Entscheidungsdatum
15.10.2020Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W191 2142019-1/27E
W191 2142019-2/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. ROSENAUER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gerhard MORY, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.11.2016, Zahl 1078854506-1550882154, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.08.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides gemäß §§ 3 und 8 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Die Spruchpunkte III. und IV. und des angefochtenen Bescheides werden behoben und die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 9 BFA-Verfahrensgesetz auf Dauer für unzulässig erklärt.
III. XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und § 58 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
IV. Festgestellt wird, dass die Beschwerde gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 06.03.2017, W191 2142019-2/3E, mit dem der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 30.01.2017 als unbegründet abgewiesen worden ist, nach Behebung des Beschlusses des BVwG vom 06.03.2017, W191 2142019-1/10E durch den Verfassungsgerichtshof (mit Erkenntnis vom 11.10.2017, E 924/2017-13) gegenstandslos geworden ist.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, wurde nach irregulärer und schlepperunterstützter Einreise in das Bundesgebiet am 17.07.2015 im Gemeindegebiet von Neusiedl am See (Burgenland) im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle gemeinsam mit mehreren anderen Fremden aufgegriffen und mangels eines gültigen Aufenthaltstitels in Österreich vorläufig festgenommen. Er stellte am folgenden Tag einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 18.06.2015 in Mytilini (Griechenland) erkennungsdienstlich behandelt worden war.
1.2. In seiner Erstbefragung am 19.07.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion (LPD) Steiermark, Polizeiinspektion (PI) Halbenrain, gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei am XXXX in Peshawar (Pakistan) geboren, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, Moslem und ledig. Er habe neun Jahre lang die Grundschule in Peshawar besucht. Sein Vater ernähre mit seinem Einkommen als Hilfsarbeiter die Familie (zwei Schwestern, die Mutter sei verstorben).
Er sei vor ca. eineinhalb Monaten von Peshawar aus über den Iran und die Türkei per Schlauchboot nach Griechenland auf die Insel Mytilini und weiter nach Athen gefahren, von wo er per Bus weiter nach Serbien bis Belgrad und schließlich per PKW nach Österreich gefahren sei. Die Reise habe 3.000 Euro gekostet.
Zum Fluchtgrund befragt gab der BF an, dass die Sicherheitslage aufgrund der Taliban sehr schlecht gewesen sei, es habe immer wieder Bombenanschläge gegeben.
1.3. Bei seiner Einvernahme am 17.08.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Vorarlberg, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben, allerdings habe der Dolmetsch bei der Erstbefragung mehrere Fehler gemacht, die er nun korrigieren wolle.
Der BF legte eine Tazkira (Personaldokument) vor, die er im Jahr 2012 in Jalalabad bekommen habe, und gab an, die ursprüngliche Geburtsjahrsangabe 1998 sei ein Fehler des Dolmetsch gewesen, richtig sei 1995. Er spreche neben Paschtu auch Urdu und ein wenig Deutsch und Englisch. Nachdem sein Vater verschwunden sei, habe er als Obsthändler gearbeitet. Seine Familie sei im Jahr 2001 aufgrund einer Feindschaft von Afghanistan nach Pakistan gegangen. Sein Vater sei seit 2008 verschwunden. Sie seien zwar zur Polizei gegangen, diese hätte ihnen aber nicht geholfen, da sie Flüchtlinge seien. Seine Mutter sei, als der BF noch ein Kind gewesen sei, von einem Onkel mütterlicherseits getötet worden, weil sie seinen Vater ohne deren Einverständnis geheiratet hätte. Die beiden Schwestern seien in Pakistan verheiratet, er habe zu ihnen keinen Kontakt mehr. Dass sie verheiratet seien, hätte er von einem Dorfbewohner erfahren.
Mehrere Fragen zur vorgelegten Tazkira (Ausstellungszeit und -ort, nicht ausgefüllte Rubriken) konnte der BF nur wenig nachvollziehbar beantworten.
Als konkreten Fluchtgrund nannte der BF eine Bedrohung wegen seiner Mitarbeit bei einem Gesundheitsprojekt für Kinder sowie durch die Familie seiner Mutter, und wurde er dazu näher befragt.
Laut Niederschrift wurde dem BF die Möglichkeit zur Einsicht in Länderfeststellungen zu Afghanistan eingeräumt. Auf eine schriftliche Stellung dazu verzichtete er. Er legte Belege zu seiner Integration in Österreich vor.
