TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/15 W226 2177615-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.10.2020
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Entscheidungsdatum

15.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W226 2177614-1/8E

W226 2177615-1/8E

W226 2177613-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX und 3.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation und vertreten durch den Verein Legal Focus sowie dessen Obfrau Rechtsanwältin Mag.a Eva VELIBEYOGLU, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 25.10.2017, Zln. 1.) 1159500210/170824850, 2.) 1159500406/170824876 und 3.) 1159500308/170824906 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.09.2020 zu Recht erkannt:

A) Den Beschwerden wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG idgF stattgegeben und 1.) XXXX , 2.) XXXX und 3.) XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status von Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1.) XXXX , 2.) XXXX und 3.) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2) sind Ehegatten. Der Drittbeschwerdeführer (im Folgenden BF3) ist ihr minderjähriger Sohn.

Die Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der russischen Volksgruppe.

2. Nachdem die BF gemeinsam unter Mitführung ihrer russischen Reisepässe und gültiger Schengenvisa auf dem Luftweg ins Bundesgebiet eingereist waren, stellten sie am 12.07.2017 die diesem Verfahren zugrundeliegenden Anträge auf internationalen Schutz, zu welchen der BF1 und die BF2 am 13.07.2017 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt wurden.

Der BF1 gab an, er habe den Entschluss zur Ausreise im April 2017 gefasst, sie hätten am 26.06.2017 ihren Wohnort XXXX mit einem Flugzeug nach XXXX verlassen, seien dann am 27.06.2017 nach XXXX und am 12.07.2017 auf dem Luftweg weiter nach Wien gereist.

Zum Grund der Flucht führte der BF1 aus, dass er, die BF2 und der BF3 der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehören würden. Am 20.04.2017 habe es eine oberstgerichtliche Entscheidung gegeben und sei die Ausübung der Religion bzw. religiöser Tätigkeiten der Zeugen Jehovas verboten worden. Sie würden als Extremisten bezeichnet werden. Es würde mit Verhaftungen, Gefängnisstrafen und Misshandlungen vorgegangen werden. Einem Bekannten sei sein Haus abgebrannt worden. Ihre Glaubensgemeinschaft dürfe nicht mehr kommunizieren und sich nicht treffen. Die Polizei drohe Kindern in der Schule und werde seitens der Regierung daran gearbeitet, Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen. Zeugen Jehovas würden anstatt der Wehrpflicht keinen Zivildienst leisten können. Ihr Glaube lehne die Wehrpflicht ab und würden sie keine militärische Ausbildung wollen. Dies sei aber mit Haftstrafe bedroht. Aus Angst vor ihrer Sicherheit hätten sie aus ihrer Heimat flüchten müssen. Bei einer Rückkehr würde er verhaftet und eingesperrt werden. Seine Familie würde Repressalien erwarten.

Die BF2 führte zum Grund ihrer Flucht im Wesentlichen aus, dass in der Russischen Föderation die Ausübung ihrer Religion verboten sei. Die Mitglieder der Zeugen Jehovas würden von den Behörden als Extremisten angesehen werden. In ihrer Region ( XXXX ) werde seitens der Behörden begonnen mit Strafsanktionen vorzugehen. Es komme zu Verhaftungen und Inhaftierungen. Anhänger der Zeugen Jehovas seien zusammengeschlagen und Häuser in Brand gesetzt worden. Die öffentliche Ausübung ihrer Religion sei nicht mehr möglich gewesen und werde mit Strafe bedroht. Es komme ständig zu Bespitzelungen. Wenn die Behörden von einer Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas erfahren würden, werde mit Verhaftungen vorgegangen. Ihre Sicherheit und Freiheit sei nicht mehr gegeben gewesen. Aus Angst um ihre Sicherheit seien sie schließlich aus ihrer Heimat geflüchtet.

Sie wolle auch für den BF3 aus denselben Gründen um Asyl ansuchen.

3. Jeweils am 20.09.2017 wurden der BF1 und die BF2 im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache und einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen.

Der BF1 gab zusammengefasst an, er sei gesund, benötige keine Medikamente und habe im Verfahren bisher wahrheitsgemäße Angaben erstattet.

