Entscheidungsdatum
08.10.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W147 1402686-3/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. KANHÄUSER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Diakonie und Volkshilfe gem. GmbH, ARGE Rechtsberatung, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. Februar 2019, Zl. 780496304-1002095 / BMI-BFA_NOE_AST_02, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24. Juni 2020 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis VI. gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2016, §§ 8 Abs. 1 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, § 57 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, und § 46 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, § 52 Abs. 9 FPG, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 110/2019, § 55 Abs. 1 bis 3 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013, als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 22/2018, nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste am 6. Juni 2008, gemeinsam mit seiner Ehegattin bzw. nunmehr Ex-Ehegattin XXXX (vormalige XXXX ) und dem gemeinsamen minderjährigen Sohn, nachdem zwei Asylanträge in Frankreich negativ beschieden wurden, illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu den Gründen für das Verlassen seines Heimatlandes befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass er von russischen Besatzungssoldaten mehrmals festgenommen und misshandelt worden sei, nachdem er befreundete Untergrundkämpfer in seinem Haus aufgenommen und gepflegt habe. Bei einer Rückkehr fürchte der Beschwerdeführer um sein Leben.
3. Am 10. Juni 2008 wurde ein Konsultationsverfahren mit Frankreich eingeleitet.
4. Am 4. Juli 2008 erfolgte eine ärztliche Untersuchung, in welcher der Beschwerdeführer zu seinen subjektiven Beschwerden ausführte, dass er aufgrund der Erlebnisse im Heimatland an Schlafstörungen leide und kurz anhaltende Suizidgedanken habe. Aus ärztlicher Sicht wurde festgestellt, dass eine krankheitswertige psychische Störung vorliege. Weiter wurde gefolgert, dass eine Überstellung des Beschwerdeführers nach Frankreich keine schwere psychische Störung entgegenstehe, die bei einer Überstellung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes aus ärztlicher Sicht bewirken würde.
5. Der Beschwerdeführer klagte im Rahmen einer niederschriftlichen Befragung vor dem Bundesasylamt am 27. August 2008 unter anderem über psychische Probleme und gab an, sehr nervös zu sein und sich in psychologischer Betreuung zu befinden. Die rechtliche Vertretung des Beschwerdeführers legte die Bescheide in beiden Instanzen des französischen Asylverfahrens, die Berufungsschriften, ein medizinisches Gutachten aus Frankreich und ein Schreiben betreffend die Entlassung des Beschwerdeführers aus der französischen Grundversorgung vor.
6. Im Zuge einer ärztlichen Untersuchung im Rahmen einer gutachtlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren zur Verlaufskontrolle der Medikamenteneinnahme am 27. August 2008 gab der Beschwerdeführer an, dass er Lärm nicht ertrage und sogar seinen kleinen Sohn geohrfeigt habe. Er sei wegen einer Auseinandersetzung zwischen Afghanen und Tschetschenen aus der Betreuungsstelle verwiesen worden. Die gutachtliche Stellungnahme folgerte – im Wesentlichen zusammengefasst – dass eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung des Beschwerdeführers mit der Gefahr der Selbst- und Fremdgefährdung vorliege.
7. Mit weiterer gutachtlicher Stellungnahme im Zulassungsverfahren folgerte die zuständige Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutische Medizin nach der erfolgten Untersuchung des Beschwerdeführers am 14. Oktober 2008, dass bei dem Beschwerdeführer eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vorliege, die jedoch einer Überstellung nach Frankreich nicht entgegenstehen würde.
8. Nach erfolgtem Konsultationsverfahren und Zustimmung Frankreichs vom 20. Juni 2008 zur Durchführung des Asylverfahrens wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 22. Oktober 2008, Zl. 08 04.963 EAST Ost, der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Absatz 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gemäß Artikel 16/1/e der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates Frankreich zuständig ist (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Absatz 1 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Frankreich ausgewiesen und gemäß § 10 Absatz 4 AsylG festgestellt, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Frankreich zulässig ist (Spruchpunkt II.).
9. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 11. November 2008 fristgerecht Beschwerde und focht diesen in vollem Umfang an.
10. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 24. November 2008, Geschäftszahl S11 402686-1/2008/2E, wurde der Beschwerde gemäß § 41 Abs. 3 AsylG idgF BGBl. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben. Begründend hielt der Asylgerichtshof fest, dass der Beschwerde seiner Ehefrau mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes gemäß § 41 Abs. 3 AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005 stattgegen worden sei und der Bescheid des Bundesasylamtes 08 04.964 EAST Ost vom 22. Oktober 2008 behoben worden sei. Da eine anderslautende Entscheidung über das Verfahren des Beschwerdeführers jedoch jedenfalls gegen Art. 8 EMRK verstoßen würde, sei der gegenständliche Bescheid zu beheben gewesen.
11. XXXX wurde die Tochter des Beschwerdeführers, XXXX , geboren.
12. Mit Arztbrief des zuständigen Landesklinikums vom 16. Dezember 2008 wurde nach einer stationären Zwangsbehandlung des Beschwerdeführers aufgrund eines Zwischenfalls vom 25. November 2008 und der im Aufnahmezeitpunkt bestehenden Selbst- und Fremdgefährdung die Hauptdiagnose „F43.1 PTSD mit dissoziativen und psychotischen Symptomen“ gestellt.
13. Aufgrund des Begutachtungsauftrages des Bundesasylamtes vom 4. August 2009 wurde ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten des Beschwerdeführers erstellt, demnach bei dem Beschwerdeführer aus psychiatrischer Sicht eine Anpassungsstörung mit längerdauernder depressiver Reaktion (ICD-10: F43.21) vorliege. Betreffend die Fragestellung des Bundesasylamtes einer Verschlechterung der psychischen Symptomatik bei einer Rückführung in die Russische Föderation wurde festgehalten, dass diese eine neuerliche Belastung und auch psychische Irritationen bedeuten könnte und dass eine zumindest vorübergehende Verschlechterung nicht ausgeschlossen werden könne.
14. Im Zuge einer niederschriftlichen Einvernahme am 22. Oktober 2009 vor dem Bundesasylamt gab der Beschwerdeführer nach Übersetzung des psychiatrisch-neurologischen Gutachtens an, dass er gegenwärtig morgens und abends die verschriebenen Tabletten unter Aufsicht einnehme sowie sich aktuell in ärztlicher Behandlung befinde. Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass er im Januar 2006 einen verwundeten Freund, der sich an den Widerstandskämpfen beteiligt habe, zwei Wochen zu Hause aufgenommen habe. Eines nachts sei das Haus des Beschwerdeführers von Mitgliedern der russischen Behörden gestürmt worden und seien der Beschwerdeführer und sein verwundeter Freund festgenommen worden. Danach sei das Haus niedergebrannt worden. Der Beschwerdeführer und sein Freund seien gefoltert worden. Aufgrund des schlechten Allgemeinzustandes des Freundes und der Folterungen sei dieser in der gleichen Nacht verstorben. Nach drei Tagen sei der Beschwerdeführer aufgrund von Lösegeldzahlungen seines Vaters frei gelassen worden. Einen Monat später sei der Beschwerdeführer erneut inhaftiert und gefoltert worden. Das letzte und insgesamt dritte Mal sei der Beschwerdeführer am 22. August 2006 inhaftiert worden. Dem Beschwerdeführer sei die Verantwortung für eine Explosion unterstellt worden, die er gestehen sollte. Nur aufgrund der Folterungen habe der Beschwerdeführer die Tat gestanden. Auf Nachfrage des Bundesasylamtes antwortete der Beschwerdeführer, dass er sich an den Widerstandskämpfen nicht beteiligt habe, sondern nur die Widerstandskämpfer unterstützt habe. Im Falle einer Rückkehr befürchte er weitere Festnahmen und Folter.
15. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29. März 2010, Zl. 08 04.963-BAT, wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG, bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
Im Wesentlichen begründete die belangte Behörde ihre Entscheidung damit, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgeschichte nicht glaubhaft habe darbringen können und die Angaben äußerst oberflächlich und widersprüchlich gewesen seien. Auch seien die Angaben, die in Zusammenhang mit dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers stünden, widersprüchlich zu den Angaben seiner Ehegattin gewesen.
16. Mit Schriftsatz vom 20. April 2010 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 29. März 2010, Zl. 08 04.963-BAT, und focht diesen wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie inhaltlicher Rechtswidrigkeit in vollem Umfang an.
17. Am 12. Mai 2010 langte die Meldung der zuständigen Bezirkshauptmannschaft beim Bundesasylamt ein, dass der Beschwerdeführer wegen Sachbeschädigung am 26. Januar 2010 angezeigt worden sei.
18. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX , vom XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 106 Abs. 1 Z 1 StGB, § 15 StGB sowie § 105 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Ein Teil der Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten wurden dem Beschwerdeführer unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Weiters wurde dem Beschwerdeführer die Weisung erteilt für die Dauer der Probezeit jede Kontaktaufnahme zu XXXX gemäß §§ 50, 51 StGB zu unterlassen.
19. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft XXXX vom XXXX wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß §§ 54 Abs. 2 iVm 53 Abs. 3 Z 1 FPG ein Rückkehrverbot auf die Dauer von zehn Jahren erlassen.
20. Am 16. Mai 2012 wurde gegen den Beschwerdeführer § 121 Abs. 3 Z 2 FPG (Reisedokument wurde nicht mitgeführt/verwahrt) und wegen § 81 Abs. 1 SPG (Ordnungsstörung) vom zuständigen Stadtpolizeikommando Anzeige erstattet.
21. Mit E-Mail vom 20. Juli 2012 teilte die zuständige Bezirkshauptmannschaft dem Bundesasylamt mit, dass der Beschwerdeführer per 25. Juni 2012 von seiner bisherigen Unterkunft abgemeldet wurde (verzogen „nach unbekannt“). Ab dem 26. Juli 2012 meldete sich der Beschwerdeführer in einem Flüchtlingshaus obdachlos.
22. Am 10. Mai 2013 meldete der Beschwerdeführer dem Bundesasylamt den Antrag auf Eheschließung mit XXXX , Beschwerdeführerin zu GZ W147 2215999-1) am Magistrat XXXX , Standesamt XXXX (Datum der geplanten Eheschließung: XXXX ).
23. Am XXXX wurde die Tochter des Beschwerdeführers, XXXX , (Beschwerdeführerin W147 2215997-1) in Österreich geboren.
24. Mit Schreiben vom 18. Juli 2013 wurden Kopien der österreichischen Heiratsurkunde vom XXXX , der Geburtsurkunde einer Tochter des Beschwerdeführers sowie eines Bescheides des Bundesasylamtes vom 3. Juli 2013, Zl. 13 09.355-BAS, in welchem dem Antrag der Tochter des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 iVm § 34 Abs. 2 AsylG stattgegeben wurde und ihr der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde, an das Bundesasylamt übermittelt.
25. Mit Schriftsatz vom 23. April 2014 wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Kopien von beglaubigten Übersetzungen eines Führerscheins und einer Geburtsurkunde sowie eines Schreibens des Bundesministeriums für Inneres vom 27. März 2014 betreffend Fremdenwesen- und Wanderungswesen, Grundversorgung verfahrensrelevante Sachverhalte nach Überprüfung der Hilfsbedürftigkeit des Beschwerdeführers vorgelegt.
26. Mit Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes XXXX vom 7. Oktober 2014 wurde die Dauer des Rückkehrverbotes auf acht Jahre herabgesetzt.
27. Am XXXX kam eine weitere Tochter des Beschwerdeführers, XXXX (Beschwerdeführerin zu W147 2215995-1), zur Welt.
28. Am 18. April 2015 wurde der Beschwerdeführer wegen Urkundenunterdrückung (gemäß § 229 StGB) sowie wegen gefährlicher Drohung (gemäß § 107 StGB) angezeigt.
29. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. Juli 2015, Zl. W215 1402686-2/19E, wurde der angefochtene Bescheid nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 29. September 2014 aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013 (VwGVG), zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, dass die belangte Behörde zwar ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten in Auftrag gegeben habe, allerdings verabsäumt habe abklären zu lassen, ob der Beschwerdeführer auf Grund seiner psychischen Verfassung in der Lage gewesen sei, in den niederschriftlichen Befragungen beim Bundesasylamt das Erlebte wiederzugeben und dazu gleichbleibende widerspruchsfreie Angaben zu machen.
30. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab aufgrund des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichtes ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten in Auftrag, Untersuchungszeitpunkt 19. Juli 2016, wobei eine mögliche Beeinträchtigung der Verhandlungs- und Einvernahmefähigkeit des Beschwerdeführers und die Frage, ob der Beschwerdeführer in der Lage sei, gleichbleibende, konkrete Angaben zu den Ergebnissen aus der Vergangenheit zu machen, den Auftragsgegenstand bildeten.
31. Mit Gutachten vom 5. August 2016 stellte die Sachverständige XXXX Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychiatrische Kriminalprognostik, Allgemeine beeidete und gerichtlich zertifizierte Sachverständige, zusammenfassend fest, dass der Beschwerdeführer seit mehreren Jahren in keiner fachspezifischen Behandlung mehr stünde, keine Medikamente mehr einnehme und sich psychisch gesund fühle. Im psychiatrischen Querschnittsbefund seien keine psychopathologischen Auffälligkeiten im Sinne eines krankheitswertigen psychiatrischen Geschehens im Sinne eines krankheitswertigen psychiatrischen Geschehens fassbar und der neurologische Status sei altersentsprechend unauffällig. Zusammengefasst handle es sich bei dem Beschwerdeführer um eine Persönlichkeit, die in Konfliktsituationen zu impulshaft-aggressivem Verhalten neige. Die ehemals beschriebenen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (im Folgenden kurz PTBS) seien aktuell nicht mehr fassbar. Der Beschwerdeführer leide lediglich an Durchschlafstörungen mit Alpträumen. Die vom Bundesamt von Fremdenwesen und Asyl gestellten und dem Gutachten zugrundeliegenden Fragen beantwortete die Ärztin (wortwörtlich) wie folgt: „1. Der Antragsteller leidet an keiner psychischen Erkrankung, die seine Verhandlungs- und Vernehmungsfähigkeit beeinträchtigen würde. 2. Der Antragsteller ist aus psychiatrischer Sicht in der Lage, gleich bleibende und konkrete Angaben zu Ereignissen aus der Vergangenheit zu machen.“.
32. Die belangte Behörde räumte dem Beschwerdeführer mit Parteiengehör vom 8. Februar 2017 zu dem übermittelten Gutachten und den aktuellen Länderfeststellungen zur Lage in der Russischen Föderation die Möglichkeit zur Stellungnahme ein. Dieser äußerte sich im Wege einer handschriftlichen Stellungnahme.
33. Am 10. Oktober 2018 langte ein Bericht einer fremdenpolizeilichen Erhebung bei dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein, demzufolge der Beschwerdeführer bei der durchgeführten Hauserhebung am 2. Oktober 2018 angegeben habe, dass seine Ehegattin seit ungefähr zwei Monaten in XXXX wohne und den Beschwerdeführer samt den Kindern zurückgelassen habe. Seitdem habe er keinen Kontakt zu seiner Ehegattin. Der Beschwerdeführer führte weiters aus, dass er von seiner Ehegattin nunmehr nach traditioneller Vorgehensweise geschieden sei, indem er drei Mal die Scheidung ausgesprochen habe, und die gemeinsamen Kinder in der Kalenderwoche 39 von seiner Mutter abgeholt worden seien, weil sie in der Russischen Föderation/Tschetschenien aufwachsen sollen.
34. Mit weiterem Parteiengehör vom 16. Jänner 2019 wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme unter Beischluss der aktuellen Länderfeststellungen zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Russischen Föderation/Tschetschenien und zu den Fragen seiner aktuellen Situation in Österreich gegeben.
35. Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2019 nahm der Beschwerdeführer Stellung und führte im Wesentlichen aus, dass er von seiner Ehegattin getrennt lebe, ein allfälliges Scheidungsverfahren jedoch noch nicht abgeschlossen sei. In Österreich würden zwei seiner Kinder aus erster Ehe bei deren Mutter leben und der Beschwerdeführer würde keine Familienbeihilfe für die in Österreich wohnhaften Kinder beziehen. Er beziehe die Grundversorgung und könne deswegen keinen Unterhalt für seine Kinder zahlen. Der Beschwerdeführer besuche derzeit keinen Deutschkurs, weise jedoch Deutschkenntnisse vor. Am 8. Februar 2019 werde er einen Einstufungstest absolvieren, danach werde sich entscheiden, welchen Kurs er besuchen werde. Der Beschwerdeführer gehe keiner Beschäftigung nach.
36. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. Februar 2019, Zl. 780496304-1002095 / BMI_BFA_NOE_AST_02, wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG, hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), sondern gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
In der Entscheidungsbegründung wurde seitens der belangten Behörde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine ihm im Herkunftsstaat drohende asylrelevante Gefährdung nicht habe glaubhaft machen können.
37. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Absatz 1 BFA-VG vom gleichen Tag wurde dem Beschwerdeführer für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht die „ARGE-Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien“ als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
38. Mit Schriftsatz vom 11. März 2019 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht verfahrensgegenständliche Beschwerde gegen den genannten Bescheid, focht diesen wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den Beschwerdeführer günstigerer Bescheid erlassen worden wäre, in vollem Umfang an. Der Beschwerde legte der Beschwerdeführer zudem einen Befund über sein Ganzkörperknochenszintigramm vom 16. Dezember 2010 des XXXX bei. Diesem zufolge seien etwa fünf Jahre nach den angegebenen Misshandlungen keine pathologischen Knochenumbauherde im Bereich des Ganzkörpers und insbesondere im fraglichen Gebiet des Schädels nachweisbar. Somit ergebe sich szintigraphisch kein Hinweis für posttraumatische Veränderungen im Bereich des Skelettsystems, das jedoch nicht ein Widerspruch zu den Angaben des Patienten bedeuten müsse. Die beschriebenen narbigen Veränderungen auf der Kopfhaut stünden in guter Korrelation zu den Angaben des Patienten. Dies sei auch in einem auswärtigen Befund vom 19. Juni 2007 ( XXXX Frankreich) attestiert worden.
39. Die Beschwerdevorlage der belangten Behörde vom 25. März 2019 langte am 27. März 2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die belangte Behörde beantragte die Abweisung der Beschwerde.
40. Mit E-Mail vom 19. April 2019 reichte die belangte Behörde eine Einvernahme der zweiten Ehegattin vom 8. Januar 2019 und eine Sachverhaltsdarstellung der zuständigen Landespolizeidirektion nach.
41. Am 24. Juni 2020 fand zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die russische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in welcher der Beschwerdeführer im Beisein seines Rechtsvertreters zu seinem Gesundheitszustand, seinem Fluchtgrund, seinem Leben im Heimatland sowie seinem Familienleben in Österreich und Alltag befragt wurde. Die belangte Behörde verzichtete mit Schreiben vom 26. Mai 2020 auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung. Dem Beschwerdeführer wurde eine Frist zur allfälligen Stellungnahme zu den aktuellen Länderinformationen binnen 14 Tagen und zur Vorlage des Scheidungsbeschlusses eingeräumt.
42. Mit Schriftsatz vom 10. Juli 2020 nahm der Beschwerdeführer zu den Länderinformationen Stellung und übermittelte den Beschluss über die Scheidung im Einvernehmen samt Scheidungsvergleich.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zur vorliegenden Beschwerde wie folgt erwogen:
1. Feststellungen:
Auf Grundlage der Verwaltungsakte der belangten Behörde und der herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen relevanten Lage in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien wird seitens des Bundesverwaltungsgerichtes Folgendes festgestellt:
1.1. Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der Volksgruppe der Tschetschenen zugehörig und der muslimischen Glaubensrichtung zugehörig.
Die Identität des Beschwerdeführers steht fest.
Der Beschwerdeführer stellte am 6. Juni 2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.
Der Beschwerdeführer besuchte im Heimatland elf Jahre die Schule und arbeitete zuletzt vor seiner Ausreise aus dem Heimatland als LKW-Fahrer.
In Tschetschenien (Russische Föderation) halten sich zwei Brüder und eine Schwester, die dort mit ihren Familien leben und berufstätig sind, sowie die Eltern des Beschwerdeführers auf. Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigen telefonischem Kontakt zu seinen Verwandten.
Der Beschwerdeführer ist mittlerweile von seiner zweiten Ehegattin XXXX (Beschwerdeführerin zu GZ W147 221599-1) geschieden und hat mit ihr die gemeinsamen zwei minderjährigen Kinder XXXX (Beschwerdeführerin zu GZ W147 2215997-1) und XXXX (Beschwerdeführerin zu GZ W147 2215995-1). Mit seiner ersten Ehegattin XXXX (vormalige XXXX ) hat der Beschwerdeführer die gemeinsamen minderjährigen Kinder XXXX und XXXX .
Der Beschwerdeführer befindet sich seit 2008 durchgehend im Bundesgebiet. Er hat sich die Grundkenntnisse der deutschen Sprache angeeignet.
Der Beschwerdeführer leidet unter keiner akuten oder lebensbedrohlichen psychischen oder physischen Erkrankung.
Die Verurteilung vor dem Landesgericht XXXX vom XXXX , rechtskräftig am XXXX , scheint mittlerweile aufgrund des Ablaufes der Tilgungsfrist nicht mehr im österreichischen Strafregister auf.
Konkret zum Tathergang der Verurteilung, hat der Beschwerdeführer in XXXX XXXX zu einer Handlung, nämlich zum Überlassen der gemeinsamen Kindern an ihn, zu nötigen versucht, und zwar durch gefährliche Drohung mit einer Verletzung an der Freiheit im Zeitraum zwischen Dezember 2010 und 17. Mai 2011 in mehrfachen Angriffen durch die wiederholte Ankündigung, er werde ihren Vater dazu veranlassen, jemanden zu schicken, um sie gegen ihre Willen und ohne ihre Kinder von Österreich weg zurück nach Tschetschenien zu bringen, wobei er die Nötigung zu begehen suchte, indem er mit einer Entführung drohte; zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt zwischen Dezember 2010 und 17. Mai 2011 durch die Androhung, rechtsgrundlos ihre Abschiebung nach Tschetschenien zu erwirken und am 17. Mai 2011 durch gefährliche Drohung mit einer Verletzung an der Freiheit sowie mit zumindest einer Verletzung am Körper durch die vorher beschriebene Tathandlung und die weiteren Äußerungen, er werde sich andernfalls mit den Kindern verstecken oder mit diesen nach Frankreich fahren, sowie, er werde Genannte ansonsten töten, wobei er die Nötigung zu begehen suchte, indem er mit einer Entführung drohte.
Hingegen wurde der Beschwerdeführer von dem weiteren Vorwurf, er habe im Zeitraum zwischen 1. Juni 2009 und 17. Mai 2011 in XXXX und anderen Orten Österreichs gegen XXXX eine längere Zeit hindurch Gewalt ausgeübt, indem er der Genannten in oftmalig wiederholten Angriffen Schläge mit dem Handrücken gegen Kopf und Körper versetzte, ihr in einem Fall mit einem Gummiseil gegen den Rücken schlug, wodurch diese eine Strieme im Bereich des Rückens erlitt, sowie einen gefüllten Kochtopf gegen diese zu schleudern trachte, sie sohin am Körper misshandelte und vorsätzliche mit Strafe bedrohte Handlungen gegen Leib und Leben beging bzw. zu begehen suchte, mithin das Vergehen der fortgesetzten Gewaltausübung nach dem § 107b Abs. 1 StGB begangen, freigesprochen.
Der Beschwerdeführer lebt mit keinem seiner Kinder in einem gemeinsamen Haushalt und lebt von beiden Ex-Ehegattinnen getrennt. Er leistet weder für seine Ex-Ehegattinnen noch für seine vier Kinder Unterhalt. Zu den Kindern aus der ersten Ehe steht der Beschwerdeführer in telefonischem Kontakt. Mit seinen Kindern aus zweiter Ehe besteht selten persönlicher Kontakt. Der Beschwerdeführer hat bereits rund eineinhalb Jahre vor der Scheidung mit seinen zwei jüngsten Kindern in keinem Haushalt mehr gelebt.
