TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/8 W251 2150748-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.10.2020
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Entscheidungsdatum

08.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W251 2150748-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX , geb. am XXXX , StA. Somalia und vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.02.2017, Zl. 1077191801 - 150823751, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Somalias, stellte am 09.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, Angst vor der Al Shabaab zu haben, weil diese ihn zum Kämpfen habe zwingen wollen. Er sei deshalb geflüchtet und habe nun Angst um sein Leben.

3. Mit Schreiben vom 20.07.2015 ersuchte der Beschwerdeführer um Änderung seines Namens, da sein Familienname falsch aufgenommen worden sei.

4. Am 23.01.2017 fand die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt. Der Beschwerdeführer gab im Wesentlichen an, als Lehrer an einer Schule unterrichtet zu haben. Das Gehalt sei ihm von einer NGO bezahlt worden. Die Al Shabaab habe ihn mehrere Male aufgefordert ihnen Informationen über die Schule und die NGO zu geben sowie mit ihnen zu arbeiten, was der Beschwerdeführer immer indirekt abgelehnt habe. Drei der fünf von der NGO angestellten Lehrer seien bereits umgebracht worden. Am 29.04.2015 sei abends am Heimweg von Anhängern der Al Shabaab auf den Beschwerdeführer geschossen worden, dieser aber nicht getroffen worden. Der Beschwerdeführer sei zum Haus seiner Großmutter gelaufen, wo er seinen Vater über den Vorfall informiert habe. Da sein Clan in seiner Heimatstadt ein Minderheitenclan sei, habe er keinen Schutz bekommen. Sein Vater habe einen Freund in Mogadischu kontaktiert zu dem der Beschwerdeführer noch am selben Abend gefahren sei. Zudem sei die Al Shabaab auch hinter ihm her, weil der Präsident der Provinz South West Somalia – wie der Beschwerdeführer – ein Angehöriger des Clans der Ashraf sei. Darüber hinaus sei ein Bruder und eine Schwester des Beschwerdeführers verschwunden und wahrscheinlich von der Al Shabaab entführt worden. Der Vater des Beschwerdeführers sei von der Al Shabaab so gefoltert worden, dass seine linke Hand und sein rechter Fuß gebrochen seien.

5. Das Bundesamt wies mit angefochtenem Bescheid den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung eingeräumt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das Bundesamt aus, dass der Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung subsidiären Schutzes rechtfertige. Der Beschwerdeführer habe familiäre Anknüpfungspunkte in Somalia, weshalb seine Existenz durch seine eigene Arbeitsfähigkeit und der familiären Unterstützung gesichert sei. Die Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

6. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass er immer die Wahrheit gesagt, sein Vorbringen nicht gesteigert und seine Angaben mit Hilfe von Beweismitteln untermauert habe. Die Al Shabaab akzeptiere den religiösen Status der Ashraf nicht, weil sie deren Abstammung von Fatima leugnen würden. Es könne daher zu gezielten Übergriffen auf Mitglieder des Clans der Ashraf seitens der Al Shabaab kommen. Die Beweiswürdigung des Bundesamtes lasse sich relativ leicht entkräften und widerspreche teilweise dem Akteninhalt. Im Rahmen der amtswegigen Ermittlungspflicht wäre es geboten gewesen bei der NGO nachzufragen, ob die Angaben des Beschwerdeführers der Wahrheit entsprechen. Dem Beschwerdeführer drohe aufgrund seiner tatsächlichen bzw. unterstellten politischen Überzeugung (nämlich der oppositionellen Gesinnung im Hinblick auf die Al Shabaab) eine politisch bzw. auch religiös (Unterstützung der Ungläubigen) motivierte Verfolgung, die asylrelevant sei. Das Bundesamt habe es gänzlich verabsäumt sich mit der Problematik der Dürre und Hungersnot auseinanderzusetzen. Dem Beschwerdeführer sei es nicht möglich aufgrund der Verfolgung durch die Al Shabaab in seine Heimatstadt zurückzukehren. Zudem sei eine Unterstützung durch seine Familie ebenso nicht möglich, zumal der Beschwerdeführer der einzige „Ernährer“ der Familie gewesen sei. Der Beschwerdeführer würde im Falle der Rückkehr in Somalia aufgrund der herrschenden Hungersnot mangels familiärer und staatlicher Unterstützung und mangels Clanschutz in eine ausweglose Lage geraten. Darüber hinaus habe sich der Beschwerdeführer schon gut in die österreichische Gesellschaft integriert, habe einen Onkel und dessen Familie in Österreich, der ihm behilflich ist. Der Beschwerdeführer verfüge bereits über gute Deutschkenntnisse, übe ehrenamtliche und gemeinnützige Tätigkeiten aus und habe viele Bekanntschaften in Österreich geknüpft. Die Rückkehrentscheidung sei auf Dauer für unzulässig zu erklären.

7. Mit Dokumentenvorlage vom 08.08.2017 legte der Beschwerdeführer Unterlagen betreffend seine Integration in Österreich vor.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.12.2018 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Somali und im Beisein des Rechtsvertreters des Beschwerdeführerseine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

9. Mit Dokumentenvorlage vom 04.01.2019 wurde der Personalausweis des in Österreich lebenden Onkels des Beschwerdeführers, mit jener vom 16.07.2019, 22.08.2019 und 09.07.2020 Unterlagen betreffend seine Integration vorgelegt.

10. Mit Parteiengehör vom 26.08.2020 wurde den Parteien das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Somalia vom 17.09.2019, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Somaliland vom 17.09.2019, der Bericht ACCORD, COVID 19 Somalia vom 07.08.2020 und die FEWS Key Message Up-Date Somalia aus Juli 2020 zur Stellungnahme übermittelt und den Parteien aufgetragen bekannt zu geben, ob sich seit der letzten Verhandlung etwas an den Angaben des Beschwerdeführers in der Verhandlung, an der Situation des Beschwerdeführers in Österreich bzw. im Herkunftsland oder an der Situation in Somalia geändert hat.

11. Der Beschwerdeführer erstattete keine Stellungnahme.

II. Entscheidungsgründe:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist somalischer Staatsangehörige, Angehörige des Clans der Ashraf, Sub-Clan XXXX und Sub-Sub-Clan XXXX , und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Er spricht Somali als Muttersprache, ist ledig und hat keine Kinder (AS 1, 79, 81; Verhandlungsprotokoll vom 18.12.2018 = OZ 16, S. 6).

Der Beschwerdeführer wurde in Wanlaweyne geboren und ist dort im Bezirk XXXX gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zehn Geschwistern (sechs Brüder und vier Schwestern) in einem Haus aufgewachsen. Er hat zehn Jahre die Schule besucht und von 2012 bis 2014 nachmittags als Lehrer gearbeitet (AS 1, 81; OZ 16, S. 7). Im Jahr 2015 war der Beschwerdeführer nicht mehr als Lehrer tätig.