Er legte eine Bestätigung der Zeugen Jehovas Österreich (Versammlung XXXX ) vom XXXX vor, wonach die erwachsenen BF schon seit etlichen Jahren in der Religionsgemeinschaft aktiv tätig seien. In Österreich sei die Familie in die Versammlung Wiener Neustadt Süd integriert und hätten der BF1 und die BF2 einen regen Anteil am Versammlungsgeschehen.

Zu seiner Person führte er aus, er sei Russe und zuletzt als privater Unternehmer (im Bereich der Dienstleistung von Montage und Müllentsorgung) tätig gewesen. Er habe für die Familie gesorgt, die wirtschaftliche Situation sei gut gewesen. Die letzten Jahre hätten sie bei den Schwiegereltern gelebt, diese würden noch in der Heimat leben. Die Schwiegermutter sei auch Zeuge Jehova. Auch zahlreiche seiner Verwandten würden noch im Heimatland leben, diese würden aber nicht den Zeugen Jehovas angehören.

Zum Grund seiner Flucht aus der Russischen Föderation und seines Antrags auf internationalen Schutz führte der BF1 aus, dass seiner Familie wegen ihrer Religion Gefahr drohe. Ihr Haus werde noch heute beobachtet, konkrete Vorfälle gegen ihn habe es nicht gegeben. Am 24. oder 25.06. habe er das letzte Mal einen Gottesdienst mit seiner Gemeinschaft in XXXX gefeiert. Nach dem Gerichtserkenntnis hätten sie den Königreich Saal nicht mehr verwendet. Er sei in der Gemeinde eine Art „Diakon“ und für eine Gruppe von 20 Personen verantwortlich gewesen. Er habe für die Gruppe die Treffen angeleitet, diese hätten meist bei ihnen stattgefunden und sei das Haus beobachtet worden. Ein unbekanntes Auto sei - gleich nach dem Urteil im April - immer wieder vor dem Haus oder in der Nähe gestanden. Die Nachbarn seien laut dem Gesetz verpflichtet, Versammlungen der Zeugen Jehovas zu melden. Der russische Vertreter ihrer Religion habe die Empfehlung abgegeben, sich nicht mehr im Königreich Saal zu versammeln, die Mitglieder hätten sich dann privat in Kleingruppen getroffen. Die russische Leitung der Zeugen Jehovas (ein Komitee) sei liquidiert und die Gebäude beschlagnahmt worden. Alle Mitglieder des Komitees würden sich im Ausland befinden. Der BF1 sei auch missionarisch tätig gewesen.

Er sei über seine Frau zu den Zeugen Jehovas gekommen und habe am XXXX die Taufe angenommen. Auch sei es schon vor dem Gerichtsurteil zu Problemen beim Missionieren (Drohungen) durch die Organisation „Kasaki“ (russische Nationalisten) gekommen. Eine Führungsfigur der Kasaki wohne in ihrer Nachbarschaft. Zeugen Jehovas würden über Telefon oder Internet abgehört werden, deshalb seien sie sehr vorsichtig gewesen.

Die BF2 gab zusammengefasst an, sie sei gesund und habe bislang der Wahrheit entsprechende Angaben erstattet. Auch der BF3 sei gesund. Sie habe eine Ausbildung als Nageldesignerin gemacht, die letzten Jahre sei sie Hausfrau gewesen und hätten sie bei ihren Eltern gelebt. Wirtschaftlich sei es ihnen gut gegangen.

Zum Grund der Flucht erklärte die BF2, das Problem habe im April 2017 begonnen. Sie hätten sich nur in kleinen Gruppen und auch oft bei ihnen zu Hause getroffen. Ihr Mann habe die Treffen organisiert. Eine Woche vor ihrer Ausreise sei ein Glaubensbruder – der in ihrer Nähe wohne – von den Behörden in zivil besucht worden. Er sei nach seinem Glauben und seinen Ansichten befragt worden. Ihr Haus sei beobachtet worden und werde laut Aussagen ihrer Mutter noch immer überwacht, weil nach wie vor Treffen bei ihnen zu Hause organisiert werden würden. Es sei merkbar gewesen, dass die Behörden sie im Visier hätten. Diese würden versuchen herauszufinden, wer organisiere und wo man sich treffe. Es gäbe neue gesetzliche Bestimmungen, wonach jeder Staatsbürger melden müsse, wenn er extremistische Vorfälle wahrnehme. Sie mache sich als Mutter Sorgen um den BF3. Ihr Mann und ihre Mutter seien von der Organisation der Kasaki bedroht worden. Persönliche Vorfälle mit den Behörden habe es nicht gegeben, man wolle sie aber bestrafen, weil sie als extremistisch eingestuft werden würden. Ihre Literatur sei verboten worden. Sie sei im Jahr 2004 als Zeuge Jehova getauft worden. Es sei nicht möglich, den Glauben heimlich auszuüben.