Ansonsten verfügt der Beschwerdeführer über keine Angehörigen im Bundesgebiet, mit denen er in einem gemeinsamen Haushalt lebt oder zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.
Nicht festgestellt werden kann, dass eine ausgeprägte und verfestigte Integration des Beschwerdeführers in Österreich vorliegt. Der Beschwerdeführer geht keiner legalen Beschäftigung nach und ist auch nicht ehrenamtlich tätig.
Der Beschwerdeführer verfügt über eine Einstellungszusage als Eisenbieger. Darüber hinaus konnten trotz des langen Aufenthalts des Beschwerdeführers im österreichischen Bundesgebiet keinerlei nachhaltigen Integrationsschritte seitens des Beschwerdeführers festgestellt werden.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist in der Russischen Föderation nicht individuell und konkret bedroht oder verfolgt (worden), weil er tschetschenische Freiheitskämpfer unterstützt habe.
Das Vorliegen anderer Verfolgungsgründe auf Grund von Religion, Nationalität, politischer Einstellung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder ethnischer Zugehörigkeit wurde nicht konkret vorgebracht; Hinweise für eine solche Verfolgung sind auch sonst nicht hervorgekommen.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in die Russische Föderation:
Der Beschwerdeführer liefe nicht konkret Gefahr, im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat dort der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe beziehungsweise der Todesstrafe unterworfen zu werden. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und in der Lage, im Fall einer Rückkehr für seinen Lebensunterhalt aufzukommen und seine Existenz zu sichern.
1.4. Hinsichtlich der relevanten Situation in der Russischen Föderation wird zunächst prinzipiell auf die im Akt einliegenden und des Beschwerdeführers in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgehaltenen Länderfeststellungen verwiesen.
Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien werden insbesondere folgende Feststellungen getroffen:
Politische Lage
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 29.7.2019, vgl. GIZ 8.2019c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 8.2019a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 8.2019a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178
Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Sieben-Prozent-Klausel.
Wichtige Parteien sind: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern , die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000
Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 5.2019a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze),
Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 14.2.2019b). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die Nicht-Systemopposition unterstützt zwar die parlamentarische Demokratie als Organisationsform der Politik, nimmt aber nicht an Wahlen teil, da ihnen die Teilnahme wegen der restriktiven Regeln oder vermeintlicher Formalfehler versagt wird (Dekoder 24.5.2016).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 8.2019a, vgl. AA 14.2.2019b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 8.2019a).
Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 8.2019a).
Bei den Regionalwahlen am 8.9.2019 in Russland hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu Protesten geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten alles wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall. Umfragen hatten der Partei wegen der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage im Land teils massive Verluste vorhergesagt (Zeit Online 9.9.2019).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (14.2.2019b): Russische Föderation – Außen- und Europapolitik, https:// www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/ russischefoederation/201534, Zugriff 6.8.2019
- CIA – Central Intelligence Agency (29.7.2019): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/ publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 6.8.2019
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff
6.8.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff
5.9.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 5.9.2019
- Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-beiKundgebung-in-Moskau, Zugriff 24.9.2019
- ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-201955603/, Zugriff 30.9.2019
- OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577? download=true, Zugriff 6.8.2019
- Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volkschliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 6.8.2019
- Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 6.8.2019
- Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 6.8.2019
- Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 24.9.2019
Tschetschenien
Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2019 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS
24.1.2019), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert , teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2018). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen zu sein (Rüdisser 11.2012).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.2.2019, vgl. AA 13.2.2019).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,
https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff
6.8.2019
- GKS – Staatliches Statistikamt (24.1.2019): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2019, https://www.ppn2018.ru/novosti/naselenie-rossii-sokratilos-vpervye-za-10-let.html, Zugriff 6.8.2019
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019
- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,
http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 6.8.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https:// www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 6.8.2019
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019
- BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reiseaufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus.
Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft.
Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in KabardinoBalkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot 30.8.2019).
Quellen: