störend" empfunden wird, erklärte die russische Menschenrechtsorganisation Memorial. In den meisten Fällen würden die Ermordungen oder Mordversuche von "aus Tschetschenien entsandten Auftragsmördern" in Moskau oder anderen russischen Regionen, aber auch in der Ukraine oder anderen europäischen Ländern ausgeführt. 2019 hatte die Ermordung eines Georgiers mit tschetschenischen Wurzeln im Berliner Tiergarten Aufsehen erregt. Das Opfer soll im sogenannten zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft haben. Laut Bundesanwaltschaft wurde der 40-Jährige von russischen Behörden als "Terrorist" eingestuft und verfolgt. Ein dringend tatverdächtiger russischer Staatsangehöriger sitzt in Untersuchungshaft (AFP 27.2.2020). Anfang 2020 wurde ein anderer politischer Blogger aus Tschetschenien tot in einem Hotel in Frankreich aufgefunden. Imran Aliev (44) habe eine Kopfverletzung erlitten. Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Kawkaski Usel hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Bei Youtube hatte der Tschetschene unter dem Namen Mansur Staryj Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020).
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- AFP – Agence France Presse (27.2.2020): Bewaffneter Angreifer attackiert tschetschenischen Exil-Blogger
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtinge (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien
- Kleine Zeitung (3.2.2020): Gewalttat vermutet, Blogger aus Tschetschenien lag tot in Hotelzimmer
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation
1.4.7. Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges
Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen (ÖB Moskau 12.2019). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Ein anderes Beispiel ist der wohl populärste Kritiker von Kadyrow. Der Blogger lebt in Polen im Exil und wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 tot in einem Hotel gefunden (SZ 4.2.2020). Trotzdem dürften sich die russischen und tschetschenischen Behörden bei der Strafverfolgung vor allem auch auf IS-Kämpfer/Unterstützer bzw. auf Personen konzentrieren, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen. Zahlreichen Personen, nach denen seitens russischer Behörden gefahndet wird (z.B. Fahndungen via Interpol), werden Delikte gemäß § 208 Z 2 1. (Teilnahme an einer illegalen bewaffneten Formation) oder gemäß § 208 Z 2 2 (Teilnahme an einer bewaffneten Formation auf dem Gebiet eines anderen Staates, der diese Formation nicht anerkennt, zu Zwecken, die den Interessen der RF widersprechen) des russischen Strafgesetzbuches zur Last gelegt. In der Praxis zielen diese Gesetzesbestimmungen auf Personen ab, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen bzw. auf Personen, die ins Ausland gehen, um aktiv für den sog. Islamischen Staat zu kämpfen (ÖB Moskau 12.7.2017).
Quellen:
- CACI – Central Asia-Caucasus Analyst (25.2.2020): Kadyrov Continues to Target Enemies Abroad
- Deutschlandfunk.de (11.3.2019): Youtube-Blogger Abdurachmanov droht Abschiebung
- SZ – Süddeutsche Zeitung (4.2.2020): Angst säen
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation
- ÖB Moskau (12.7.2017): Information an die Staatendokumentation, Moskau-KA/ENTW/0014/2017, per Email
1.4.8. Bewegungsfreiheit
In der Russischen Föderation herrscht Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 13.3.2020).
Quellen:
- US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland
1.4.9. Grundversorgung im Nordkaukasus
Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 2.2020a, vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2019). Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Die Bevölkerungspyramide ähnelt derjenigen eines klassischen Entwicklungslandes mit hohen Geburtenraten und niedrigem Durchschnittsalter und unterscheidet sich damit stark von der gesamtrussischen Altersstruktur (AA 13.2.2019).
Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien im Juni 2019 bei RUB 27.443 [ca. EUR 388] (Chechenstat 2019), landesweit bei RUB 48.453 [ca. EUR 686] im zweiten Quartal 2019 (GKS 16.8.2019). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im August 2019 bei RUB 12.440 [ca. EUR 176] (Chechenstat 2019), landesweit im ersten Halbjahr 2019 bei RUB 14.135 [ca. EUR 200] (GKS 30.7.2019). Das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei RUB 10.967 [ca. EUR 155], für Pensionisten bei RUB 8.553 [ca. EUR 121] und für Kinder bei RUB 10.552 [ca. EUR 150] (Chechenstat 2019). Landesweit lag das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei RUB 11.553 [ca. EUR 163], für Pensionisten bei RUB 8.894 [ca. EUR 126] und für Kinder bei RUB 10.585 [ca. EUR 150] (RIA Nowosti 23.7.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- Chechenstat (2019): ??????????? ?????????? (Amtliche Statistiken)
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat
- GKS.ru (16.8.2019): ?????????????? ??????????? ??????????? ?????????? ????? (durchschnittliches monatliches Gehalt)
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation
- RIA Nowosti (23.7.2019): ??????? ????????? ???????? ???????????? ???????? ?? I ??????? 2019 ???? (Das Arbeitsministerium hat das Existenzminimum für das erste Quartal 2019 berechnet)
1.4.10. Sozialbeihilfen
Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2018).
Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds (GIZ 2.2020c).
Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 2.2020c).
Arbeitslosenunterstützung: Eine Person kann sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin wird die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Sollte der/die BewerberIn diesen zurückweisen, wird er/sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindesthöhe pro Monat beträgt RUB 850 (EUR 12) und die Maximalhöhe RUB 4.900 (EUR 70). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zweimal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2018).
Quellen:
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft
- IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation
1.4.11. Medizinische Versorgung
Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger ist in der Verfassung verankert (GIZ 2.2020c, vgl. ÖB Moskau 12.2018). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu notfallmäßiger medizinischer Versorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Fälle von Diskriminierung aufgrund von Religion oder ethnischer Herkunft bezüglich der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sind nicht bekannt (ÖB Moskau 12.2019).
Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgefährdeten (BMA 12248).
Quellen:
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft
- ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation
- International SOS via MedCOI (3.4.2019): BMA 12248
1.4.12. Rückkehr
Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Der Rückübernahme geht, wenn die betroffene Person in Österreich über kein gültiges Reisedokument verfügt, ein Identifizierungsverfahren durch die russischen Behörden voraus. Wird dem Rücknahmeersuchen stattgegeben, wird für diese Person von der Russischen Botschaft in Wien ein Heimreisezertifikat ausgestellt. Wenn die zu übernehmende Person im Besitz eines gültigen Reisedokuments ist, muss kein Rücknahmeersuchen gestellt werden. Bei Ankunft in der Russischen Föderation mussten sich bislang alle Rückkehrer beim Föderalen Migrationsdienst (FMS) ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren. Dies gilt generell für alle russische Staatsangehörige, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. 2016 wurde der FMS allerdings aufgelöst und die entsprechenden Kompetenzen in das Innenministerium verlagert. Die Zusammenarbeit zwischen föderalen und regionalen Behörden bei der innerstaatlichen Migration scheint verbesserungsfähig. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach dem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 12.2019).
Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mit Hilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, zu deren Bewältigung von Problemen zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützend tätig sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt. Im Normalfall sind Rückkehrer aber nicht immer mit Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert (ÖB Moskau 12.2019).
Es besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern in den Nordkaukasus. Vereinzelt gibt es Fälle von Tschetschenen, die im Ausland einen negativen Asylbescheid erhalten haben, in ihre Heimat zurückgekehrt sind und nach ihrer Ankunft unrechtmäßig verfolgt worden sind. Das unabhängige Informationsportal Caucasian Knot schreibt in einem Bericht vom April 2016 von einigen wenigen Fällen, in denen Tschetschenen, denen im Ausland kein Asyl gewährt worden ist, nach ihrer Abschiebung drangsaliert worden wären (ÖB Moskau 12.2019). Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 12.2019).
Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von häufig willkürlichem Vorgehen der Polizei gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden weiterhin statt (AA 13.2.2019).
Rückkehrende werden grundsätzlich nicht als eigene Kategorie oder schutzbedürftige Gruppe aufgefasst. Folglich gibt es keine individuelle Unterstützung durch den russischen Staat. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen StaatsbürgerInnen Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen. Es gibt auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen. Beispielsweise können Mikrokredite für Kleinunternehmen bei Banken beantragt werden. Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründungen an (IOM 2018).