Der Beschwerdeführer reiste am 05.05.2015 aus Somalia aus (AS 5, 82; OZ 16, S. 9). Der Beschwerdeführer ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellte am 09.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.2. Die Eltern des Beschwerdeführers sowie seine Geschwister leben nach wie vor in Wanlaweyne. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt mit seiner Familie.

Ein Onkel des Beschwerdeführers väterlicherseits lebt in England, ein anderer lebt in Österreich. Der Beschwerdeführer hat zu beiden Onkel väterlicherseits Kontakt (OZ 16, S. 9 f). Der Beschwerdeführer hat seinen in Österreich lebenden Onkel nicht erst in Österreich kontaktiert, sondern bereits vor seiner Ausreise aus Somalia Kontakt zu diesem gehabt.

Zwei Onkel sowie zwei Tanten mütterlicherseits leben in Ägypten. Der Beschwerdeführer hat diese Verwandten nie kennengelernt und keinen Kontakt zu diesen (OZ 16, S. 10).

1.1.3. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Er ist gesund und arbeitsfähig (OZ 16, S. 14). Er gehört keiner COVID-19 Risikogruppe an und weißt diesbezüglich auch keine Dispositionen auf.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Der Beschwerdeführer wurde von der Al Shabaab weder aufgefordert ihnen Informationen (über die Schule in der er gearbeitet hatte und die NGO, die diese Schule unterstützt habe) zu besorgen noch mit ihnen zusammenzuarbeiten oder Anschläge auszuüben. Weder wurde auf den Beschwerdeführer durch Mitglieder der Al Shabaab geschossen noch wurde der Vater des Beschwerdeführers geschlagen. Der Beschwerdeführer und seine Familie wurden von der Al Shabaab nie bedroht. Die Al Shabaab hatte kein Interesse am Beschwerdeführer. Ein Bruder und eine Schwester des Beschwerdeführers wurden nicht von der Al Shabaab entführt.

Der Beschwerdeführer hat Somalia weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Im Falle der Rückkehr nach Somalia droht dem Beschwerdeführer weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Al Shabaab oder durch andere Personen.

1.2.2. Der Beschwerdeführer hatte in Somalia selber keine konkret und individuell gegen ihn gerichteten Probleme aufgrund seiner Clanzugehörigkeit.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr in die Stadt Wanlaweyne kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.

Der Beschwerdeführer kann dort grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer ist mit den Gepflogenheiten in Somalia vertraut. Er hat keine Unterhaltsverpflichtungen. Er verfügt über familiäre Anknüpfungspunkte in Wanlaweyne und kann wieder bei seiner Familie im Haus wohnen. Er kann von seinem familiären Netzwerk – insbesondere von seinen Brüdern – und von seinem Clan – als Angehöriger des Clans der Ashraf –, insbesondere bei der Arbeitssuche und der Verpflegung, unterstützt werden und dann selber für sein Auskommen und Fortkommen sorgen.

Zudem kann der Beschwerdeführer zumindest vorübergehend von seinem Onkel aus Österreich finanziell unterstützt werden. Der Beschwerdeführer kann zudem Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Somalia in Wanlaweyne wieder Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Ansiedlung in der Stadt Mogadischu kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Er kann sich auch in der Stadt Mogadischu ansiedeln, dort Fuß fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer ist seit seiner Antragsstellung am 09.07.2015 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG in Österreich durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse bis zum Niveau B2 besucht (AS 101, 105; OZ 28) und die Deutschprüfung am 08.04.2016 auf dem Niveau A1 (AS 97), am 09.09.2016 auf dem Niveau A2 (AS 99) und am 24.07.2017 auf dem Niveau B1 befriedigend (Beilage ./A bis ./C) bestanden. Er verfügt über gute Deutschkenntnisse (OZ 16, S. 11 f).

Der Beschwerdeführer geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung. Er hat sich als Hilfsarbeiter bei einer Bäckerei beworben (OZ 24)

Er hat freiwillig bei einer Kleidersammlung in einer Gemeinde mitgeholfen (AS 107) und war im November 2016 drei Tage lang jeweils 8,5 Stunden gemeinnützig für Übersiedlungsdienste beschäftigt (AS 109). Der Beschwerdeführer hat einen Erste-Hilfe-Grundkurs absolviert (AS 111; Beilage ./E) und an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen (Beilage ./D).

Ein Onkel des Beschwerdeführers väterlicherseits lebt samt dessen Familie in Österreich. Der Beschwerdeführer lebt mit diesem in keinem gemeinsamen Haushalt. Der Beschwerdeführer telefoniert regelmäßig mit seinem Onkel in Österreich und besucht diesen alle zwei bis drei Monate für 2 bis 3 Tage, gelegentlich auch für eine Woche (OZ 16, S. 13). Er hat in Österreich auch freundschaftliche Kontakte geknüpft, jedoch bestehen keine engen sozialen Kontakte zu diesen (OZ 16, S. 14). Der Beschwerdeführer steht weder zu seinem Onkel oder dessen Familie noch zu seinen freundschaftlichen Kontakten in einem Abhängigkeitsverhältnis.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia vom 17.09.2018 (LIB),

-        FFM Report Somalia, Sicherheitslage in Somalia, August 2017 (FFM),

-        Analyse der Staatendokumentation, Somalia, Ashraf 2011 vom 05.11.2011 (Ashraf),

-        Focus Somalia clans und Minderheiten vom 31.05.2017 (Focus Somalia),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Humanitäre Hilfe, Arbeitsmarkt, Versorgubgslage in Mogadischu, vom 11.05.2018 (Mogadischu),

-        FEWS NET, IPC- Classification aus Mai 2017 (IPC-Classification)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Somalia: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie: Ausgangs- und Reisebeschränkungen, Versorgungslage, medizinische Versorgung, Umgang mit Erkrankten vom 07.08.2020 (COVID-19)

-        Famine Early Warning Systems Network – Key Message Update aus Juli 2020 (FEWSN-J)

-        Famine Early Warning Systems Network – Key Message Update aus September 2020 (FEWSN-S)

1.5.1. Politische Situation

Somalia ist faktisch zweigeteilt in die somalischen Bundesstaaten und Somaliland, einen selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird, aber als autonomer Staat mit eigener Armee und eigener Rechtsprechung funktioniert (LIB Kapitel 2)

Seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 war Süd-/Zentralsomalia immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen. Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. In vielen Bereichen handelt es sich bei Somalia um einen „indirekten Staat“, in welchem eine schwache Bundesregierung mit einer breiten Palette nicht-staatlicher Akteure (z.B. Clans, Milizen, Wirtschaftstreibende) verhandeln muss, um über beanspruchte Gebiete indirekt Einfluss ausüben zu können (LIB Kapitel 2)

Während im Norden bereits die Gliedstaaten Somaliland und Puntland etabliert waren, wurden im Rahmen eines international vermittelten Abkommens von 2013 bis 2016 die Bundesstaaten Jubaland, South West State (SWS), Galmudug und HirShabelle neu gegründet. Allerdings hat keine dieser Verwaltungen die volle Kontrolle über die ihr nominell unterstehenden Gebiete (LIB Kapitel 2).

Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clan-Balance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (LIB Kapitel 2).

1.5.2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage bleibt instabil und unvorhersagbar. Zwar ist es im Jahr 2018 im Vergleich zu 2017 zu weniger sicherheitsrelevanten Zwischenfällen und auch zu einer geringeren Zahl an Todesopfern gekommen, doch ist die Sicherheitslage weiterhin schlecht. Sie ist vom bewaffneten Konflikt zwischen AMISOM (African Union Mission in Somalia), somalischer Armee und alliierten Kräften auf der einen und al Shabaab auf der anderen Seite geprägt. Zusätzlich kommt es in ländlichen Gebieten zu Luftschlägen. Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen. Wer sich in Somalia aufhält, muss sich der Gefährdung durch Terroranschläge, Kampfhandlungen, Piraterie sowie kriminell motivierte Gewaltakte bewusst sein. Auch der Konflikt um Ressourcen (Land, Wasser etc.) führt regelmäßig zu Gewalt (LIB Kapitel 3).

Viele Städte stehen unter der Kontrolle somalischer Armee und AMISOM sowie der Regierung, wobei diese Städte oft vom Gebiet der Als Shabaab umgeben ist (LIB Kapitel 3).

1.5.3. Wanlaweyne

In den größeren von der Regierung kontrollierten Städten besteht eine grundlegende Verwaltung, es gibt Bürgermeister, eine lokale Rechtsprechung und Ordnungskräfte. Beim Aufbau der Verwaltung im South West State (SWS) konnten Fortschritte erzielt werden, dies bezieht sich aber mehr auf den Bereich Ausbau der Fähigkeiten in den wenigen kontrollierten Gebieten und nicht auf eine Ausdehnung der Kontrolle in den Regionen Bay und Bakool. Der Regierung ist es mit internationaler Unterstützung gelungen, eine eigene kleine Armee aufzubauen, die South West State Special Police Force (SWSSPF). Die SWSSPF ist – auch mit internationaler Hilfe – weiter ausgebaut worden. Sie ist in Bay der Hauptträger des Kampfes gegen al Shabaab. Es besteht ein Plan von AMISOM und Armee, die Route Mogadischu-Baidoa abzusichern und Leego wieder einzunehmen. Al Shabaab kontrolliert viele Straßenverbindungen und ländliche Gebiete. Insgesamt ist der SWS der am meisten von Gewalt betroffene Bundesstaat (LIB, Kapitel 3.1.2.).

Lower Shabelle: Wanla Weyne, Afgooye, Qoryooley und Baraawe befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM (LIB, Kapitel 3.1.2.).

Lower Shabelle ist ein Zentrum der Gewalt im somalischen Konflikt. Die Bezirke Merka, Qoryooley und Afgooye sind nach wie vor stark von Gewalt betroffen, das Gebiet zwischen diesen Städten liegt im Fokus der al Shabaab. Die meisten der im Jahr 2019 aufgrund von Konflikten neu vertriebenen Menschen stammen aus Lower Shabelle. Im März 2019 hat die Regierung angekündigt, dort eine neue Offensive zu führen. Die Operation zielt u.a. auf eine Verbesserung der Lage von Mogadischu und die Sicherheit entlang der Hauptroute von Afgooye nach Merka ab Bei der Absicherung neu gewonnener Gebiete in Lower Shabelle stoßen somalische Kräfte und AMISOM zwar auf Probleme – etwa bei Ressourcen, Infrastruktur und bei der Verankerung einer Zivilverwaltung. Trotzdem ist zu beobachten, dass vor allem in den durch diese Operation Badbaado 1 neu gewonnenen Räumen der Aufbau einer zivilen Verwaltung und die Installation von Polizeikräften relativ rasch nach der Einnahme der Ortschaften erfolgt (LIB, Kapitel 3.1.2.).

Wanla Weyne ist von Mogadischu über die Hauptstraße Richtung Baioda zu erreichen. In Bay bzw. Lower Shabelle kann es an der Route von Baidoa nach Mogadischu zu Übergriffen durch unterschiedliche Akteure kommen. Al Shabaab hat Zugriff auf die gesamte Straße, sie kontrolliert die Verbindung von Baidoa nach Buur Hakaba und weiter nach Bali Doogle. Rund um Baidoa betreibt die Gruppe Straßensperren (LIB, Kapitel 19).

Straßensperren: In ganz Süd-/Zentralsomalia gibt es Straßensperren (Checkpoints), an welchen Fahrzeuge aufgehalten und Personen kontrolliert werden. Prinzipiell geht es an einer Straßensperre um die Einhebung von Wegzoll (LI 28.6.2019, S.8), wobei die Höhe des Zolls mitunter willkürlich ist. Es gibt permanente und ad hoc Straßensperren, betrieben von Sicherheitskräften, al Shabaab oder Clan-Milizen (LIB, Kapitel 19).

Straßensperren von al Shabaab: Außerhalb der tatsächlich von der Regierung und ihren Alliierten kontrollierten Gebiete besteht eine große Wahrscheinlichkeit, auf eine Straßensperre von al Shabaab zu stoßen. Diese finden sich in ganz Süd-/Zentralsomalia flächendeckend, die Steuerhöhe variiert regional. Allerdings finden sich diese Straßensperren oft nicht an den Hauptversorgungsrouten, sondern an Nebenstraßen der ländlichen Gebiete. Doch auch an wichtigen Straßenverbindungen – z.B. nach Baidoa, Kismayo oder Jowhar – betreibt al Shabaab Checkpoints. Berufsfahrer bevorzugen Wege mit Checkpoints von al Shabaab, da dort – im Gegensatz zu von anderen Kräften kontrollierten Straßensperren – Regeln eingehalten werden und weil dort das Risiko von Gewalt geringer und die vorgesehene Abgabe berechenbarer ist. Außerdem ist es weder Ziel von al Shabaab, Menschen am Reisen zu hindern, noch sind Reisende selbst ein Ziel. Straßensperren zielen in erster Linie auf die Einhebung von Steuern ab und in zweiter Linie darauf, Spione zu identifizieren. Menschen können z.B. aus den Gebieten von al Shabaab in Städte reisen, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen (LIB, Kapitel 19).