4. In der Folge legten der BF1 und die BF2 eine Stellungnahme vor, wonach in den Länderberichten Informationen über die Situation der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation fehlen würden. So würden die Behörden in Russland die Grundfreiheiten der Zeugen Jehovas verletzen und ihre Glaubensausübung strafrechtlich verfolgen. Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas würden gestürmt und die Mitglieder festgenommen werden. Kinder der Zeugen Jehovas würden zur Zielscheibe werden, Häuser und Königreichsäle würden niedergebrannt bzw. zerstört werden.

5. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 25.10.2017 hat das BFA die Anträge auf internationalen Schutz der BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I.), den BF gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation nicht zuerkannt (Spruchpunkte II.), diesen einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die BF Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkte III.) und deren Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte IV.).

In der Entscheidungsbegründung hielt das BFA fest, dass der BF1 und die BF2 der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehören würden, es jedoch fraglich erscheine, dass die Polizei bzw. die Behörden in der Russischen Föderation gezielt Angehörige der Zeugen Jehovas verfolge. Außer einem in den Medien immer zitierten Vorfall gegen einen dänischen Staatsbürger seien keine schweren Verfolgungen gegen Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft bekannt. Gegen die BF bzw. ihre Familienangehörige seien keine Verfolgungshandlungen gesetzt worden. Hätte der russische Staat den Willen, konkret gegen alle Angehörigen der Zeugen Jehovas vorzugehen, so hätte er die ohne weiteres bereits tun können, zumal das Haus überwacht worden wäre und der BF1 als Mitglied bekannt gewesen sei. Auch aus den vorgelegten Nachrichtenmeldungen, worin von einigen Übergriffen auf Angehörige der Zeugen Jehovas berichtet werde, könne keine organisierte Verfolgung abgleitet werden. Wenn die Polizei Personen angehalten habe, dann seien diese nach spätestens einigen Tagen wieder frei gelassen worden und wäre es zu keiner Anklage gekommen. Es könne auch nicht erkannt werden, dass sich die BF nach dem erlassenen Urteil versteckt gehalten hätten. Die russischen Reisepässe seien erst Ende Mai/Anfang Juni von den russischen Behörden ausgestellt worden und hätten die BF nicht vorgebracht, dass die Erlangung der Reisepässe außerordentlich schwierig gewesen wäre. Auch die Ausreise über den internationalen Flughafen Moskau sei ohne Probleme möglich gewesen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der BF und seine Familie Opfer von Diskriminierung gewesen seien, eine Verfolgung habe jedoch keine so erhebliche Intensität erreicht, dass deshalb ein Aufenthalt im Herkunftsstaat als unerträglich anzusehen wäre. Allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, hätten für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre, seien hinzunehmen. Unter diesen Aspekt seien auch die von den BF behaupteten Probleme aufgrund ihrer vorgebrachten Religionszugehörigkeit unbeachtlich.

Den BF sei es zuzumuten nach Moskau oder in andere Landesteile der Russischen Föderation zurückzukehren. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass alle Zeugen Jehovas im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation mit Verfolgungshandlungen zu rechnen hätten. Zwar hätten Diskriminierungen und gewalttätige Übergriffe gegen Zeugen Jehovas seitdem das Justizministerium die Organisation als extremistisch eingestuft habe, zugenommen, jedoch werde angesichts der Anzahl der in der Russischen Föderation lebenden Zeugen Jehovas, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte nicht erreicht und könne keine Rede davon sein, dass Übergriffe auf Zeugen Jehovas so zahlreich seien, dass für jeden Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft begründete Furcht bestehe, in eigener Person Opfer von Übergriffen zu werden. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation drohe den BF wegen ihrem Glauben nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure. Mit Stand April 2017 hätten in Russland etwa 170.000 Zeugen Jehovas gelebt, demgegenüber seien aber nur 181 Fälle in der Russischen Föderation gegen 129 Personen und 52 Religionsgemeinschaften gefunden worden, die zwischen dem 20.07.2016 (Inkrafttreten des Anti Missionierungsgesetzes) und dem 20.07.2017 gerichtlich anhängig gewesen seien. 133 davon hätten zu ersten Verurteilungen geführt, wobei 130 Bußgelder verhängt worden seien. Von den Angeklagten, die strafrechtlich verfolgt worden seien, seien fünf deportiert worden. Es sei zwar eine nicht unerhebliche Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe anzunehmen, jedoch läge die Wahrscheinlichkeit für die BF, Opfer einer Verfolgung zu werden im Promillebereich. Die Eingriffshandlungen gegen Mitglieder der Zeugen Jehovas würden somit unter Berücksichtigung der Anzahl der in der Russischen Föderation lebenden Zeugen Jehovas nicht die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte erreichen und könne eine solche auch in überschaubarer Zukunft nicht angenommen werden. Das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, wonach eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft unter Strafe gestellt sei, könne nicht als Maßnahme betrachtet werden, welche die BF in so erheblicher Weise beeinträchtige, dass der Grad an Schwere erreicht werde, die erforderlich sei, um diese Strafbarkeit als Verfolgung ansehen zu können. Auch eine Freiheitsstrafe, die religiöse Handlungen unter Strafe stelle, stelle für sich alleine eine Verfolgungshandlung nur dann dar, sofern diese im Herkunftsland auch tatsächlich verhängt werde. Dass dies der Fall sei, dafür gäbe es keine Anzeichen.

6. Für die BF wurde fristgerecht eine gleichlautende und vollumfängliche Beschwerde eingebracht, in welcher zusammengefasst geltend gemacht wurde, dass die BF als Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation asylrelevant verfolgt werden würden. Laut den russischen Gesetzten würde den erwachsenen BF das Sorgerecht für den BF3 alleine deswegen entzogen werden, weil sie ihr Kind in der Glaubenslehre der Religionsgemeinschaft belehren würden. Die Familie sei aus religiösen und politischen Gründen asylrelevant gefährdet. Eine IFA bestehe nicht.

7. Mit 16.09.2020 brachten die BF folgende Unterlagen in Vorlage:

-        Bericht betreffend die Strategie zur Bekämpfung des Extremismus in der Russischen Föderation bis 2025;

-        diverse Zeitungsartikel, welche über die Folterung, Verhaftung sowie die strafrechtliche Verurteilung von Mitgliedern der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation berichten;

-        Bestätigungen vom 29.01.2018, wonach der BF1 und die BF2 (am XXXX bzw. am XXXX in XXXX ) als Zeugen Jehovas getauft worden seien und beide Mitglieder der Zeugen Jehovas in Österreich (Versammlung XXXX ) seien;

-        Empfehlungsschreiben von einem österreichischen Mitglied der Zeugen Jehovas, wonach die BF bei Versammlungen zu Gottesdiensten der Zeugen Jehovas in Österreich – soweit dies durch die aktuellen Corona-Einschränkungen möglich sei – dabei seien und sie auch zu den Zusammenkünften in russischer Sprache in Wien fahren würden;

-        weiteres Empfehlungsschreiben für den Verbleib der BF in Österreich.

8. Das erkennende Gericht führet am 17.09.2020 in Beisein eines Dolmetschers der Russischen Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der BF1 und die BF2 ergänzend zu den eigenen Problemen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit, zu den Problemen anderer Mitglieder der Zeugen Jehovas in ihrer Gemeinde, zur Tätigkeit des BF1 bei den Zeugen Jehovas, zu ihren Angehörigen im Heimatland und ihrer Religionsausübung in Österreich befragt wurden.

In der Verhandlung wurden folgende Berichte erörtert:

-        LIB der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung vom 27.03.2020, letzte Kurzinfo vom 21.07.2020);

-        Aktueller Bericht des Auswärtigen Amtes Berlin vom 13.02.2019;

-        Aktuelle Mitteilungen von Amnesty International über Strafverfahren einzelner Mitglieder;

-        Auszug von JWORG „Wegen ihres Glaubens in Haft“.

Im Zuge der Verhandlung legten die BF ein ÖSD-Zertifikat des BF1 (Deutsch B2) sowie eine Schulbesuchsbestätigung des BF3 vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen und zu den Fluchtgründen der BF:

Die BF führen die im Spruch ersichtlichen Personalien, sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der russischen Volksgruppe. Der BF1 und die BF2 sind verheiratet und Eltern sowie gesetzliche Vertreter des minderjährigen BF3. Die zuletzt in XXXX wohnhaften BF reisten im Juli 2017 unter Mitführung russischer Reisepässe sowie gültiger Schengen-Visa auf dem Luftweg in das österreichische Bundesgebiet ein und halten sich seither im Bundesgebiet auf.

Der BF1 und die BF2 sind seit 2012 (BF1) bzw. seit 2004 (BF2) getaufte, aktive Mitglieder der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Nach Verbot der Zeugen Jehovas im April 2017 fanden im Haus der BF Treffen der Glaubensgemeinschaft statt. Der minderjährige BF3 ist noch nicht als Zeuge Jehova getauft und daher noch kein aktives Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft.

Auch in Österreich sind der BF1 und die BF2 aktive Mitglieder und besuchen regelmäßig Gottesdienste bzw. Versammlungen.

Die BF haben glaubhaft vorgebracht, dass sie sich aus wohlbegründeter Furcht vor landesweiter religiös motivierter (strafrechtlicher) Verfolgung außerhalb ihres Herkunftsstaates befinden.

Den BF droht bei einer nunmehrigen Rückkehr die reale Gefahr wegen der Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt zu werden. Bei einer Verurteilung drohen ihnen Freiheitsstrafen von zwei bis zehn Jahren Haft.

Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 21.7.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.6.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 27.03.2020

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamten, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (USDOS 11.3.2020), Ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 4.3.2020).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden unter Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (USDOS 11.3.2020).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (USDOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018; vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind auch in Moskau präsent (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 7.8.2019

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 21.07.2020

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 12.2019; vgl. EASO 3.2017).

Immer wieder gibt es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020; vgl. HRW 14.1.2020). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“ kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung (AA 13.2.2019). Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 13.2.2019). Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben häufig folgenlos (AA 13.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 13.2.2019). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Im August 2018 publizierte das unabhängige Online-Medienportal Meduza Daten über mehr als 50 öffentlich gemeldete Folterfälle im Jahr 2018. Zu den mutmaßlichen Tätern gehörten Polizei, Ermittler, Sicherheitsbeamte und Strafvollzugsbeamte. Die Behörden haben nur wenige strafrechtliche Ermittlungen zu den Vorwürfen eingeleitet, und nur ein Fall wurde vor Gericht gebracht (HRW 17.1.2019). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Ab 2017 wurden Hunderte von homosexuellen Männern von tschetschenischen Behörden entführt und gefoltert, einige wurden getötet. Viele flohen aus der Republik und dem Land. In einem im Dezember 2018 veröffentlichten OSZE-Bericht wurde festgestellt, dass in Tschetschenien schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich des scharfen Vorgehens gegen LGBTI-Personen, begangen wurden, und Russland wurde aufgefordert, eine umfassende Untersuchung durchzuführen [vgl. hierzu Kapitel 19.4 Homosexuelle] (FH 4.2.2019; vgl. Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.7.2018 von der unabhängigen russischen Zeitung Nowaja Gazeta veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein (NZZ 23.7.2018). Als Reaktion auf die öffentliche Empörung verhaftete die russische Kriminalpolizei bis November 2018 15 Verdächtige. Ein Verdächtiger sagte aus, dass die Mitarbeiter das Video aufgezeichnet haben, um zu zeigen, dass sie einen Befehl von hohen Beamten ausgeführt haben, den Gefangenen zu bestrafen. Die schnelle und effektive Untersuchung war beispiellos in Russland, wo die Behörden typischerweise die Beschwerden von Gefangenen über Misshandlungen ablehnen (HRW 17.1.2019). Das Gerichtsverfahren gegen das Gefängnispersonal ist noch anhängig (HRW 14.1.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.7.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 10.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (14.1.2012): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 2.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 10.3.2020

-        Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 10.3.2020

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 21.07.2020

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2020a). Die Verfassung postuliert die Russischen Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland ist an folgende UN-Übereinkommen gebunden:

- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

- Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

- Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

- Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

- Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

- Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.9.2012) (AA 13.2.2019).

Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 317 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat dabei fast alle Empfehlungen akzeptiert und nur wenige nicht berücksichtigt. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der EMRK. Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des EGMR um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert [Anm.: Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 13.2.2019). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 12.2019).

Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands 2019 weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikanierung bis hin zur Misshandlung durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch zu Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Leute für wohltätige Projekte engagieren und freiwillige Arbeit leisten. Regionale zivile Kammern wurden zu einer wichtigen Plattform im Dialog zwischen der Zivilbevölkerung und dem Staat in Russlands Regionen (ÖB Moskau 12.2019). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2019; vgl. FH 4.3.2020). Der konsultative „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim russischen Präsidenten übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 13.2.2019). Derzeit stehen insbesondere die LGBTI-Community in Tschetschenien sowie die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Russland unter Druck (ÖB Moskau 12.2019).

Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine haben zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung geführt. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden jedoch verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine deutlich, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist auch die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen. Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren auch über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe. Die meisten Vorfälle gab es, wie in den Vorjahren, in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Im Vergleich zu den Jahren 2014-2017 ist gleichzeitig ein gewisser Anstieg der fremdenfeindlichen Stimmung zu vermerken, der auch im Zusammenhang mit sozialen Problemen (der Unzufriedenheit mit der Pensionsreform und sinkenden Reallöhnen) zu sehen ist. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland seit 2013 weiterhin ausgesetzt bleibt, unterstützt die EU-Delegation in Moskau den Dialog mit NGOs, Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidigern aktiv (ÖB Moskau 12.2019).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend „Aufständische“ und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet (ÖB Moskau 12.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 11.3.2020

-        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.7.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 11.3.2020

Haftbedingungen

Letzte Änderung: 27.03.2020

Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien (ähnelt dem freien Vollzug), Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien mit allgemeinem, strengem oder besonderem Regime (hier sitzt der ganz überwiegende Anteil der Häftlinge ein), oder in einem Gefängnis untergebracht (AA 13.2.2019). Die Bedingungen in den Haftanstalten haben sich seit Ende der 90er Jahre langsam, aber kontinuierlich verbessert. Die Haftbedingungen entsprechen aber zum Teil noch immer nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. Im Piloturteil-Verfahren des EGMR zum Fall „Ananjew und andere gegen Russland“ hat das Gericht festgestellt, dass die Bedingungen in den Untersuchungsgefängnissen (russ. SIZO) einer unmenschlichen und erniedrigen Behandlung gemäß Art. 3 EMRK entsprechen, und das Problem systemischer Natur ist. 2012 legte Russland einen Aktionsplan zur Bekämpfung der Probleme im Strafvollzug vor, der vom Ministerkomitee des Europarates positiv aufgenommen wurde. Konkrete Schritte zur Verbesserung der Situation, insbesondere in den Untersuchungsgefängnissen, werden jedoch nur schleppend umgesetzt. Im März 2017 veröffentlichte die Föderale Strafvollzugsbehörde (FSIN) einen Bericht, laut welchem die Zahl der Selbstmorde und der Erkrankungen mit direkter Todesfolge auf Grund verbesserter Bedingungen im Jahr 2016 um 12% bzw. 13% gesunken ist. Menschenrechtsverteidiger äußerten jedoch Zweifel an diesen Zahlen (ÖB Moskau 12.2019). Gefangene können Beschwerden bei öffentlichen Aufsichtskommissionen oder beim Büro der Ombudsfrau einreichen. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen wird diese Option aber nicht immer genutzt. Aktivisten berichteten, dass nur Gefangene, die glaubten, keine andere Option zu haben, die Konsequenzen einer Beschwerde riskierten. Beschwerden, die bei den Aufsichtskommissionen eingingen, konzentrierten sich häufig auf geringfügige persönliche Anfragen. Die Behörden gestatteten Vertretern der öffentlichen Aufsichtskommissionen regelmäßig Gefängnisse zu besuchen, um die Bedingungen zu überwachen. Nach Angaben der öffentlichen Kammer gab es in fast allen Regionen öffentliche Aufsichtskommissionen. Menschenrechtsaktivisten äußerten sich besorgt darüber, dass einige Mitglieder der Kommissionen behördennahe Personen waren und Personen, die in der Strafverfolgung arbeiten. Laut Gesetz haben Mitglieder von Aufsichtskommissionen das Recht, Insassen in Haftanstalten und Gefängnissen mit ihrer schriftlichen Genehmigung auf Video aufzunehmen und zu fotografieren. Mitglieder der Kommission können auch Luftproben sammeln, andere Umweltinspektionen durchführen, Sicherheitsbewertungen durchführen und Zugang zu psychiatrischen Einrichtungen im Gefängnis erhalten. Während des Jahres gab es mehrere Berichte, wonach die Gefängnisbehörden die Mitglieder der Aufsichtskommissionen daran hinderten, Beschwerden von Gefangenen entgegenzunehmen (USDOS 11.3.2020).

Die häufigsten Vorwürfe betreffen die schlechten hygienischen Zustände, den Mangel an medizinischer Betreuung, den akuten Platzmangel (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020) und Misshandlungen durch Aufsichtspersonen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Bei einem Haftbesuch der [österreichischen] Botschaft in einem Untersuchungsgefängnis in Moskau im Dezember 2019 wurden etwa die beengten Verhältnisse, die fehlende Privatsphäre, die schleppende medizinische Betreuung und die unzureichenden Besuchsmöglichkeiten auch für den Rechtsbeistand moniert (ÖB Moskau 12.2019). Amnesty International übte Kritik an der häufig vorkommenden Verbringung von Häftlingen in weit entfernte Strafkolonien unter dürftigen Transportbedingungen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AI 22.2.2018). Im Dezember 2019 wurde jedoch ein Gesetzesentwurf, gemäß welchem Häftlinge in Russland nahe ihren Wohnorten oder nahe den Wohnorten ihrer Angehörigen die Haftstrafen verbüßen sollen, in erster Lesung gebilligt (ÖB Moskau 12.2019).

Zum Jahresende 2018 waren laut offiziellen Daten etwas über 570.000 Personen in Haft. Die Anzahl an inhaftierten Personen erreichte bereits im Jänner 2017 einen historischen Tiefstand und verringerte sich 2018 weiter. Trotzdem nimmt Russland weltweit den vierten Platz der größten Häftlingspopulationen ein (nach den USA, China und Brasilien) (ÖB Moskau 12.2019). In den letzten zehn Jahren ist die Anzahl der Häftlingspopulation kontinuierlich um durchschnittlich 32.000 pro Jahr gesunken (WPB 8.3.2019). Die Regierung ist bestrebt, die Zahl der Gefängnisinsassen noch weiter zu verringern. So gibt es Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen (wie beispielsweise im Bereich der Drogendelikte ein Gesetzesentwurf eine freiwillige Entziehungstherapie oder Arbeitseinsätze statt Freiheitsstrafen vorsieht) zu verhängen, um die Anzahl der Strafgefangenen zu verringern. Die Lage in den Strafkolonien ist sehr unterschiedlich; sie reicht von Strafkolonien mit annehmbaren Haftbedingungen bis zu solchen, die laut NGOs als „Folterkolonien“ berüchtigt seien. Hauptprobleme sind Überbelegung (in Moskau, weniger in den Regionen), qualitativ schlechtes Essen und veraltete Anlagen mit den einhergehenden hygienischen Problemen. Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in den russischen Haftanstalten entsprechen nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgt oft in Schlafsälen von über 40 Personen und ist häufig sehr schlecht. Duschen ist in der Regel nur einmal wöchentlich möglich. In den Strafkolonien schützt die Unterbringung in Gruppen den einzelnen Häftling am ehesten vor schikanöser Behandlung durch das Gefängnispersonal. Laut Menschenrechtsorganisationen kann jedoch in allen Strafkolonien gegen Häftlinge, denen Verstöße gegen die Anstaltsregeln vorgeworfen werden, sogenannte Strafisolierhaft (Schiso) angeordnet werden. Häftlinge sind in dieser Isolationshaft oft besonders üblen Haftbedingungen und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt (AA 13.2.2019).

Die medizinische Versorgung ist ebenfalls unbefriedigend (AA 13.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Ein Großteil der Häftlinge bedarf medizinischer Versorgung. Sowohl von TBC- als auch HIV-Infektionen in bemerkenswertem Umfang wird berichtet. Problematisch ist ebenso die Zahl der drogenabhängigen oder psychisch kranken Inhaftierten. Todesfälle wegen unterlassener medizinischer Hilfeleistung sollen vorkommen (AA 13.2.2019). 2018 starben in den russischen Strafvollzugseinrichtungen insgesamt 2.729 Menschen (342 weniger als 2017). Davon starben 2.268 Personen in Folge einer Erkrankung (696 an Aids, 673 an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 303 an Krebs, 43 an Tuberkulose), das sind um 33% weniger als noch vor fünf Jahren (ÖB Moskau 12.2019). Die Haftbedingungen in den Untersuchungshaftanstalten sind laut NGOs deutlich besser als in den Strafkolonien (qualitativ besseres Essen, frische Luft, wenig Foltervorwürfe). Hauptproblem ist auch hier die Überbelegung. Trotz rechtlich vorgesehener Höchstdauer stellten die Gerichte Notwendigkeit und Dauer der U-Haft nicht in Frage und verlängerten die Haft in Einzelfällen über Jahre (AA 13.2.2019). Der Chef der föderalen Strafvollzugsbehörde (FSIN) behauptete, dass es an Personal fehle, um Menschen mit Behinderungen in Haftanstalten zu betreuen (ÖB Moskau 12.2019).

Im Allgemeinen sind die Haftbedingungen in Frauengefängnissen besser als in Männergefängnissen, aber auch diese bleiben unter dem Standard (USDOS 11.3.2020).

Russland erweiterte Anfang 2017 seinen Strafkatalog. Künftig können Richter bei einigen Vergehen statt einer Haftstrafe Zwangsarbeit anordnen. Die russische Gefängnisbehörde FSIN eröffnete im Jänner 2017 vier „Besserungszentren“ – in Sibirien, Russlands Fernost, im Kaukasus und im Wolgagebiet – und sieben Aufnahmepunkte für Zwangsarbeiter. Insgesamt bieten sie zunächst 900 Verurteilten Platz. Im Gegensatz zur Haftstrafe sind die Täter „nicht von der Gesellschaft isoliert“. Sie können Telefon und Internet benutzen, einen Teil des verdienten Geldes behalten, einen normalen Arzt aufsuchen und nach Verbüßung eines Drittels der Strafe auch außerhalb der Zentren mit ihren Familien zusammenleben – vorausgesetzt, sie verstoßen weder gegen ihre Arbeitspflicht noch gegen andere Auflagen. Der Konsum von Alkohol und Drogen zieht die Umwandlung der Zwangsarbeit in Haft nach sich (Handelsblatt 2.1.2017; vgl. Standard.at 10.1.2017).

Im Juli 2018 veröffentlichte die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta ein durchgesickertes Video von Strafvollzugspersonal in Jaroslawl, das einen Gefangenen brutal schlägt. Als Reaktion auf die öffentliche Empörung verhaftete die russische Kriminalpolizei bis November 15 Verdächtige. Die schnelle und effektive Untersuchung war beispiellos in Russland, wo die Behörden typischerweise Beschwerden von Gefangenen über Misshandlungen ablehnen (HRW 17.1.2019; vgl. FH 4.2.2019). Das Verfahren gegen das Gefängnispersonal ist noch am Laufen (HRW 14.1.2020). Laut Freedom House veröffentlichte die NGO Public Verdict ein Video, das den anhaltenden Missbrauch in Jaroslawl zeigt (FH 4.3.2020).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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