Neben der allgemeinen Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr haben Rückkehrer die Möglichkeit, eines der vom österreichischen Innenministerium unterstützten Reintegrationsprogramme in ihrem Heimatland in Anspruch zu nehmen. Diese freiwilligen Rückkehrer erhalten eine umfassende Beratung und eine Reintegrationsleistung vor Ort (besteht im Wesentlichen aus einer Sachleistung), welche eine erneute Existenzgrundlage im Herkunftsland ermöglichen und somit eine Nachhaltigkeit der Rückkehr fördern soll (ÖB Moskau 12.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
- IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation
1.5. Zur Situation des BF im Falle einer Rückkehr
Dem BF ist die Rückkehr in die Russische Föderation – etwa in den Heimatort XXXX – zumutbar.
Im Falle einer Rückkehr würde er in keine existenzgefährdende Notlage geraten bzw. es würde ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen werden.
Er läuft nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.
Im Falle einer Abschiebung in den Herkunftsstaat ist der BF nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.
Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr ausschließen, konnten nicht festgestellt werden.
2. Beweiswürdigung
2.1. Zur Person des BF
2.1.1. Die Feststellungen zur Staats- und Volksgruppenzugehörigkeit des BF, zu seinen Kenntnissen der tschetschenischen und russischen Sprache, seinem Geburtsort und seinen Aufenthaltsorten, zu seiner Einreise und seinem Aufenthalt in Österreich, zu seiner Schulbildung und Arbeitserfahrung, seinen Geschwistern und dem Kontakt zu diesen, sowie zur Familie des BF in Österreich gründen sich auf die glaubhaften Aussagen des BF im Rahmen des Zuerkennungs- und Aberkennungsverfahrens und dem insoweit unstrittigen Akteninhalt.
Dass der BF die deutsche Sprache nicht beherrscht, folgt gleichfalls aus der Einvernahme im Aberkennungsverfahren, die auf Russisch durchgeführt werden musste. Der BF konnte sich in dieser nicht auf Deutsch vorstellen, da er die Sprache „nicht so gut“ spreche. Die Rechtfertigung des BF zu einem späteren Zeitpunkt in der Einvernahme, dass er die Frage lediglich nicht verstanden habe, widerspricht zum einen der Protokollierung, wonach diese dem BF auch übersetzt wurde, und zeigt zum anderen schon ebenso auf, dass er die Sprache offenkundig nicht beherrscht, denn ansonsten wäre er in der Lage gewesen, diese relativ simple Frage auch ohne Übersetzung zu verstehen. In weiterer Folge behauptete der BF zwar, Deutschkurse auf dem Niveau A1 und A2 absolviert zu haben und in seiner Wohnung ein Zertifikat zu haben, jedoch wurde dieses in der Folge – auch im Beschwerdeschriftsatz – nicht vorgelegt. Auch wenn angenommen werden kann, dass der BF nach rund 17-jährigem Aufenthalt zumindest die allergrundlegendsten Worte der deutschen Sprache verstehen wird, war aber dennoch festzustellen, dass er die Sprache offenkundig de facto nicht beherrscht.
Dass der BF in den letzten fünf Jahren lediglich sieben Monate gearbeitet hat, folgt aus den eigenen Angaben des BF in der Einvernahme im Aberkennungsverfahren und einem AJWEB-Auszug.
Ebenso hat der BF in jener Einvernahme selbst vorgebracht, lediglich tschetschenische Freunde zu haben, hobbymäßig Fahrräder zu reparieren und keinen Verein zu besuchen.
Dass der BF unter Bluthochdruck leidet, hat er in der jener Einvernahme ebenso vorgebracht und wird ihm, obgleich er keinen Befund in Vorlage brachte, im Zweifel geglaubt. Die Feststellung, dass dem BF im Zuerkennungsverfahren eine mittel- bis schwergradige posttraumatische Belastungsstörung aufgrund wiederholter Traumatisierungen diagnostiziert wurde, folgt aus dem entsprechenden im Akt befindlichen psychiatrischen Gutachten vom 20.02.2008.
2.1.2. Die Feststellungen zu den gegen den BF erlassenen Strafurteilen und Strafverfügungen stützen sich auf die unstrittigen, rechtskräftigen, im Akt aufliegenden Urteile und Strafverfügungen.
2.2. Zu den Gründen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten
Die Gründe für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ergeben sich aus dem unstrittigen Akteninhalt, insbesondere dem Vorbringen des BF vor dem BAA und der psychiatrischen Begutachtung des BF vom 20.02.2008.