Im Verwaltungsakt wird der BF ab Aktenseite 33 mit dem korrigierten (drei Jahre älteren) Geburtsdatum XXXX geführt, ebenso im Melderegister (ZMR-Auszug vom 27.11.2015, Aktenseite 37).
1.4. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 16.11.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 18.07.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei gänzlich unglaubhaft. Es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF sowie gegen eine Ausweisung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde, Abschiebungshindernis läge keines vor.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aufgrund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Afghanistan sowie seiner individuellen Situation nicht gegeben sei. Der BF habe Verwandte in Kabul und sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sodass es ihm, der sich laut eigenen Angaben sechs Jahre lang hätte selbst versorgen können, möglich wäre, sich in Kabul niederzulassen und zu arbeiten.
Aus dem Dossier der Staatendokumentation „AfPak“ [Anmerkung: vom Juli 2016, „Grundlagen der Stammes- und Clanstruktur“] wurden Textteile zur Melmastiya (Gastfreundschaft), einem wesentlichen Aspekt des Pashtunwali, zitiert.
Für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wurde dem BF mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG der Verein Menschenrechte Österreich gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig als Rechtsberater zur Seite gestellt, dem auch per E-Mail am 17.11.2017 nachrichtlich diese Verfahrensanordnung und der Bescheid betreffend den BF übermittelt wurde.
1.5. Laut dem im Verwaltungsakt einliegenden Rückschein RSa wurde dieser Bescheid dem BF durch Hinterlegung am 22.11.2016 (Beginn der Abholfrist) rechtswirksam zugestellt.
1.6. Gegen diesen Bescheid richtet sich das mit Schreiben vom 07.12.2016, per Telefax am selben Tag eingebrachte, von seinem Rechtsberater als Vertreter (mit beiliegender Vollmacht vom 30.11.2016) eingebrachte Rechtsmittel der Beschwerde an das BVwG, mit dem der Bescheid gesamtinhaltlich angefochten wurde.
In der Beschwerdebegründung wurde ausgeführt, dass die Rückkehrbefürchtungen des BF nachvollziehbar seien. Unter Verweis auf Textteile aus dem angefochtenen Bescheid des BFA wurde behauptet, dass von einer asylrelevanten Verfolgung des BF auszugehen sei.
Weiters wurde auf Integrationsbemühungen des BF in Österreich verwiesen (gemeinnützige Arbeiten beim Roten Kreuz, Deutschkurs, Lehrvertrag mit Berufsschule als Restaurantfachmann). Eine Rückkehrentscheidung sei rechtswidrig.
Der BF beantragte unter anderem, eine mündliche Verhandlung anberaumen.
1.7. Mit Schreiben des BVwG vom 10.01.2017 wurde dem BF im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht, dass seine Beschwerde gegen den am 22.11.2016 per RSa-Brief durch Hinterlegung zugestellten Bescheid von dem ihn vertretenden Verein Menschenrechte Österreich am 07.12.2016 – und somit nach Ablauf der Rechtsmittelfrist am 06.12.2016 – offensichtlich verspätet eingebracht worden sei, und ihm die Möglichkeit eingeräumt, innerhalb einer Frist eine Stellungnahme dazu abzugeben.
1.8. Mit Schreiben seines damaligen Vertreters vom 30.01.2017 stellte der BF einen – sprachlich und formal viele Fehler enthaltenden – Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand „gem. § 71 AVG“ [Anmerkung: richtig § 33 VwGVG], beantragte die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und wiederholte unter einem seine Beschwerde gegen den Bescheid des BFA.
1.9. Mit Schreiben vom 02.02.2017 gab der nunmehrige anwaltliche Vertreter des BF seine Bevollmächtigung bekannt und ersuchte um die Einräumung einer Frist von vier Wochen zur Erstattung einer Beschwerdeergänzung, da die Lage in Afghanistan komplex sei und der Rechtsvertreter derzeit terminlich sehr stark ausgelastet sei.
Mit Schreiben vom 03.02.2017 erstattete der nunmehrige anwaltliche Vertreter des BF ein ergänzendes Vorbringen zu dem vom vormaligen Vertreter des BF eingebrachten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie ein ergänzendes Vorbringen zur Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid.
Vorgelegt wurden Belege zur Integration des BF (Lehrvertrag, Berufsschulzeugnis, AMS-Bescheid).