Alleine die Tatsache, dass jemand in einem westlichen Land gewesen ist, stellt im Kontext mit al Shabaab an solchen Straßensperren kein Problem dar. Allerdings ruft westliches Verhalten oder westliche Kleidungsart Sanktionen hervor – etwa Auspeitschen. Reisende passen sich daher üblicherweise den Kleidungs- und Verhaltensvorschriften von al Shabaab an, um nicht herauszustechen. Angst vor al Shabaab müssen in erster Linie jene Reisenden haben, die tatsächlich Verbindungen zur Regierung haben, oder aber die diesbezüglich verdächtigt werden. Sie befinden sich in Lebensgefahr. Dies gilt insbesondere an Straßensperren in jenen Gebieten, die nicht vollständig unter Kontrolle von al Shabaab stehen. Dort dürfen Spione standrechtlich – ohne Verfahren – exekutiert werden. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab werden Verdächtige i.d.R. verhaftet und vor Gericht gestellt. Auch dies hat - bei einem Schuldspruch - den Tod zur Folge. Außerdem kann es Personen treffen, die von al Shabaab – etwa wegen des Mitführens von bestimmten Objekten (Smartphones, Regierungsdokumente, Symbole, die mit der Regierung assoziiert werden etc.) – als mit der Regierung in Zusammenhang stehend oder als Spione verdächtigt werden. Auch Reisende, die im Gebiet der Reisebewegung weder über Familien- noch Clan-Verbindungen verfügen, können von al Shabaab unter Umständen als Spione verdächtigt werden (außer sie haben einen Bürgen). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Reiseziel der Person im von der al Shabaab kontrollierten Gebiet liegt (LIB, Kapitel 19).

Betreffend die Versorgungslage gelten für Wanlaweyne die IPC-Stufeen 1 (minimal) und 2 (stressed) (FSNAU; FEWSN-J; FEWSN-S).

1.5.4. Mogadischu

Mogadischu bleibt weiterhin unter Kontrolle von Regierung und. Die vormals für Verbesserungen in der Sicherheitslage verantwortliche Mogadishu Stabilization Mission (MSM) wurde nunmehr deaktiviert. Ihre Aufgaben wurden mittlerweile von der wesentlich verstärkten Polizei übernommen. Letztere wird von Armee, AMISOM und Polizeikontingenten von AMISOM unterstützt (LIB Kapitel 3.1.3.).

Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Al Shabaab wieder die Kontrolle über Mogadischu erlangt. Es gibt in der Stadt auch kein Risiko mehr, von der Al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden (LIB Kapitel 3.1.3.).

Die Al Shabaab ist in der Lage in weiten Teilen des Stadtgebiets Anschläge durchzuführen. Es kommt regelmäßig zu Sprengstoffanschlägen oder aber zu gezielten Tötungen. Üblicherweise zielt die Al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Offizielle, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung, Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und –Gebäude sowie Soldaten von Armee und AMISOM. Betroffen sind Regierungseinrichtungen, Restaurants und Hotels, die von nationalen und internationalen Offiziellen frequentiert werden. Für die Zivilbevölkerung ist das größte Risiko, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein oder mit der Regierung in Verbindung zu stehen oder von Al Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen zu werden (LIB Kapitel 3.1.3.). Die Situation in Mogadischu ist nicht derartig, dass jeder Mensch in der Stadt einem Risiko eines Eingriffs in die körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt wäre

Nicht alle Teile von Mogadischu sind bezüglich Übergriffen von al Shabaab gleich unsicher. So sind z.B. jene Teile, in welche Rückkehrer siedeln (u.a. IDP-Lager) besser vor al Shabaab geschützt. IDP-Lager stellen für die Gruppe kein Ziel dar. Jedenfalls ist al Shabaab nahezu im gesamten Stadtgebiet in der Lage, verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben. Die meisten Anschläge richten sich gegen Villa Somalia, Mukarama Road, Bakara-Markt, die Flughafenstraße und Regierungseinrichtungen. Auch Dayniile ist stärker betroffen. Gebiete, die weiter als 10 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegen, werden teilweise von al Shabaab kontrolliert. Vor allem Dayniile, Yaqshiid und Heliwaa werden als unsichere Gebiete erachtet (LIB Kapitel 3.1.3.).

Es besteht kein Risiko, alleine aufgrund der eigenen Clanzugehörigkeit angegriffen zu werden. Trotzdem sind Clan und Clanzugehörigkeit in Mogadischu nach wie vor relevant (LIB Kapitel 3.1.3.).

In Mogadischu sind 28% der Bevölkerung arbeitssuchend. 6% der Jugendlichen sind arbeitssuchend (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 19). Es gibt in Mogadischu bessere Job-Aussichten als in den meisten anderen Teilen Somalias, auch für Jugendliche ohne Bildung und Arbeitserfahrung. Während in Somalia die meisten Menschen in der Landwirtschaft arbeiten, arbeiten in Mogadischu die meisten Menschen im Handel bzw. im Dienstleistungssektor oder in höheren bildungsabhängigen Berufen (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 21). Das Auswahlverfahren im Arbeitsleben basiert oft auf Clanbasis, gleichzeitig werden aber viele Arbeitsplätze an Rückkehrer aus der Diaspora vergeben. Es gibt auch Beschäftigungsmöglichkeiten, die von vielen Somaliern nicht in Anspruch genommen werden, da diese Arbeit als minderwertig erachtet wird, z.B. Friseur, Kellner oder Reinigungsarbeiten (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 22).

Die somalische Wirtschaft zeigt eine positive Entwicklung. Die Schaffung an Arbeitsplätzen bleibt jedoch unter den Bedürfnissen. Trotzdem gibt es in Mogadischu aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs zahlreiche Möglichkeiten. Das Durchschnittseinkommen für Jugendliche beträgt 190 USD im Monat. In Mogadischu beträgt das Durchschnittseinkommen 360 USD im Monat. Fast 10% der Jugendlichen in Mogadischu verdienen mehr als 400 USD im Monat (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 23-24).

Für Mogadischu selbst gilt die IPC-Stufe 2 (stressed); für IDP’s die IPC-Stufe 3 (crisis) (FSNAU; FEWSN-J; FEWSN-S).

Mogadischu ist über einen internationalen Flughafen sicher erreichbar (LIB Kapitel 19 und 23). Mogadischu verfügt über einige Gesundheitseinrichtungen, Spitäler und Kliniken (LIB Kapitel 22).

1.5.5. Al-Shabaab

Ziel der Al Shabaab ist es, die somalische Regierung und ihre Alliierten aus Somalia zu vertreiben und in Groß- Somalia ein islamisches Regime zu installieren. Je höher der militärische Druck auf al Shabaab anwächst, je weniger Gebiete sie effektiv kontrollieren, desto mehr verlegt sich die Gruppe auf asymmetrische Kriegsführung (Entführungen, Anschläge, Checkpoints) und auf Drohungen. Dabei ist auch die Al Shabaab in ihrer Entscheidungsfindung nicht völlig frei. Die Gruppe unterliegt durch die zahlreichen Verbindungen z.B. zu lokalen Clan-Ältesten auch gewissen Einschränkungen (LIB Kapitel 3.1.6.).

Die Al Shabaab zwangsrekrutiert in den von ihr kontrollierten Gebieten in Süd-/Zentralsomalia Kinder. Im Zeitraum Mai-August 2019 waren davon 187 Kinder betroffen. Die Gruppe führt zu diesem Zweck Razzien gegen Schulen, Madrassen und Moscheen durch. Außerdem wurden Älteste und Koranschullehrer in ländlichen Gebieten Süd-/Zentralsomalias wiederholt dazu aufgerufen, Kinder an die Gruppe abzugeben. Al Shabaab bedroht und erpresst Eltern, Gemeinden, Lehrer und Älteste, damit diese der Gruppe Schüler zuführen. Es kommt in diesem Zusammenhang auch zu Gewalt und Inhaftierungen. Eltern rekrutierter Kinder haben keine Möglichkeit Protest einzulegen, ihnen droht bei Widerstand Bestrafung oder sogar der Tod (LIB Kapitel 10.1).

(Zwangs-)Rekrutierung: Im Jahr 2017 begann al Shabaab noch intensiver, arbeitslose junge Männer zu rekrutieren. Es gibt sehr unterschiedliche Gründe, al Shabaab beizutreten: die Aussicht auf Gehalt und Status, Abenteuerlust und Rachegefühle. Jugendliche selbst geben an, dass der Hauptgrund zum Beitritt zu al Shabaab oder zur Armee das Einkommen ist. Meist erfolgt ein Beitritt zur al Shabaab aufgrund ökonomischer, sicherheitsbedingter und psycho-sozialer Motivation. Nur wenige der befragten Deserteure gaben an, al Shabaab aufgrund einer religiösen Motivation beigetreten zu sein; dahingegen maßen mehr als die Hälfte gesellschaftlichen Erwägungen eine besondere Rolle zu, darunter Status (inkl. Eheschließung) und Macht. Auch Abenteuerlust spielt eine große Rolle. Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans. Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern. Die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet. Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen oft um eine Mischung aus Druck und Anreizen (LIB Kapitel 10.1).

Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle der al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch die al Shabaab (LIB Kapitel 10.1).

Verweigerung: Üblicherweise richtet die al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens. Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus der al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (LIB Kapitel 10.1).

Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat. Stellt eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen der al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt – so etwa geschehen in Aad (Mudug) und Bananey (Lower Shabelle) (LIB Kapitel 10.1).

1.5.6. Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates:

Im somalischen Kulturraum existieren drei Rechtsquellen: traditionelles Recht (Xeer), islamisches Schariarecht (v.a. für familiäre Angelegenheiten) sowie formelles Recht. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung. Staatlicher Schutz ist in Gebieten der al Shabaab nicht verfügbar. Der Clan-Schutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten (LIB Kapitel 4).

1.5.7. Clanstruktur:

In Somalia ist die Bevölkerung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans zersplittert, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeits-empfinden bestimmt. Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (LIB Kapitel 17.1.).

Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalier. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Dieses Identifikationsmerkmal bestimmt, welche Position eine Person oder Gruppe im politischen Diskurs oder auch in bewaffneten Auseinandersetzungen einnimmt. Darum kennen Somalier üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem. Allerdings gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LIB Kapitel 17.1). In Mogadischu und anderen großen Städten ist es daher nicht automatisch nachvollziehbar, welchem Clan eine Person angehört. Die (Clan-)Zusammensetzung der Bevölkerung von Mogadischu ist sehr heterogen. Dort können sich Angehörige jedes Clans niederlassen (LIB Kapitel 19).

Als "noble" Clanfamilien gelten die traditionell nomadischen Hawiye, Darod, Dir und Isaaq sowie die sesshaften Digil und Mirifle/Rahanweyn. Es ist nicht möglich, die genauen Zahlenverhältnisse der einzelnen Clans anzugeben. Hawiye, Darod, Isaaq und Digil/Mirifle stellen wohl je 20-25% der Gesamtbevölkerung, die Dir deutlich weniger. Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen mit nichtsomalischer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben (LIB Kapitel 17.1).

Die Clanfamilien unterteilen sich weiter in die Ebenen der Clans, Sub(sub)clans, Lineages und die aus gesellschaftlicher Sicht bei den nomadischen Clans wichtigste Ebene, die sogenannte Mag/Diya (Blutgeld/Kompensation) zahlenden Gruppe (Jilib), die für Vergehen Einzelner gegen das traditionelle Gesetz (xeer) Verantwortung übernimmt (Focus, S. 8 f; LIB Kapitel 4).

Clanschutz bedeutet für eine Einzelperson die Möglichkeit vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Ein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Kompensation zu zahlen - oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind - insbesondere bei Kompensations-zahlungen (Mag/Diya). Generell - aber nicht überall - funktioniert Clanschutz besser als der Schutz durch Staat oder Polizei. Dementsprechend wenden sich viele Menschen bei Gewaltverbrechen eher an den Clan als an die Polizei. (LIB Kapitel 4).

Die Ashraf und die Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status als direkte Abkommen des Propheten Mohammed. Dessen Tochter Fatima hatte mit Ali bin Talib zwei Söhne: Hassan und Hussein. Jeder Ashraf, der älter als zwei Jahre alt ist, rechnet sich einem dieser beiden Enkel des Propheten zu, die von letzterem den Titel ‚Sharif' verliehen bekommen haben. Angehörige dieser Gruppe sehen sich daher in einem speziellen Status (Ashraf, S. 4).

Wie schon der Herkunftsmythos besagt, ist ein Merkmal der Ashraf die immer wieder betonte Abstammung von der arabischen Halbinsel und die damit verbundene hellere Hautfarbe, welche ihnen auch den Namen ‚Gibil Cad' (hellhäutig) eintrug. Dies trifft jedoch nicht auf alle Angehörigen zu, da zum Beispiel die Ashraf des Sub-Subclans Ashraf Sarman wie überhaupt nahezu alle Angehörigen des Subclans der Ashraf Hassan dieselbe Hautfarbe haben wie die Somalier (Ashraf, S. 4f).

Die Ashraf und die Sheikhal werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil/Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (LIB Kapitel 17.4.).

Es kann nicht festgestellt werden, dass Angehörige der Ashraf in Somalia allein aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind.

1.5.8. Grundversorgung:

Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. Zugang zu Bildung und Arbeit stellt in vielen Gebieten eine Herausforderung dar, wohingegen der tertiäre Bildungsbereich in Mogadischu boomt. Aufgrund des Fehlens eines formellen Banksystems ist die Schulden-Kredit-Beziehung (debt-credit relationship) ein wichtiges Merkmal der somalischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei spielen Vertrauen, persönliche und Clan-Verbindungen eine wichtige Rolle – und natürlich auch der ökonomische Hintergrund. Es ist durchaus üblich, dass Kleinhändler und Greissler anschreiben lassen (LIB Kapitel 21.1).

Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8%). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1%). 6,9% arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8% als Handwerker, 4,7% als Techniker, 4,1% als Hilfsarbeiter und 2,3% als Manager (LIB Kapitel 21.1).

Die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge, Rückkehrer und andere vulnerable Personengruppen sind limitiert. Eine Arbeit zu finden ist mitunter schwierig, verfügbare Jobs werden vor allem über Clan-Netzwerke vergeben. Generell ist das Clan-Netzwerk vor allem außerhalb von Mogadischu von besonderer Relevanz (LIB Kapitel 21.1).

Seitens der Regierung gibt es für Arbeitslose keinerlei Unterstützung. Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z.B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus. Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie) (LIB Kapitel 21.1).

Frauen stoßen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vor – etwa bei Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei. Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben. In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43% der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener (LIB Kapitel 21.1).

Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z.B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i.d.R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z.B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80%-90% des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft. Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin oder aber auch auf. Für Frauen gibt es auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z.B. können sie nicht Taxifahrer werden (LIB Kapitel 21.1).

Für viele Haushalte sind Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle. Diese Remissen, die bis zu 40% eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei und fördern die Resilienz der Haushalte (LIB Kapitel 21.1).

1.5.9. Aktuelle Grundversorgungslage (Nahrungsmittelversorgung, Dürre, Überflutung)

Die unterdurchschnittliche gu-Ernte ab Juli, die Vorhersage unterdurchschnittlicher Deyr-Regenfälle von Oktober bis Dezember und die anhaltende Bedrohung durch Wüstenheuschrecken diktieren einen negativen Ausblick für die Pflanzen- und Tierproduktion. Aufgrund der internationalen und lokalen COVID-19-Bewegungsbeschränkungen führen die damit verbundenen Rückgänge der Geschäftstätigkeit, der Auslandsüberweisungen, der jährlichen Viehexporte und der Investitionen zu einem wirtschaftlichen Rückgang (FEWSN-J).

Es wird erwartet, dass die Bevölkerung in akuter Nahrungsmittelunsicherheit zwischen Oktober 2020 und Januar 2021 zunehmen wird, was durch eine weitverbreitete Verschlechterung bis zur Krise (IPC-Phase 3) und eine Zunahme der Bevölkerung in Notfällen (IPC-Phase 4) gekennzeichnet ist.

Am meisten betroffen sind IDPs und marginalisierte Gruppen. Der humanitäre Bedarf ist nach wie vor hoch, Millionen von Menschen befinden sich in einer Situation akuter Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. In Nord- und Zentralsomalia herrschen durchgehend moderate bis große Lücken in der Versorgung. Dort wird für August/September 2019 in einigen Teilen mit IPC 3 und IPC 4 gerechnet. Das gleiche gilt für den Süden, wo aufgrund einer unterdurchschnittlichen Ernte die Lebensmittelpreise steigen werden (LIB Kapitel 21.2).

Für Mogadischu gilt die IPC-Stufe 2 (stressed); für IDP’s die IPC-Stufe 3 (crisis) (FEWSN-J, FEWSN-S).

1.5.10. Binnenflüchtlinge (IDPs)

IDPs gehören in Somalia zu den am meisten gefährdeten Personengruppen. Diese sind besonders benachteiligt, da sie kaum Schutz genießen und Ausbeutung, Misshandlung und Marginalisierung ausgesetzt sind. Ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nichtstaatlichen – aber auch staatlichen – Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkungen und Diskriminierung aufgrund von Clan-Zugehörigkeiten sind an der Tagesordnung; es kommt auch zu willkürlichen Tötungen, Vertreibungen und sexueller Gewalt. Für Vergewaltigungen sind bewaffnete Männer - darunter Regierungssoldaten und Milizionäre - verantwortlich. Weibliche IDPs sind hinsichtlich einer Vergewaltigung besonders gefährdet (LIB Kapitel 20).

IDPs sind über die Maßen von der Dürre und daher von Unterernährung betroffen (LIB Kapitel 20 und 21.2). Für sie ist es charakteristisch, dass sie humanitäre Unterstützung erhalten. Sie stellen etwa 20% der Bevölkerung von Mogadischu. Diese Gruppen profitieren nur zu einem äußerst geringen Anteil von Remissen. Die Männer dieser Bevölkerungsgruppen arbeiten oft im Transportwesen, am Hafen und als Bauarbeiter; Frauen arbeiten als Hausangestellte. Eine weitere Einkommensquelle dieser Gruppen ist der Kleinhandel – v.a. mit landwirtschaftlichen Produkten. Zusätzlich erhalten sie Nahrungsmittelhilfe und andere Leistungen über wohltätige Organisationen (LIB 21.1).

1.5.11. Medizinische Versorgung

Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die öffentlichen Krankenhäuser sind mangelhaft ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Der Standard von Spitälern außerhalb Mogadischus ist erheblich schlechter. In Mogadischu gibt es mindestens zwei Spitäler, die für jedermann zugänglich sind (LIB Kapitel 22).

Die Primärversorgung wird oftmals von internationalen Organisationen bereitgestellt und ist für Patienten kostenfrei. Allerdings muss manchmal für Medikamente bezahlt werden. Private Einrichtungen, die spezielle Leistungen anbieten, sind sehr teuer. Medikamente, die Kindern oder ans Bett gebundenen Patienten verabreicht werden, sind kostenlos (LIB Kapitel 22).

Es gibt nur fünf bei der WHO registrierte Zentren zur Betreuung psychischer Erkrankungen und nur drei Psychiater in Somalia. Diese befinden sich in Berbera, Bossaso, Garoowe, Hargeysa und Mogadischu. Von der Regierung gibt es so gut wie keine Unterstützung für diese Einrichtungen, sie sind von Spenden abhängig. Psychisch Kranken haftet meist ein mit Diskriminierung verbundenes Stigma an. Nach wie vor ist das Anketten psychisch Kranker eine weit verbreitete Praxis (LIB Kapitel 22).

Grundlegende Medikamente sind verfügbar, darunter solche gegen die am meisten üblichen Krankheiten sowie jene zur Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck, Epilepsie und von Geschwüren. Auch Schmerzstiller sind verfügbar. Medikamente können ohne Verschreibung gekauft werden. Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt in erster Linie über private Apotheken. Für Apotheken gibt es keinerlei Aufsicht (LIB Kapitel 22).

1.5.12. Bewegungsfreiheit

Reisende sind durch die zahlreichen, von unterschiedlichen Gruppen betriebenen Straßensperren einer Gefahr ausgesetzt. Neben den Straßensperren kann auch das Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen ein Risiko darstellen. Viele der Hauptstraßen werden nur teilweise von AMISOM und Armee kontrolliert. Trotzdem bereisen Zivilisten und Wirtschaftstreibende tagtäglich die Überlandverbindungen. Bei Reisen von Gebieten der Regierung in jene von al Shabaab besteht das Risiko, von beiden Seiten der Kollaboration verdächtigt zu werden (LIB Kapitel 19).

In ganz Süd-/Zentralsomalia gibt es Straßensperren (Checkpoints), an welchen Fahrzeuge aufgehalten und Personen kontrolliert werden. Prinzipiell geht es an einer Straßensperre um die Einhebung von Wegzoll, wobei die Höhe des Zolls mitunter willkürlich ist. Es gibt permanente und ad hoc Straßensperren, betrieben von Sicherheitskräften, al Shabaab oder Clan-Milizen (LIB Kapitel 19).

Es ist weder Ziel von al Shabaab, Menschen am Reisen zu hindern, noch sind Reisende selbst ein Ziel. Straßensperren zielen in erster Linie auf die Einhebung von Steuern ab und in zweiter Linie darauf, Spione zu identifizieren. Alleine die Tatsache, dass jemand in einem westlichen Land gewesen ist, stellt im Kontext mit Al Shabaab an solchen Straßensperren kein Problem dar. Allerdings ruft westliches Verhalten oder westliche Kleidungsart Sanktionen hervor. Zu befürchten haben an Straßensperren der Al Shabaab jene Personen etwas, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Sie befinden sich in Lebensgefahr. Dies gilt insbesondere an Straßensperren in jenen Gebieten, die nicht vollständig unter Kontrolle von al Shabaab stehen. Dort dürfen Spione standrechtlich – ohne Verfahren – exekutiert werden. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab werden Verdächtige i.d.R. verhaftet und vor Gericht gestellt. Außerdem kann es Personen treffen, die von Al Shabaab – etwa wegen des Mitführens von bestimmten Objekten (Smartphones, Regierungsdokumente, Symbole, die mit der Regierung assoziiert werden etc.) – als mit der Regierung in Zusammenhang stehend oder als Spione verdächtigt werden. Auch Reisende, die im Gebiet der Reisebewegung weder über Familien- noch Clan-Verbindungen verfügen, können von al Shabaab unter Umständen als Spione verdächtigt werden (außer sie haben einen Bürgen). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Reiseziel der Person im von der al Shabaab kontrollierten Gebiet lieg (LIB Kapitel 19).

Es ist nicht ungewöhnlich, alleine reisende ältere Frauen anzutreffen. Dahingegen wird vermieden, jüngere Frauen ohne Begleitung auf Reisen zu schicken – v.a. aufgrund der Gefahr sexueller Gewalt. Für Frauen gibt es nämlich ein erhöhtes Risiko, an Straßensperren sexueller Gewalt ausgesetzt zu werden. Dabei spielt die Clanzugehörigkeit kaum eine Rolle, denn im Transit ist der Schutz des Clans oft wirkungslos (LIB Kapitel 19).

In Mogadischu gibt es keine Probleme bei der Bewegungsfreiheit (LIB Kapitel 19).

1.5.13. Rückkehrer

Schon nach den Jahren 2011 und 2012 hat die Zahl der aus der Diaspora nach Süd-/Zentralsomalia zurückkehrenden Menschen stark zugenommen. Viele lokale Angestellte internationaler NGOs oder Organisationen sind aus der Diaspora zurückgekehrte Somali. Andere kommen nach Somalia auf Urlaub oder eröffnen ein Geschäft. Im Jahr 2017 sind 245 Personen aus der EU und anderen europäischen Staaten nach Somalia zurückgebracht worden. Im ersten Halbjahr 2018 waren es 208. Bis Juli 2019 sind insgesamt 90.058 Somalis über AVR-Programme des UNHCR zurückgeführt worden, mehrheitlich aus Kenia, aber auch aus Dschibuti, Libyen und dem Jemen (LIB Kapitel 23).

Rückkehrer werden nicht von somalischen Behörden misshandelt. Mit technischer und finanzieller Unterstützung haben sich verschiedene westliche Länder über die letzten Jahre hinweg für die Schaffung und anschließende Professionalisierung eines speziell für Rückführung zuständigen Returnee Management Offices (RMO) innerhalb des Immigration and Naturalization Directorates (IND) eingesetzt. Staatliche Repressionen sind nicht die Hauptsorge der Rückkehrer. Rückkehrer werden vom RMO/IND grundsätzlich mit Respekt behandelt. Am Flughafen kann es zu einer Befragung von Rückkehrern durch das RMO hinsichtlich Identität, Nationalität, Familienbezügen sowie zum gewünschten zukünftigen Aufenthaltsort kommen. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für unbegleitete Minderjährige und andere Rückkehrer (LIB Kapitel 23).

Der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] ist unter anderem dafür verantwortlich, Mitglieder in schwierigen finanziellen Situationen zu unterstützen. Das traditionelle Recht (Xeer) bildet hier ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie). Eine erfolgreiche Rückkehr und Reintegration kann in erheblichem Maße von der Clanzugehörigkeit bzw. von lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person abhängig sein. Für Rückkehrer ohne Netzwerk oder Geld gestaltet sich die Situation schwierig. Ein Netzwerk ist z.B. hinsichtlich Arbeitssuche wichtig (LIB Kapitel 21.3).

Rückkehrer nach Mogadischu haben dort einen guten Zugang zu Geld- oder sonstiger Hilfe von Hilfsagenturen. Hinzu kommen Remissen von Verwandten im Ausland. Hingegen erhalten IDPs vergleichsweise weniger Remissen (LIB Kapitel 21.3).

Die Zurverfügungstellung von Unterkunft und Arbeit ist bei der Rückkehrunterstützung nicht inbegriffen und wird von den Rückkehrern selbst in die Hand genommen. Diesbezüglich auftretende Probleme können durch ein vorhandenes Netzwerk abgefedert werden. Es gibt keine eigenen Lager für Rückkehrer, daher siedeln sich manche von ihnen in IDP-Lagern an (LIB Kapitel 21.3).

Prinzipiell gestaltet sich die Rückkehr für Frauen schwieriger als für Männer. Eine Rückkehrerin ist auf die Unterstützung eines Netzwerks angewiesen, das in der Regel enge Familienangehörige – geführt von einem männlichen Verwandten – umfasst. Für alleinstehende Frauen ist es mitunter schwierig, eine Unterkunft zu mieten oder zu kaufen (LIB Kapitel 21.3).

Allein die Tatsache, dass eine Person nach Somalia zurückkehrt, macht diese nicht zum Ziel - auch nicht für die Al Shabaab. Rückkehrern in Gebiete der Al Shabaab könnte vorgeworfen werden, als Spione zu dienen. Ob ein Rückkehrer zum Ziel der Al Shabaab wird, hängt maßgeblich von seinem eigenen Verhalten ab. Alleine die Tatsache, dass eine Person aus dem Westen zurückgekehrt ist, spielt bei einer Rückkehr in das Gebiet der Al Shabaab keine Rolle. Viel wichtiger sind die Zugehörigkeit zu Familie und Clan und die Beziehungen dieser beiden Entitäten zur Al Shabaab. Al Shabaab richtet sich nicht gegen Rückkehrertransporte oder –Lager (LIB Kapitel 23).

1.5.14. Zur aktuellen Covid-19-Pandemie:

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es mit Stand 06.09.2020, 15:00 Uhr, 29.135 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen und 736 Todesfälle (https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Neuartiges-Coronavirus-(2019-nCov).html); in Somalia wurden mit Stand vom 21.07.2020 3.332 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 98 diesbezügliche Todesfälle bestätigt wurden (https://covid19.who.int/region/emro/country/so).

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf.

Somalia hat am 15. März 2020 die Einreise von Passagieren verboten, die sich in den vorangegangenen 14 Tagen in China, Iran, Italien oder Südkorea aufgehalten hätten. Am 18. März 2020 hat die Regierung Flugbeschränkungen für zunächst 15 Tage umgesetzt. Ausreise und Einreise entlang der Küste sind ebenso beschränkt worden. Am 28. März 2020 ist das Verbot internationaler Flüge ausgeweitet worden. Für Transportflüge mit Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern ist 24 Stunden vor Abflug eine besondere Erlaubnis nötig. Lastwägen dürfen nur einreisen, wenn sie Nahrungsmittel oder medizinische Güter transportieren. Bereits am 29. März hat Somalia Inlandsflüge ausgesetzt. Am 6. April 2020 ist das Verbot internationaler Flüge um weitere 30 Tage verlängert worden. Am 10. April 2020 haben die lokalen Behörden in Gedo nach Verordnungen der Regierung die Grenzübergänge zu Kenia und Äthiopien bis auf Weiteres geschlossen. Die Grenzübergänge in El Wak und Bila Hawo sowie in Doolow sind geschlossen worden (COVID-19).

Die somalische Regierung hat im April 2020 in Mogadischu eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Ab 15. April 2020 ist die Ausgangssperre zwischen 20 Uhr abends und fünf Uhr morgens gültig. Die Ausgangssperre betrifft den Verkehr und Geschäfte. Krankenhäuser, Apotheken und Geschäfte, die Nahrungsmittel („dry foods“) verkaufen, sind nicht davon betroffen (COVID-19).

50 der 67 Covid-19-Regelungen, die seit 16. März 2020 verkündet wurden, sind mit Stand 22. Juli 2020 weiterhin in Kraft. Am 5. Juli 2020 sind Inlandsflüge in Somalia wiederaufgenommen worden, nachdem sie am 18. März 2020 ausgesetzt wurden. Moscheen und religiöse Zentren haben ihre Tätigkeiten wieder voll aufgenommen, nachdem die Schließungsmaßnahmen jedoch nie gänzlich umgesetzt worden sind. Einige Bundesstaaten haben teilweise Schulen wieder geöffnet. Es wird erwartet, dass am 1. August 2020 alle Schulen wieder geöffnet werden (COVID-19).

Die Handelstage an der äthiopisch-somalischen Grenze wurden von zwei Tagen auf einen Tag verringert. Im Distrikt Belet Xaawo in der Region Gedo ist der grenzübergreifende Handel zwischen Äthiopien und Somalia weiterhin eingestellt. Diese Einschränkungen haben zu steigenden Nahrungsmittelpreisen in den Distrikten Luuq, Doolow und Belet Xaawo für unter anderem Kartoffeln und Tomaten geführt. In Galmudug und Somaliland ist der grenzüberschreitende Handel mit Äthiopien aktiv. Der Handel über alle anderen Grenzen ist aktiv (COVID-19).

Nach einer viereinhalbmonatigen Unterbrechung wurden am 3. August 2020 internationale Flüge in Somalia wiederaufgenommen. Somalische Inlandsflüge sind am 5. Juli wiederaufgenommen worden. Die somalische Regierung hat zudem mit 15. August die Wiedereröffnung von Schulen und Universitäten angeordnet (COVID-19).

In Somalia spüren sowohl die Aufnahmegemeinschaften als auch die Vertriebenen, wie MigrantInnen

und Binnenvertriebene, unverhältnismäßig die Auswirkungen der Pandemie. Die Gründe dafür sind die geschwächten Strukturen zur sozialen Unterstützung, düstere sozio-ökonomische Aussichten, ungleicher Zugang zu Gesundheitsversorgung und grundlegenden sozialen Diensten, prekäre Wohnverhältnisse, dürftige Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Anfälligkeit für Falschinformation und gesellschaftliche Stigmatisierung, Bedrohung durch Ausbeutung und Misshandlung. Dies führt in weiterer Folge zu einem steigenden Level von Unsicherheit und Not und zur Instabilität von Personen, Familien und Gemeinschaften. Es gibt nur eingeschränkt Bereitstellung von und Zugang zu Unterstützungsleistungen für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung. Durch Falschinformationen hervorgerufene gesellschaftliche Stigmatisierung kann möglicherweise Auswirkungen auf gefährdete Gruppen wie MigrantInnen, vertriebene Gemeinschaften und zuvor von Covid-19 betroffene Personen haben (COVID-19).

Der Großteil der Flüchtlinge, Asylwerber und Rückkehrer lebt in armen städtischen Gebieten mit eingeschränkten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, schlechter Wasser- und Sanitärversorgung, unangemessenen Unterkünften sowie eingeschränkten sozialen Sicherungssystemen und ist mit bestimmten Hindernissen und Gefährdungen konfrontiert, die aufgrund der Covid-19-Lage ihre Vulnerabilität erhöhen würden (darunter auch genderbasierte Gewalt). Viele Flüchtlinge und Asylwerber werden vernachlässigt, stigmatisiert und sind mit Schwierigkeiten beim Zugang zu Gesundheitsdiensten, sozialen Schutz und anderen Diensten, die für die allgemeine Bevölkerung verfügbar sind, konfrontiert (COVID-19).

Die Kapazitäten der IDP-Lager sind erschöpft und viele vertriebene Familien daher gezwungen, informell auf privatem Land zu wohnen, wo sie ständig von Zwangsräumungen betroffen sind. Sowohl städtische als auch weiter abseits gelegene Binnenvertriebenenlager sind aufgrund von Überbelegung und engen Lebensverhältnissen weiterhin von Covid-19-Übertragung bedroht (COVID-19).

Die Kapazität Somalias, eine globale Gesundheitsbedrohung zu verhindern, zu erkennen und darauf zu reagieren, ist im Jahr 2016 mittels des Health Emergency Preparedness Index mit sechs von 100 bewertet worden. Auf 100.000 Personen kommen zwei MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen, im Vergleich zum globalen Standard von 25 pro 100.000 Personen. Krankheitsausbrüche wie der seit Dezember 2017 andauernde Choleraausbruch belasten die Gesundheitssysteme des Landes. Weniger als 20 Prozent der eingeschränkt vorhandenen Gesundheitseinrichtungen verfügen über die notwendige Ausrüstung und Vorräte, um auf Epidemien zu reagieren (COVID-19).

Der Zugang zu Gesundheitsversorgung ist eingeschränkt und es gibt in den IDP-Lagern keine Covid-19-Testeinrichtungen. Aufgrund der

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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