1.10. Mit Beschluss vom 06.03.2017, W191 2142019-1/10E und W191 2142019-2/3E, wies das BVwG die Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom 16.11.2016, 1078854506-1550882154, gemäß § 16 Abs. 1 BFA-VG [als verspätet] als unzulässig zurück [Spruchpunkt I.] und wies den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 30.01.2017 gemäß § 33 Abs. 1 VwGVG als unbegründet ab [Spruchpunkt II.].
1.11. Der gegen diesen Beschluss eingebrachten Beschwerde erkannte der Verfassungsgerichtshof (in der Folge VfGH) mit Beschluss vom 03.04.2017 die aufschiebende Wirkung zu.
Die ebenfalls eingebrachte außerordentliche Revision gegen diesen Beschluss legte das BVwG dem Verwaltungsgerichtshof (in der Folge VwGH) zur Entscheidung vor.
1.12. Am 24.03.2017 brachte der BF einen Folgeantrag auf internationalen Schutz ein und wurde am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Polizeianhaltezentrum (PAZ) Innsbruck erstbefragt. Seine Fluchtgründe seien nach wie vor aufrecht.
1.13. Auch der VwGH erkannte zunächst mit Beschluss vom 20.04.2017, Ra 2017/19/0113-6, der gegen den oben genannten Beschluss des BVwG vom 06.03.2017 eingebrachten Revision die aufschiebende Wirkung zu, wies sodann jedoch mit Erkenntnis vom 30.05.2017, Ra 2017/19/0113-8, die Revision als unbegründet ab.
1.14. Mit Erkenntnis vom 11.10.2017, E 924/2017-13, hob der VfGH den angefochtenen Beschluss des BVwG auf, nachdem er in einem anderen Verfahren die maßgebende Wortfolge in § 16 BFA-Verfahrensgesetz – wonach die Rechtsmittelfrist zwei (statt vier) Wochen betrage – als verfassungswidrig aufgehoben hatte.
Das Verfahren befand sich somit wieder im Stande der Anfechtung des Bescheides des BFA vom 16.11.2016 und war vom BVwG fortzusetzen. Das Vorbringen im Folgeantrag war somit als Beschwerdeergänzung zu werten.
1.15. Mit Eingaben seines Vertreters vom 26.11.2018 und 03.04.2019 legte der BF ein Gutachten von Univ.-Prof. Dr. Manfred Nowak betreffend „Beschäftigung von Asylsuchenden in Mangelberufen und die Zulässigkeit von Rückkehrentscheidungen“ vom 04.07.2018 sowie weitere Integrationsbelege (Dienstzeugnis, Empfehlungsschreiben) vor.
1.16. Das BVwG führte am 21.08.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF im Beisein seines nunmehrigen anwaltlichen Vertreters (BFV) sowie ein Vertreter des BFA persönlich erschienen.
Dabei machte der BF auf Befragung durch den Richter, den Vertreter des BF und das BFA Angaben zu seinen Lebensumständen in Afghanistan und Pakistan sowie in Österreich und legte weitere Belege zu seiner Integration in Österreich vor.
Zu seinem Fluchtvorbringen befragt („Warum haben Sie Pakistan verlassen?“) antwortete der BF:
„Es gibt viele Gründe. Einer davon ist, dass bei einem Projekt, bei dem Kindern Polio Tropfen verabreicht wurden, die Betreiber dieses Projekts erschossen worden sind. Außerdem ist die Lage für Afghanen in Pakistan unsicher und nicht gut. Wir durften nicht richtig arbeiten. Es gab sehr viele Konflikte. [...]
BF: Im Falle einer Rückkehr könnte ich bei einem Bombenanschlag ums Leben kommen. Wenn meine Onkel mütterlicherseits von meiner Rückkehr erfahren würden, würden sie mich umbringen.
[„Warum?“]
BF: Weil sie gegen die Heirat meiner Eltern waren.
[„Was glauben Sie, warum Ihr Vater verschwunden ist?“]
BF: Ich weiß es nicht. In der Früh ging er in die Arbeit, und er verschwand. Er kam nie wieder zurück.“
Auf weitere Befragung durch BFV [Vertreter des BF] machte der BF folgende Angaben:
„BFV: Was wissen Sie konkret vom Tod Ihrer Mutter und der angeblichen Ermordung Ihrer Mutter durch Ihren Onkel?
BF: Meine Onkel mütterlicherseits haben meine Mutter getötet. Das ist eine Tatsache. Diese lebensgefährliche Bedrohung war sowohl für mich, als auch für meinen Vater gegeben. Wir sind dann geflüchtet. Sie wissen schon, was die Feindschaft für Afghanen/Paschtunen bedeutet. Aufgrunddessen gab es Gefahr für uns. Deswegen flüchteten wir von dort. Im Falle einer Rückkehr, wenn sie davon erfahren würden, dann würden sie mich auch wieder verfolgen.
BFV: Wie viele Onkel sind das?
BF: Drei, vier. Damals war ich sehr klein. Die Verbindung zwischen uns und unseren Onkeln war meine Mutter, nachdem sie gestorben ist, gab es keine Verbindung mehr zu den Onkeln mütterlicherseits, daher weiß ich nichts.
BFV: Haben Sie eine persönliche Erinnerung an Ihre Mutter?
BF: Es gibt ein bisschen persönliche Erinnerungen an meine Mutter, zB. ich kann mich an ihr Gesicht erinnern.
BFV: Gibt es irgendeine persönliche Erinnerung an den Tod Ihrer Mutter, die zurückreicht zum Zeitpunkt des Vorfalls?
BF: Ja. Mein Vater brachte den Leichnam meiner Mutter nach Hause. Sie wurde erschossen.
BFV: Was wissen Sie von Ihren Verwandten in Nangarhar und Kabul? Wer sind diese? Wie realistisch ist es, dass diese Verwandten Sie unterstützen können?
BF: Diese Verwandten sind meine Onkel mütterlicherseits, die Brüder meiner Mutter. Jene Verwandten, die in Jalalabad leben, sind die Verwandten meiner Onkel mütterlicherseits. Zu denen haben wir keinen Kontakt. Hätten mir diese Verwandten helfen können oder wollen, dann hätte ich nicht viel schwierige Sachen auf mich genommen und wäre nicht nach Pakistan geflüchtet.
BFV: Wie schaut es mit einem familiären oder sozialen Netzwerk in Kabul aus? Gibt es dort Verwandte?
BF: Da sind meine Onkel mütterlicherseits. Sie sind unsere Feinde.
BFV: Wie alt waren Sie damals, als Ihr Vater in Pakistan verschwunden ist?
BF: Ca. 15 oder 16 Jahre alt. Ich kann mich nicht genau daran erinnern.
BFV: Hat es jemals die Idee gegeben, dass Sie nach Afghanistan zurückgehen, weil Sie dort soziale Anküpfungspunkte haben?
BF: Nein, diese Überlegung gab es nicht. Davon abgesehen wurden meine Schwestern von einer Madrassa verheiratet. Hätte es so eine Verbindung zu den Verwandten gegeben, selbstverständlich wäre ich dann zu ihnen gefahren. Ich glaube, dass das Verschwinden meines Vaters mit meinen Onkeln in Verbindung steht.
BFV: Sie haben sich hinsichtlich des Zeitpunkts des Verschwindens Ihres Vaters widersprochen?
BF: Bei der Beantwortung Ihrer Frage war ich nicht sicher, ob ich tatsächlich 15 oder 16 Jahre alt war. Die Geschehnisse liegen lange zurück, deswegen kann ich mich an viele Details nicht erinnern.“
Der BFV erstattete in der Verhandlung eine sehr ausführliche Stellungnahme, in der er im Wesentlichen auf die Zuerkennung von subsidiärem Schutz abzielte und monierte, dass der BF bei einer Rückkehr nach Kabul oder Nangarhar von den dort lebenden Familienangehörigen aus den angegebenen Gründen verfolgt würde. Eine Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative an einem anderen Ort, etwa in Jalalabad, sei dem BF nicht zumutbar, da er auch dort über keine familiären oder sonstigen Anknüpfungspunkte verfüge und zudem die derzeit herrschende Covid 19 Pandemie sowohl aus gesundheitlichen als auch aus wirtschaftlichen Gründen existenzgefährdende Folgen erwarten ließen.
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Das BFA beantragte die Abweisung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. Ihm wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
? Einsicht in die Gerichtsakten des BVwG und den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragungen am 19.07.2015 und 24.03.2017 sowie der Einvernahme vor dem BFA am 17.08.2016, die Aktenteile betreffend die Verfahren vor dem VwGH und VfGH, die vorgelegten Integrationsbelege sowie die Beschwerde vom 07.12.2016
? Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 120 bis 195 im Verwaltungsakt)
? Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren vorgelegten Bescheinigungsmittel zu seiner Integration in Österreich (Deutschkurse, Bestätigung über gemeinnützige Arbeiten beim Roten Kreuz, Lehrvertrag als Restaurantfachmann)
? Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 21.08.2020
? Einsicht in folgende in der Verhandlung in das Verfahren zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
? Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat und in der Provinz Nangarhar sowie zur Covid-19-Pandemie (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020)
? eine gutächtliche Stellungnahme einer Länderkundigen zu Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan (Mag. Zerka Malyar vom 27.07.2009 vor dem Asylgerichtshof, zitiert vom BVwG im Erkenntnis vom 21.01.2016, Zahl W174 1436214-1)
? Einsicht in die vom BF in der Beschwerdeverhandlung ergänzend vorgelegten Beweismittel zu seiner Integration (mehrere Empfehlungsschreiben bzw. Referenzschreiben, Integrationsprüfungszeugnis, Deutschzertifikat B1, Abschlussprüfung Restaurantfachmann)
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX . Er stammt aus dem Distrikt Achin, Provinz Nangarhar, Afghanistan, ist Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam und ist ledig. Er ist im Kindesalter im Jahr 2001 mit seiner Familie nach Pakistan gezogen und lebte dort bis zu seiner Ausreise nach Europa im Jahr 2015.
Nach dem angegebenen Tod bzw. Verschwinden seines Vaters im Jahr 2008 arbeitete der BF als Hilfsarbeiter im Obsthandel.
3.1.2. Der BF verließ Pakistan aus angegebenen Gründen im Jahr 2015 und gelangte nach einer schlepperunterstützten Reise bis nach Österreich, wo er am 18.07.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der BF hat Verwandte mütterlicherseits in Nangarhar und Kabul.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat nicht inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst Probleme. Er war nicht politisch tätig und gehörte nicht einer politischen Partei an.
3.2.2. Der BF hat sein Vorbringen, dass er von seinen Verwandten mütterlicherseits, die schon seine Mutter und mutmaßlich auch seinen Vater getötet hätten, sowie von den Taliban verfolgt würde, nicht glaubhaft gemacht, und konnten somit asylrelevante Gründe des BF für das Verlassen seines Heimatstaates nicht glaubhaft gemacht werden.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung – etwa aus den oben in Punkt 3.2.2. angeführten Gründen – aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.
3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Nangarhar ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
3.4. Zur Integration der BF in Österreich:
3.4.1. Der BF ist seit Juli 2015 in Österreich aufhältig. Er ist als junger Mann nach Österreich gekommen und hat ernsthaft und erfolgreich Integrationsbemühungen gesetzt. Er hat sich rasch Deutschkenntnisse angeeignet, die Deutschprüfung B1 abgelegt, gemeinnützige Tätigkeiten ausgeübt, die Pflichtschule und eine Lehre als Restaurantfachmann abgeschlossen und einen Arbeitsvertrag abgeschlossen.
Der BF hat die Integrationsprüfung B1 am 26.09.2019 bestanden.
Der BF verfügt über gute soziale Kontakte. Er hat Kurse besucht und mehrere Empfehlungsschreiben vorgelegt.
3.4.2. Der BF ist irregulär in das Bundesgebiet eingereist. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Das Vorliegen schwerwiegender Verwaltungsübertretungen ist nicht bekannt.
3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
3.5.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan („Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[…] 1. Politische Lage
Letzte Änderung: 18.05.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020; UNGASC 17.03.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28.09.2019 stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum, wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.04.2020). Am 09.03.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020) einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten, und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.05.2020; vgl. BBC 17.05.2020; DW 17.05.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.05.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.05.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs die Gespräche (AJ 07.05.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 06.05.2020)], andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innenpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 07.05.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.04.2020).
Das Abkommen mit den US-Amerikanern
Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020).
2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).
Für den Berichtszeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.03.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.01.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
[…]
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (08.11.2019 - 06.02.2020) fort: acht Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (09.08. - 07.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres zwölf Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).
Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (NYT 26.03.2020; vgl. TN 26.03.2020; BBC 25.03.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sei ein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LWJ 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018) bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.03.2020). Jahrelange konzentrierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.02.2020; vgl. MT 27.02.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.03.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 02.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.03.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.03.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 02.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.01.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.06.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht, die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.06.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.01.2019).
2.2. Kabul
Letzte Änderung: 22.04.2020
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt – Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.03.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
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Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.03.2019).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.03.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher, und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.03.2019).
Nichtsdestotrotz ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum