Entscheidungsdatum
16.10.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W251 2163548-1/23E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.06.2017 Zl. 1082519501 - 151087352, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 16.10.2021 erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Somalias, stellte am 14.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdiensts die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass er Somalia wegen der Terrorgruppe Al Shabaab verlassen habe. Sein Onkel mütterlicherseits sei von diesen bedroht und getötet worden. Danach sei auch dem Beschwerdeführer gedroht worden. Er habe Angst gehabt und sich deswegen zur Flucht entschieden. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, getötet zu werden. Zudem würde er im Herkunftsstaat keinen Schutz bekommen.
3. Am 08.03.2017 erhob der Beschwerdeführer eine Säumnisbeschwerde.
4. Am 23.03.2017 fand die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt. Dabei wiederholte der Beschwerdeführer sein Vorbringen in der Erstbefragung und führte ergänzend dazu an, dass sein Onkel und er oft von der Al Shabaab aufgehalten worden seien um Steuern an diese zu bezahlen. Die Al Shabaab habe oft Blockaden gebaut und sie am 18.05.2015 sogar mitgenommen, ihnen die Augen verbunden und in einen Wald gebracht. Im Wald seien ihnen die Augen entbunden worden, sie seien geschlagen worden und man habe ihnen gesagt, dass sie mit der Al Shabaab zusammenarbeiten müssen und eine Bombe nach Mogadischu transportieren sollen. Der Beschwerdeführer sei in einen anderen Bezirk gegangen und der Onkel habe nachkommen sollen.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkte III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer sei ein gesunder, arbeitsfähiger Mann, dem es zumutbar sei durch Arbeitsaufnahme selbst für sein Auskommen zu sorgen und nach Mogadischu zurückzukehren. Er würde bei einer Rückkehr nach Somalia nicht in eine ausweglose Situation geraten. Zu den Stimmungsschwankungen des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass diese laut einer ärztlichen Stellungnahme bereits in Somalia bestanden haben und der Beschwerdeführer in seiner Einvernahme beim Bundesamt nicht geäußert habe, diesbezüglich Probleme in Somalia gehabt zu haben. Die Mutter, der Bruder und die Schwester des Beschwerdeführers leben zwar in Österreich, zu diesen bestehe allerdings kein Abhängigkeitsverhältnis, weswegen nicht davon ausgegangen wurde, dass der Beschwerdeführer in Österreich über ein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfüge.
6. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass sich das Bundesamt nicht ausreichend mit seinem Fluchtvorbringen auseinandergesetzt habe. Es sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer in einem anderen Land auf seiner Flucht sicher gewesen sei. Zusätzlich habe es das Bundesamt unterlassen, sich mit der Clanzugehörigkeit und der Diskriminierung seines Clans auseinanderzusetzen. Er könne nicht nach Mogadischu zurückkehren. Der Beschwerdeführer habe kein soziales Netzwerk in Somalia, in Zusammenschau mit seiner niederen Herkunft könne er nicht überleben. Es bestehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative. Auch die Versorgungslage Somalias sei vom Bundesamt nicht berücksichtigt worden. Im Falle einer Rückkehr könne er nur in einem Flüchtlingslager überleben, dort würde er aber registriert werden und der Al Shabaab in die Hände fallen. Auch mit der wirtschaftlichen und der Versorgungslage in Mogadischu habe sich die belangte Behörde nicht auseinandergesetzt.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 02. April 2019 eine mündliche Verhandlung durch.
8. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.04.2019 wurde ein Facharzt für Psychiatrie und Neurologie zur Erstellung eines Gutachtens betreffend den psychischen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beauftragt.
Dem Gutachten vom 10.06.2019 ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer an einem Zustand nach Psychose, einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, leide. Die Fortführung der nervenärztlichen Behandlung und medikamentösen Einstellung sei medizinisch indiziert. Die Einvernahmefähigkeit des Beschwerdeführers sei nicht beeinträchtigt und eine Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung möglich. Er sei dazu in der Lage, Erlebtes wiederzugeben und jedenfalls auch dazu in der Lage, Geschäften des täglichen Lebens nachzukommen.
09. In der Stellungnahme vom 18.07.2019 betreffend das Gutachten brachte der Beschwerdeführer vor, dass einer Anfragebeantwortung zu entnehmen sie, dass der Zugang des Beschwerdeführers zu den von ihm benötigten Medikamenten keinesfalls gesichert sei und ihm auch vor dem Hintergrund seines mangelnden sozialen Netzwerks ein Eingriff in Art. 2 und 3 EMRK drohe. Zudem laufe der Beschwerdeführer in Somalia Gefahr, einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der psychisch kranken Personen ausgesetzt zu sein.
In der Stellungnahme vom 09.12.2019 bezog sich der Beschwerdeführer auf Richtigstellungen zu Missverständnissen, die von der belangten Behörde als Widersprüche in seinem Vorbringen angesehen wurden und brachte eine Verletzung der Ermittlungs- und Manuduktionspflicht durch die Behörde vor.
10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.12.2019 eine mündliche Verhandlung durch.
11. In der Stellungnahme vom 30.12.2019 brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Versorgungslage in Somalia weiterhin volatil sei. Zudem sei von einer finanziellen Unterstützung des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückkehr nicht auszugehen, es drohe eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK.
In der Stellungnahme vom 06.04.2020 betreffend die eingeholte Anfragebeantwortung vom 09.03.2019 wiederholte der Beschwerdeführer im Wesentlichen sein Vorbringen in der Stellungnahme vom 18.07.2017.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der Beschwerdeführer führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist somalischer Staatsangehöriger und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben (AS 1, AS 63, PS 6). Er ist traditionell, jedoch nicht standesamtlich verheiratet und kinderlos (AS 1; AS 5; OZ 4, S. 11; OZ 17, S. 6). Der Beschwerdeführer spricht Somali als Muttersprache und er spricht etwas Englisch (AS 1, AS 62).
Der Beschwerdeführer ist Angehöriger des Clans der Shansi, des Sub-Clans der XXXX und des Sub-Sub-Clans XXXX (AS 1, AS 63, PS 6). Dabei handelt sich um eine Minderheit. Diese ist in Somalia weder Diskriminierungen noch gezielten Eingriffen in die körperliche Integrität wegen ihrer Clanzugehörigkeit ausgesetzt.
Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt Mogadischu im Bezirk XXXX geboren (AS 63). Der Beschwerdeführer lebte zunächst mit seiner Familie bis zum Jahr 2005 im Stadtteil XXXX (OZ 4, S. 11). Danach lebte er mit seiner Familie in Mogadischu im Stadtteil XXXX . Im Jahr 2014 zog der Beschwerdeführer mit seiner Ehefrau in ein Haus im selben Stadtteil. Er hat zehn Jahre lang bis zu seiner Ausreise in Mogadischu im Bezirk XXXX gelebt (AS 63; AS 65f; OZ 4, S. 11). Der Beschwerdeführer hat ein Haus in Somalia, das nun fremde Leute bewohnen (OZ 17, S. 8).
Die Familie des Beschwerdeführers gehörte der Mittelschicht an. Sein Vater war Beamter in Somalia, hat sich aber nach dem Bürgerkrieg Ende 1990 selbstständig gemacht und kaputte Autos repariert (AS 65). Seine Mutter war zunächst Lehrerin und später Hausfrau (AS 65; OZ 17, S. 7).
Der Beschwerdeführer hat von 2000 bis 2011 in Mogadischu die Schule besucht, jedoch keinen Abschluss gemacht (AS 1; OZ 4, S. 10). Von 2011 bis 2014 war der Beschwerdeführer arbeitslos. Von 2014 bis 2015 hat er als Tuk Tuk-Fahrer gearbeitet (AS 67, OZ 17, S. 6). Er hat seit 2015 mit seinem Onkel gemeinsam als Gemüsehändler gearbeitet (OZ 17, S. 7). Bevor der Beschwerdeführer zu arbeiten begonnen hat, hat seine Familie für ihn gesorgt (OZ 17, S. 7).
Eine Schwester des Beschwerdeführers hat Somalia im Jahr 2004 verlassen und lebt jetzt in England. Eine weitere Schwester und der Bruder des Beschwerdeführers haben Somalia im Jahr 2005 verlassen und sind nach Österreich gegangen. Die Mutter des Beschwerdeführers hat Somalia im Jahr 2013 ebenfalls verlassen, um nach Österreich zu gehen (OZ 17, S. 10). Der Beschwerdeführer hat daraufhin mit einer Schwester und seinem Vater zusammengelebt, bis er mit seiner Frau in sein Haus gezogen ist (OZ 17, S. 7). Der Beschwerdeführer ist im Juni 2015 aus Somalia ausgereist (AS 7, AS 65).
Der Beschwerdeführer ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist. Er stellte am 14.08.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich (AS 1ff).
Der Vater, eine Schwester und die Frau des Beschwerdeführers leben in Addis Abeba in Äthiopien. Die Schwester, der Vater und die Frau des Beschwerdeführers leben zusammen. Diese leben vom Geld, das der Bruder des Beschwerdeführers dem Vater schickt (OZ 17, S. 9 und S. 10). Eine Schwester der Frau des Beschwerdeführers lebt in Äthiopien, ihr Onkel väterlicherseits lebt in Kenia, ihr Bruder und ihre Eltern sind verstorben (OZ 17, S. 15 und 16).
Eine weitere Schwester des Beschwerdeführers lebt in London, in England. Drei Tanten des Beschwerdeführers leben in Kenia (OZ 17, S. 9 und 11).
Der Beschwerdeführer hat sowohl zu seinen Familienangehörigen in Österreich als auch zu jenen in Äthiopien Kontakt. Er hat keine Verwandten mehr in Somalia. Er hat zu niemand in Somalia Kontakt (OZ 17, S. 9; AS 65).
Die Mutter, der Bruder und die Schwester des Beschwerdeführers leben in Österreich. Der Bruder des Beschwerdeführers ist österreichischer Staatsbürger, die Schwester ist in Österreich asylberechtigt und seine Mutter ist subsidiär schutzberechtigt. Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Mutter, seinem Bruder und dessen Ehefrau und vier minderjährigen Kindern in einem Haushalt (OZ 4, S. 10). Sein Bruder ist berufstätig und unterhaltspflichtig für seine vier minderjährigen Kinder und seine Ehefrau. Die Mutter des Beschwerdeführers bezieht Mindestsicherung und die Schwester Notstandshilfe (OZ 18, Beilagen 2 bis 5; OZ 17, S. 13).
1.1.2. Der Beschwerdeführer leidet an einem Zustand nach einer Psychose, nämlich einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Seine akustischen Halluzinationen mit imperativen Stimmen und seine paranoide Reaktionsbereitschaft haben sich unter niedrig dosierter neuroleptischer Behandlung wieder zurückgebildet. Der Beschwerdeführer befindet sich in regelmäßige psychiatrischer und medikamentöser Behandlung. Eine Fortführung der psychiatrischen und medikamentösen Behandlung in medizinisch erforderlich (OZ 8, S. 12ff).
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Fluchtvorbringen kann nicht festgestellt werden.
1.2.1. Der Beschwerdeführer und sein Onkel wurden von Mitgliedern der Al Shabaab weder mit dem Auto aufgehalten, noch in einen Wald gebracht oder dort physischer Gewalt ausgesetzt. Der Beschwerdeführer und sein Onkel wurden von der Al Shabaab nicht dazu beauftragt, eine Bombe von Afgooye nach Mogadischu zu transportieren. Der Onkel des Beschwerdeführers wurde von Al Shabaab nicht getötet, sondern liegt eine andere Ablebensursache vor. Weder der Beschwerdeführer noch seine Familienmitglieder wurden jemals telefonisch oder persönlich von der Al Shabaab bedroht oder von dieser zu einer Zusammenarbeit aufgefordert.
Der Beschwerdeführer hat Somalia weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Im Falle der Rückkehr nach Somalia drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Al Shabaab oder durch andere Personen.
1.2.2. Der Beschwerdeführer hatte in Somalia selber keine konkret und individuell gegen ihn gerichteten Probleme aufgrund seiner Clanzugehörigkeit.
1.2.3. Der Beschwerdeführer ist in Somalia aufgrund seiner psychischen Erkrankung keinen individuell und konkret gegen ihn gerichteten Eingriffen in seine physische Integrität ausgesetzt.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Der Beschwerdeführer leidet an einem Zustand nach einer Psychose, an einer Erkrankung des schizophrenen Formenkreises. Er bedarf einer Fortführung seiner nervenärztlichen und medikamentösen Behandlung. Ohne ausreichende Behandlung leidet der Beschwerdeführer an akustischen Halluzinationen sowie an paranoiden Reaktionen.
Der Beschwerdeführer hat keine Familie, keine Verwandten oder sonstige soziale Anknüpfungspunkte mehr in Somalia. Der Beschwerdeführer kann nicht auf finanzielle Unterstützung durch seine Familienangehörigen in Österreich bzw. England zurückgreifen. Auch eine gesicherte Unterkunft steht ihm in Mogadischu nicht zur Verfügung, er müsste sich daher in einem IDP Lager ansiedeln. Personen die in einem solchen Lager angesiedelt sind, sind erheblich von der Nahrungsmittelunsicherheit betroffen.
Der Arbeitsmarkt stagniert aufgrund der Covid-19-Beschränkungen weiterhin, insbesondere im Hinblick auf die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen, darunter die Binnenvertriebenen (IDPs). Bestimmte Zugangsbeschränkungen haben die Arbeitsmöglichkeiten von IDPs geschmälert. Seine psychische Erkrankung stellt für den Beschwerdeführer ein weiteres Hindernis bei der Arbeitssuche dar. Mangels bestehenden familiären Netzwerks erfährt er bei der Arbeitssuche keine Hilfe.
In Somalia spüren sowohl die Aufnahmegemeinschaften als auch die Vertriebenen, wie Migranten und Binnenvertriebene, unverhältnismäßig die Auswirkungen der Pandemie. Die Gründe dafür sind die geschwächten Strukturen zur sozialen Unterstützung, düstere sozio-ökonomische Aussichten, ungleicher Zugang zu Gesundheitsversorgung und grundlegenden sozialen Diensten, prekäre Wohnverhältnisse, dürftige Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Anfälligkeit für Falschinformation und gesellschaftliche Stigmatisierung sowie Bedrohung durch Ausbeutung und Misshandlung. Dies führt in weiterer Folge zu einem steigenden Level von Unsicherheit und Not und zur Instabilität von Personen, Familien und Gemeinschaften.
Es gibt nur eingeschränkt Bereitstellung von und Zugang zu Unterstützungsleistungen für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung. Viele Flüchtlinge und Asylwerber werden vernachlässigt, stigmatisiert und sind mit Schwierigkeiten beim Zugang zu Gesundheitsdiensten, sozialen Schutz und anderen Diensten, die für die allgemeine Bevölkerung verfügbar sind, konfrontiert
Der Beschwerdeführer ist aufgrund seiner psychischen Erkrankung besonders vulnerabel. Er ist zudem besonders durch die COVID-Pandemie, das Fehlen eines sozialen Unterstützungsnetzwerkes, der Nahrungsmittelunsicherheit, den steigenden Nahrungsmittelpreisen sowie der angespannten Situation am Arbeitsmarkt erheblich betroffen. Es ist dem Beschwerdeführer somit nicht möglich, im Falle einer Rückkehr nach Somalia, in Mogadischu wieder Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia vom 17.09.2018 (LIB),
- FFM Report Somalia, Sicherheitslage in Somalia, August 2017 (FFM),
- Focus Somalia, Clans und Minderheiten vom 31.05.2017 (Focus Somalia),
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Humanitäre Hilfe, Arbeitsmarkt, Versorgubgslage in Mogadischu, vom 11.05.2018 (Mogadischu),
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Schizophrenie, Psychiatrie vom 19.02.2020 (Psychiatrie),
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Clan Shanshi(ye) vom 09.09.2014 (Clan Shanshi)
- ACCORD Anfragebeantwortung zu Somalia: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie: Ausgangs- und Reisebeschränkungen, Versorgungslage, medizinische Versorgung, Umgang mit Erkrankten vom 07.08.2020 (COVID-19)
- Famine Early Warning Systems Network – Key Message Update aus Juli 2020 (FEWSN-J)
- Famine Early Warning Systems Network – Key Message Update aus September 2020 (FEWSN-S)
1.5.1. Politische Situation
Somalia ist faktisch zweigeteilt in die somalischen Bundesstaaten und Somaliland, einen selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird, aber als autonomer Staat mit eigener Armee und eigener Rechtsprechung funktioniert (LIB Kapitel 2)
Seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 war Süd-/Zentralsomalia immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen. Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. In vielen Bereichen handelt es sich bei Somalia um einen „indirekten Staat“, in welchem eine schwache Bundesregierung mit einer breiten Palette nicht-staatlicher Akteure (z.B. Clans, Milizen, Wirtschaftstreibende) verhandeln muss, um über beanspruchte Gebiete indirekt Einfluss ausüben zu können (LIB Kapitel 2)
Während im Norden bereits die Gliedstaaten Somaliland und Puntland etabliert waren, wurden im Rahmen eines international vermittelten Abkommens von 2013 bis 2016 die Bundesstaaten Jubaland, South West State (SWS), Galmudug und HirShabelle neu gegründet. Allerdings hat keine dieser Verwaltungen die volle Kontrolle über die ihr nominell unterstehenden Gebiete (LIB Kapitel 2).
Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clan-Balance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (LIB Kapitel 2).
1.5.2. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage bleibt instabil und unvorhersagbar. Zwar ist es im Jahr 2018 im Vergleich zu 2017 zu weniger sicherheitsrelevanten Zwischenfällen und auch zu einer geringeren Zahl an Todesopfern gekommen, doch ist die Sicherheitslage weiterhin schlecht. Sie ist vom bewaffneten Konflikt zwischen AMISOM (African Union Mission in Somalia), somalischer Armee und alliierten Kräften auf der einen und al Shabaab auf der anderen Seite geprägt. Zusätzlich kommt es in ländlichen Gebieten zu Luftschlägen. Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen. Wer sich in Somalia aufhält, muss sich der Gefährdung durch Terroranschläge, Kampfhandlungen, Piraterie sowie kriminell motivierte Gewaltakte bewusst sein. Auch der Konflikt um Ressourcen (Land, Wasser etc.) führt regelmäßig zu Gewalt (LIB Kapitel 3).
Viele Städte stehen unter der Kontrolle somalischer Armee und AMISOM sowie der Regierung, wobei diese Städte oft vom Gebiet der Als Shabaab umgeben ist (LIB Kapitel 3).
1.5.4. Mogadischu
Mogadischu bleibt weiterhin unter Kontrolle von Regierung und. Die vormals für Verbesserungen in der Sicherheitslage verantwortliche Mogadishu Stabilization Mission (MSM) wurde nunmehr deaktiviert. Ihre Aufgaben wurden mittlerweile von der wesentlich verstärkten Polizei übernommen. Letztere wird von Armee, AMISOM und Polizeikontingenten von AMISOM unterstützt (LIB Kapitel 3.1.3.).
Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Al Shabaab wieder die Kontrolle über Mogadischu erlangt. Es gibt in der Stadt auch kein Risiko mehr, von der Al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden (LIB Kapitel 3.1.3.).
Die Al Shabaab ist in der Lage in weiten Teilen des Stadtgebiets Anschläge durchzuführen. Es kommt regelmäßig zu Sprengstoffanschlägen oder aber zu gezielten Tötungen. Üblicherweise zielt die Al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Offizielle, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung, Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und –Gebäude sowie Soldaten von Armee und AMISOM. Betroffen sind Regierungseinrichtungen, Restaurants und Hotels, die von nationalen und internationalen Offiziellen frequentiert werden. Für die Zivilbevölkerung ist das größte Risiko, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein oder mit der Regierung in Verbindung zu stehen oder von Al Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen zu werden (LIB Kapitel 3.1.3.). Die Situation in Mogadischu ist nicht derartig, dass jeder Mensch in der Stadt einem Risiko eines Eingriffs in die körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt wäre
Nicht alle Teile von Mogadischu sind bezüglich Übergriffen von al Shabaab gleich unsicher. So sind z.B. jene Teile, in welche Rückkehrer siedeln (u.a. IDP-Lager) besser vor al Shabaab geschützt. IDP-Lager stellen für die Gruppe kein Ziel dar. Jedenfalls ist al Shabaab nahezu im gesamten Stadtgebiet in der Lage, verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben. Die meisten Anschläge richten sich gegen Villa Somalia, Mukarama Road, Bakara-Markt, die Flughafenstraße und Regierungseinrichtungen. Auch Dayniile ist stärker betroffen. Gebiete, die weiter als 10 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegen, werden teilweise von al Shabaab kontrolliert. Vor allem Dayniile, Yaqshiid und Heliwaa werden als unsichere Gebiete erachtet (LIB Kapitel 3.1.3.).
Es besteht kein Risiko, alleine aufgrund der eigenen Clanzugehörigkeit angegriffen zu werden. Trotzdem sind Clan und Clanzugehörigkeit in Mogadischu nach wie vor relevant (LIB Kapitel 3.1.3.).
In Mogadischu sind 28% der Bevölkerung arbeitssuchend. 6% der Jugendlichen sind arbeitssuchend (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 19). Es gibt in Mogadischu bessere Job-Aussichten als in den meisten anderen Teilen Somalias, auch für Jugendliche ohne Bildung und Arbeitserfahrung. Während in Somalia die meisten Menschen in der Landwirtschaft arbeiten, arbeiten in Mogadischu die meisten Menschen im Handel bzw. im Dienstleistungssektor oder in höheren bildungsabhängigen Berufen (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 21). Das Auswahlverfahren im Arbeitsleben basiert oft auf Clanbasis, gleichzeitig werden aber viele Arbeitsplätze an Rückkehrer aus der Diaspora vergeben. Es gibt auch Beschäftigungsmöglichkeiten, die von vielen Somaliern nicht in Anspruch genommen werden, da diese Arbeit als minderwertig erachtet wird, z.B. Friseur, Kellner oder Reinigungsarbeiten (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 22).
Die somalische Wirtschaft zeigt eine positive Entwicklung. Die Schaffung an Arbeitsplätzen bleibt jedoch unter den Bedürfnissen. Trotzdem gibt es in Mogadischu aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs zahlreiche Möglichkeiten. Das Durchschnittseinkommen für Jugendliche beträgt 190 USD im Monat. In Mogadischu beträgt das Durchschnittseinkommen 360 USD im Monat. Fast 10% der Jugendlichen in Mogadischu verdienen mehr als 400 USD im Monat (Anfragebeantwortung Mogadischu, S. 23-24).
Für Mogadischu selbst gilt die IPC-Stufe 2 (stressed); für IDP’s die IPC-Stufe 3 (crisis) (FSNAU; FEWSN-J; FEWSN-S).
Mogadischu ist über einen internationalen Flughafen sicher erreichbar (LIB Kapitel 19 und 23). Mogadischu verfügt über einige Gesundheitseinrichtungen, Spitäler und Kliniken (LIB Kapitel 22).
1.5.5. Al-Shabaab
Ziel der Al Shabaab ist es, die somalische Regierung und ihre Alliierten aus Somalia zu vertreiben und in Groß- Somalia ein islamisches Regime zu installieren. Je höher der militärische Druck auf al Shabaab anwächst, je weniger Gebiete sie effektiv kontrollieren, desto mehr verlegt sich die Gruppe auf asymmetrische Kriegsführung (Entführungen, Anschläge, Checkpoints) und auf Drohungen. Dabei ist auch die Al Shabaab in ihrer Entscheidungsfindung nicht völlig frei. Die Gruppe unterliegt durch die zahlreichen Verbindungen z.B. zu lokalen Clan-Ältesten auch gewissen Einschränkungen (LIB Kapitel 3.1.6.).
Die Al Shabaab zwangsrekrutiert in den von ihr kontrollierten Gebieten in Süd-/Zentralsomalia Kinder. Im Zeitraum Mai-August 2019 waren davon 187 Kinder betroffen. Die Gruppe führt zu diesem Zweck Razzien gegen Schulen, Madrassen und Moscheen durch. Außerdem wurden Älteste und Koranschullehrer in ländlichen Gebieten Süd-/Zentralsomalias wiederholt dazu aufgerufen, Kinder an die Gruppe abzugeben. Al Shabaab bedroht und erpresst Eltern, Gemeinden, Lehrer und Älteste, damit diese der Gruppe Schüler zuführen. Es kommt in diesem Zusammenhang auch zu Gewalt und Inhaftierungen. Eltern rekrutierter Kinder haben keine Möglichkeit Protest einzulegen, ihnen droht bei Widerstand Bestrafung oder sogar der Tod (LIB Kapitel 10.1).
(Zwangs-)Rekrutierung: Im Jahr 2017 begann al Shabaab noch intensiver, arbeitslose junge Männer zu rekrutieren. Es gibt sehr unterschiedliche Gründe, al Shabaab beizutreten: die Aussicht auf Gehalt und Status, Abenteuerlust und Rachegefühle. Jugendliche selbst geben an, dass der Hauptgrund zum Beitritt zu al Shabaab oder zur Armee das Einkommen ist. Meist erfolgt ein Beitritt zur al Shabaab aufgrund ökonomischer, sicherheitsbedingter und psychosozialer Motivation. Nur wenige der befragten Deserteure gaben an, al Shabaab aufgrund einer religiösen Motivation beigetreten zu sein; dahingegen maßen mehr als die Hälfte gesellschaftlichen Erwägungen eine besondere Rolle zu, darunter Status (inkl. Eheschließung) und Macht. Auch Abenteuerlust spielt eine große Rolle. Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans. Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern. Die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet. Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen oft um eine Mischung aus Druck und Anreizen (LIB Kapitel 10.1).
Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle der al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch die al Shabaab (LIB Kapitel 10.1).
Verweigerung: Üblicherweise richtet die al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens. Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus der al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (LIB Kapitel 10.1).
Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat. Stellt eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen der al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt – so etwa geschehen in Aad (Mudug) und Bananey (Lower Shabelle) (LIB Kapitel 10.1).
1.5.6. Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates:
Im somalischen Kulturraum existieren drei Rechtsquellen: traditionelles Recht (Xeer), islamisches Schariarecht (v.a. für familiäre Angelegenheiten) sowie formelles Recht. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung. Staatlicher Schutz ist in Gebieten der al Shabaab nicht verfügbar. Der Clan-Schutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten (LIB Kapitel 4).
1.5.7. Clanstruktur
In Somalia ist die Bevölkerung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans zersplittert, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeits-empfinden bestimmt. Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (LIB Kapitel 17.1.).
Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalier. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Dieses Identifikationsmerkmal bestimmt, welche Position eine Person oder Gruppe im politischen Diskurs oder auch in bewaffneten Auseinandersetzungen einnimmt. Darum kennen Somalier üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem. Allerdings gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LIB Kapitel 17.1). In Mogadischu und anderen großen Städten ist es daher nicht automatisch nachvollziehbar, welchem Clan eine Person angehört. Die (Clan-)Zusammensetzung der Bevölkerung von Mogadischu ist sehr heterogen. Dort können sich Angehörige jedes Clans niederlassen (LIB Kapitel 19).
Als "noble" Clanfamilien gelten die traditionell nomadischen Hawiye, Darod, Dir und Isaaq sowie die sesshaften Digil und Mirifle/Rahanweyn. Es ist nicht möglich, die genauen Zahlenverhältnisse der einzelnen Clans anzugeben. Hawiye, Darod, Isaaq und Digil/Mirifle stellen wohl je 20-25% der Gesamtbevölkerung, die Dir deutlich weniger. Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen mit nichtsomalischer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben (LIB Kapitel 17.1).
Die Clanfamilien unterteilen sich weiter in die Ebenen der Clans, Sub(sub)clans, Lineages und die aus gesellschaftlicher Sicht bei den nomadischen Clans wichtigste Ebene, die sogenannte Mag/Diya (Blutgeld/Kompensation) zahlenden Gruppe (Jilib), die für Vergehen Einzelner gegen das traditionelle Gesetz (xeer) Verantwortung übernimmt (Focus, S. 8 f; LIB Kapitel 4).
Clanschutz bedeutet für eine Einzelperson die Möglichkeit vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Ein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Kompensation zu zahlen - oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind - insbesondere bei Kompensations-zahlungen (Mag/Diya). Generell - aber nicht überall - funktioniert Clanschutz besser als der Schutz durch Staat oder Polizei. Dementsprechend wenden sich viele Menschen bei Gewaltverbrechen eher an den Clan als an die Polizei. (LIB Kapitel 4).
Benadiri – Shanshi:
Der Sub-Clan der Shanshiye (je nach Quelle auch Shanshiyo oder Shanshiya) gehören zum Clan der Benadir(i), der wiederum zum Clan der Reer Hamar gehört. Die Bezeichnung „Shanshi“ – oder auch „(al-)Shashy“, was so viel bedeutet wie „aus Shash“ – ist eine andere Bezeichnung für „Shanshiye“. Im Clan der Reer Hamar gibt es hell- und dunkelhäutige Gruppen, wobei die Shanshiye aufgrund ihrer arabischen Abstammung als hellhäutig gelten. Vor dem Krieg 1991 haben die Shanshiye vor allem in den Küstengebieten gelebt, insbesondere in Mogadischu und Merca, aber auch in Brava (Shanshi, S.1 ff).
Die meisten ethnischen Minderheiten stammen von Einwanderern aus Ost- und Zentralafrika oder von der Arabischen Halbinsel ab. Manche unter ihnen lebten bereits vor der Ankunft der Somali im Gebiet des heutigen Somalia.35 Es gibt keine zuverlässigen Angaben über ihre Anzahl. Schätzungen bewegen sich im Bereich zwischen 6 % und einem Drittel der Bevölkerung Somalias. Sie betrachten sich selbst häufig nicht als Clans, sind aber in das Clansystem integriert. Einige der ethnischen Minderheiten sind mit Mehrheitsclans assoziiert, alliiert oder sehen sich sogar als Teil von ihnen.
Die wichtigsten ethnischen Minderheiten sind die Bantu, Benadiri und Bajuni.
Benadiri ist ein Dachbegriff für verschiedene voneinander unabhängige urbane Minderheiten, die in den Küstenstädten des Südens leben (z.B. Mogadischu, Merka, Baraawe) und sich traditionell im Handel betätigen. Sie haben eine gemischte Abstammung aus Somalia, Arabien, Persien, Indien und Portugal. Vor 1991 hatten sie einen privilegierten Status. Ohne bewaffnete Miliz waren sie im Bürgerkrieg aber schutzlos. Heute werden Benadiri gemeinhin als Händler respektiert. Im Gegensatz zu den Bantu kommt ihnen kein geringerer Status zu, Mischehen sind kein Problem. Viele von ihnen sind relativ wohlhabend, befinden sich in relevanten Positionen und sind in der Lage, Schutz zuzukaufen. Einigen von ihnen ist es gelungen, Positionen in der Verwaltung zu besetzen. Vielen Reer Xamar (Teil der Benadiri) ist es gelungen, ihre vormaligen Immobilien im Bezirk Xamar Weyne (Mogadischu) durch Zahlungen zurückzuerhalten. Dort stellen sie auch die Bevölkerungsmehrheit (Focus Somalia).
1.5.8. Grundversorgung:
Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. Zugang zu Bildung und Arbeit stellt in vielen Gebieten eine Herausforderung dar, wohingegen der tertiäre Bildungsbereich in Mogadischu boomt. Aufgrund des Fehlens eines formellen Banksystems ist die Schulden-Kredit-Beziehung (debt-credit relationship) ein wichtiges Merkmal der somalischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei spielen Vertrauen, persönliche und Clan-Verbindungen eine wichtige Rolle – und natürlich auch der ökonomische Hintergrund. Es ist durchaus üblich, dass Kleinhändler und Greissler anschreiben lassen (LIB Kapitel 21.1).
Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8%). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1%). 6,9% arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8% als Handwerker, 4,7% als Techniker, 4,1% als Hilfsarbeiter und 2,3% als Manager (LIB Kapitel 21.1).
Die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge, Rückkehrer und andere vulnerable Personengruppen sind limitiert. Eine Arbeit zu finden ist mitunter schwierig, verfügbare Jobs werden vor allem über Clan-Netzwerke vergeben. Generell ist das Clan-Netzwerk vor allem außerhalb von Mogadischu von besonderer Relevanz (LIB Kapitel 21.1).
Seitens der Regierung gibt es für Arbeitslose keinerlei Unterstützung. Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z.B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus. Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie) (LIB Kapitel 21.1).
Frauen stoßen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vor – etwa bei Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei. Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben. In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43% der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener (LIB Kapitel 21.1).
Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z.B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i.d.R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z.B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80%-90% des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft. Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin oder aber auch auf. Für Frauen gibt es auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z.B. können sie nicht Taxifahrer werden (LIB Kapitel 21.1).
Für viele Haushalte sind Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle. Diese Remissen, die bis zu 40% eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei und fördern die Resilienz der Haushalte (LIB Kapitel 21.1).
1.5.9. Aktuelle Grundversorgungslage (Nahrungsmittelversorgung, Dürre, Überflutung)
Die unterdurchschnittliche gu-Ernte ab Juli, die Vorhersage unterdurchschnittlicher Deyr-Regenfälle von Oktober bis Dezember und die anhaltende Bedrohung durch Wüstenheuschrecken diktieren einen negativen Ausblick für die Pflanzen- und Tierproduktion. Aufgrund der internationalen und lokalen COVID-19-Bewegungsbeschränkungen führen die damit verbundenen Rückgänge der Geschäftstätigkeit, der Auslandsüberweisungen, der jährlichen Viehexporte und der Investitionen zu einem wirtschaftlichen Rückgang (FEWSN-J).
Es wird erwartet, dass die Bevölkerung in akuter Nahrungsmittelunsicherheit zwischen Oktober 2020 und Januar 2021 zunehmen wird, was durch eine weitverbreitete Verschlechterung bis zur Krise (IPC-Phase 3) und eine Zunahme der Bevölkerung in Notfällen (IPC-Phase 4) gekennzeichnet ist.
Am meisten betroffen sind IDPs und marginalisierte Gruppen. Der humanitäre Bedarf ist nach wie vor hoch, Millionen von Menschen befinden sich in einer Situation akuter Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung. In Nord- und Zentralsomalia herrschen durchgehend moderate bis große Lücken in der Versorgung. Dort wird für August/September 2019 in einigen Teilen mit IPC 3 und IPC 4 gerechnet. Das gleiche gilt für den Süden, wo aufgrund einer unterdurchschnittlichen Ernte die Lebensmittelpreise steigen werden (LIB Kapitel 21.2).
Für Mogadischu gilt die IPC-Stufe 2 (stressed); für IDP’s die IPC-Stufe 3 (crisis) (FEWSN-J, FEWSN-S).
1.5.10. Binnenflüchtlinge (IDPs)
IDPs gehören in Somalia zu den am meisten gefährdeten Personengruppen. Diese sind besonders benachteiligt, da sie kaum Schutz genießen und Ausbeutung, Misshandlung und Marginalisierung ausgesetzt sind. Ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nichtstaatlichen – aber auch staatlichen – Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkungen und Diskriminierung aufgrund von Clan-Zugehörigkeiten sind an der Tagesordnung; es kommt auch zu willkürlichen Tötungen, Vertreibungen und sexueller Gewalt. Für Vergewaltigungen sind bewaffnete Männer - darunter Regierungssoldaten und Milizionäre - verantwortlich. Weibliche IDPs sind hinsichtlich einer Vergewaltigung besonders gefährdet (LIB Kapitel 20).
IDPs sind über die Maßen von der Dürre und daher von Unterernährung betroffen (LIB Kapitel 20 und 21.2). Für sie ist es charakteristisch, dass sie humanitäre Unterstützung erhalten. Sie stellen etwa 20% der Bevölkerung von Mogadischu. Diese Gruppen profitieren nur zu einem äußerst geringen Anteil von Remissen. Die Männer dieser Bevölkerungsgruppen arbeiten oft im Transportwesen, am Hafen und als Bauarbeiter; Frauen arbeiten als Hausangestellte. Eine weitere Einkommensquelle dieser Gruppen ist der Kleinhandel – v.a. mit landwirtschaftlichen Produkten. Zusätzlich erhalten sie Nahrungsmittelhilfe und andere Leistungen über wohltätige Organisationen (LIB 21.1).
1.5.11. Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die öffentlichen Krankenhäuser sind mangelhaft ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Der Standard von Spitälern außerhalb Mogadischus ist erheblich schlechter. In Mogadischu gibt es mindestens zwei Spitäler, die für jedermann zugänglich sind (LIB Kapitel 22).
Die Primärversorgung wird oftmals von internationalen Organisationen bereitgestellt und ist für Patienten kostenfrei. Allerdings muss manchmal für Medikamente bezahlt werden. Private Einrichtungen, die spezielle Leistungen anbieten, sind sehr teuer. Medikamente, die Kindern oder ans Bett gebundenen Patienten verabreicht werden, sind kostenlos (LIB Kapitel 22).
Es gibt nur fünf bei der WHO registrierte Zentren zur Betreuung psychischer Erkrankungen und nur drei Psychiater in Somalia. Diese befinden sich in Berbera, Bossaso, Garoowe, Hargeysa und Mogadischu. Insgesamt gibt es in ganz Somalia nur eine Handvoll adäquat ausgebildeter Psychiater und Psychologen. Es gibt in Mogadischu nur wenige Institutionen zur Behandlung psychisch Kranker. Häufig erwähnt wird das von der Habeb Mental Health Foundation betriebene Spital. Dort wird u.au.a. Schizophrenie stationär behandelt. Von der Regierung gibt es so gut wie keine Unterstützung für diese Einrichtungen, sie sind von Spenden abhängig. (LIB Kapitel 22; Anfragebeantwortung Psychiatrie).
Grundlegende Medikamente sind verfügbar, darunter solche gegen die am meisten üblichen Krankheiten sowie jene zur Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck, Epilepsie und von Geschwüren. Auch Schmerzstiller sind verfügbar. Medikamente können ohne Verschreibung gekauft werden. Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt in erster Linie über private Apotheken. Für Apotheken gibt es keinerlei Aufsicht. Die Versorgung mit Medikamenten liegt in der Hand privater Apotheken. Diese arbeiten ohne jegliche Regulierung oder Kontrolle. Das Fehlen essentieller psychotroper Medikamente bereitet Probleme. Das Preisniveau für Antidepressiva und Antipsychotika ist relativ hoch (LIB Kapitel 22, Anfragebeantwortung Psychiatrie).
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Medikamente Zyprexa (10mg) oder Aripiprazol (10 mg) oder vergleichbare Medikamente in Somalia erhältlich sind (Psychiatrie).
Psychische Probleme führen in Somalia oft zu Stigmatisierung und Diskriminierung. Psychisch Kranken haftet meist ein mit Diskriminierung verbundenes Stigma an. Nach wie vor ist das Anketten psychisch Kranker eine weit verbreitete Praxis (LIB Kapitel 22).
1.5.12. Bewegungsfreiheit
Reisende sind durch die zahlreichen, von unterschiedlichen Gruppen betriebenen Straßensperren einer Gefahr ausgesetzt. Neben den Straßensperren kann auch das Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen ein Risiko darstellen. Viele der Hauptstraßen werden nur teilweise von AMISOM und Armee kontrolliert. Trotzdem bereisen Zivilisten und Wirtschaftstreibende tagtäglich die Überlandverbindungen. Bei Reisen von Gebieten der Regierung in jene von al Shabaab besteht das Risiko, von beiden Seiten der Kollaboration verdächtigt zu werden (LIB Kapitel 19).
In ganz Süd-/Zentralsomalia gibt es Straßensperren (Checkpoints), an welchen Fahrzeuge aufgehalten und Personen kontrolliert werden. Prinzipiell geht es an einer Straßensperre um die Einhebung von Wegzoll, wobei die Höhe des Zolls mitunter willkürlich ist. Es gibt permanente und ad hoc Straßensperren, betrieben von Sicherheitskräften, al Shabaab oder Clan-Milizen (LIB Kapitel 19).
Es ist weder Ziel von al Shabaab, Menschen am Reisen zu hindern, noch sind Reisende selbst ein Ziel. Straßensperren zielen in erster Linie auf die Einhebung von Steuern ab und in zweiter Linie darauf, Spione zu identifizieren. Alleine die Tatsache, dass jemand in einem westlichen Land gewesen ist, stellt im Kontext mit Al Shabaab an solchen Straßensperren kein Problem dar. Allerdings ruft westliches Verhalten oder westliche Kleidungsart Sanktionen hervor. Zu befürchten haben an Straßensperren der Al Shabaab jene Personen etwas, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Sie befinden sich in Lebensgefahr. Dies gilt insbesondere an Straßensperren in jenen Gebieten, die nicht vollständig unter Kontrolle von al Shabaab stehen. Dort dürfen Spione standrechtlich – ohne Verfahren – exekutiert werden. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab werden Verdächtige i.d.R. verhaftet und vor Gericht gestellt. Außerdem kann es Personen treffen, die von Al Shabaab – etwa wegen des Mitführens von bestimmten Objekten (Smartphones, Regierungsdokumente, Symbole, die mit der Regierung assoziiert werden etc.) – als mit der Regierung in Zusammenhang stehend oder als Spione verdächtigt werden. Auch Reisende, die im Gebiet der Reisebewegung weder über Familien- noch Clan-Verbindungen verfügen, können von al Shabaab unter Umständen als Spione verdächtigt werden (außer sie haben einen Bürgen). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Reiseziel der Person im von der al Shabaab kontrollierten Gebiet lieg (LIB Kapitel 19).
Es ist nicht ungewöhnlich, alleine reisende ältere Frauen anzutreffen. Dahingegen wird vermieden, jüngere Frauen ohne Begleitung auf Reisen zu schicken – v.a. aufgrund der Gefahr sexueller Gewalt. Für Frauen gibt es nämlich ein erhöhtes Risiko, an Straßensperren sexueller Gewalt ausgesetzt zu werden. Dabei spielt die Clanzugehörigkeit kaum eine Rolle, denn im Transit ist der Schutz des Clans oft wirkungslos (LIB Kapitel 19).
In Mogadischu gibt es keine Probleme bei der Bewegungsfreiheit (LIB Kapitel 19).
1.5.13. Rückkehrer
Schon nach den Jahren 2011 und 2012 hat die Zahl der aus der Diaspora nach Süd-/Zentralsomalia zurückkehrenden Menschen stark zugenommen. Viele lokale Angestellte internationaler NGOs oder Organisationen sind aus der Diaspora zurückgekehrte Somali. Andere kommen nach Somalia auf Urlaub oder eröffnen ein Geschäft. Im Jahr 2017 sind 245 Personen aus der EU und anderen europäischen Staaten nach Somalia zurückgebracht worden. Im ersten Halbjahr 2018 waren es 208. Bis Juli 2019 sind insgesamt 90.058 Somalis über AVR-Programme des UNHCR zurückgeführt worden, mehrheitlich aus Kenia, aber auch aus Dschibuti, Libyen und dem Jemen (LIB Kapitel 23).
Rückkehrer werden nicht von somalischen Behörden misshandelt. Mit technischer und finanzieller Unterstützung haben sich verschiedene westliche Länder über die letzten Jahre hinweg für die Schaffung und anschließende Professionalisierung eines speziell für Rückführung zuständigen Returnee Management Offices (RMO) innerhalb des Immigration and Naturalization Directorates (IND) eingesetzt. Staatliche Repressionen sind nicht die Hauptsorge der Rückkehrer. Rückkehrer werden vom RMO/IND grundsätzlich mit Respekt behandelt. Am Flughafen kann es zu einer Befragung von Rückkehrern durch das RMO hinsichtlich Identität, Nationalität, Familienbezügen sowie zum gewünschten zukünftigen Aufenthaltsort kommen. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für unbegleitete Minderjährige und andere Rückkehrer (LIB Kapitel 23).
Der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] ist unter anderem dafür verantwortlich, Mitglieder in schwierigen finanziellen Situationen zu unterstützen. Das traditionelle Recht (Xeer) bildet hier ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie). Eine erfolgreiche Rückkehr und Reintegration kann in erheblichem Maße von der Clanzugehörigkeit bzw. von lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person abhängig sein. Für Rückkehrer ohne Netzwerk oder Geld gestaltet sich die Situation schwierig. Ein Netzwerk ist z.B. hinsichtlich Arbeitssuche wichtig (LIB Kapitel 21.3).
Rückkehrer nach Mogadischu haben dort einen guten Zugang zu Geld- oder sonstiger Hilfe von Hilfsagenturen. Hinzu kommen Remissen von Verwandten im Ausland. Hingegen erhalten IDPs vergleichsweise weniger Remissen (LIB Kapitel 21.3).
Die Zurverfügungstellung von Unterkunft und Arbeit ist bei der Rückkehrunterstützung nicht inbegriffen und wird von den Rückkehrern selbst in die Hand genommen. Diesbezüglich auftretende Probleme können durch ein vorhandenes Netzwerk abgefedert werden. Es gibt keine eigenen Lager für Rückkehrer, daher siedeln sich manche von ihnen in IDP-Lagern an (LIB Kapitel 21.3).
Prinzipiell gestaltet sich die Rückkehr für Frauen schwieriger als für Männer. Eine Rückkehrerin ist auf die Unterstützung eines Netzwerks angewiesen, das in der Regel enge Familienangehörige – geführt von einem männlichen Verwandten – umfasst. Für alleinstehende Frauen ist es mitunter schwierig, eine Unterkunft zu mieten oder zu kaufen (LIB Kapitel 21.3).
Allein die Tatsache, dass eine Person nach Somalia zurückkehrt, macht diese nicht zum Ziel - auch nicht für die Al Shabaab. Rückkehrern in Gebiete der Al Shabaab könnte vorgeworfen werden, als Spione zu dienen. Ob ein Rückkehrer zum Ziel der Al Shabaab wird, hängt maßgeblich von seinem eigenen Verhalten ab. Alleine die Tatsache, dass eine Person aus dem Westen zurückgekehrt ist, spielt bei einer Rückkehr in das Gebiet der Al Shabaab keine Rolle. Viel wichtiger sind die Zugehörigkeit zu Familie und Clan und die Beziehungen dieser beiden Entitäten zur Al Shabaab. Al Shabaab richtet sich nicht gegen Rückkehrertransporte oder –Lager (LIB Kapitel 23).
1.5.14. Zur aktuellen Covid-19-Pandemie:
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es mit Stand 06.09.2020, 15:00 Uhr, 29.135 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen und 736 Todesfälle (https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Neuartiges-Coronavirus-(2019-nCov).html); in Somalia wurden mit Stand vom 21.07.2020 3.332 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 98 diesbezügliche Todesfälle bestätigt wurden (https://covid19.who.int/region/emro/country/so).
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf.
Somalia hat am 15. März 2020 die Einreise von Passagieren verboten, die sich in den vorangegangenen 14 Tagen in China, Iran, Italien oder Südkorea aufgehalten hätten. Am 18. März 2020 hat die Regierung Flugbeschränkungen für zunächst 15 Tage umgesetzt. Ausreise und Einreise entlang der Küste sind ebenso beschränkt worden. Am 28. März 2020 ist das Verbot internationaler Flüge ausgeweitet worden. Für Transportflüge mit Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern ist 24 Stunden vor Abflug eine besondere Erlaubnis nötig. Lastwägen dürfen nur einreisen, wenn sie Nahrungsmittel oder medizinische Güter transportieren. Bereits am 29. März hat Somalia Inlandsflüge ausgesetzt. Am 6. April 2020 ist das Verbot internationaler Flüge um weitere 30 Tage verlängert worden. Am 10. April 2020 haben die lokalen Behörden in Gedo nach Verordnungen der Regierung die Grenzübergänge zu Kenia und Äthiopien bis auf Weiteres geschlossen. Die Grenzübergänge in El Wak und Bila Hawo sowie in Doolow sind geschlossen worden (COVID-19).
Die somalische Regierung hat im April 2020 in Mogadischu eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Ab 15. April 2020 ist die Ausgangssperre zwischen 20 Uhr abends und fünf Uhr morgens gültig. Die Ausgangssperre betrifft den Verkehr und Geschäfte. Krankenhäuser, Apotheken und Geschäfte, die Nahrungsmittel („dry foods“) verkaufen, sind nicht davon betroffen (COVID-19).
50 der 67 Covid-19-Regelungen, die seit 16. März 2020 verkündet wurden, sind mit Stand 22. Juli 2020 weiterhin in Kraft. Am 5. Juli 2020 sind Inlandsflüge in Somalia wiederaufgenommen worden, nachdem sie am 18. März 2020 ausgesetzt wurden. Moscheen und religiöse Zentren haben ihre Tätigkeiten wieder voll aufgenommen, nachdem die Schließungsmaßnahmen jedoch nie gänzlich umgesetzt worden sind. Einige Bundesstaaten haben teilweise Schulen wieder geöffnet. Es wird erwartet, dass am 1. August 2020 alle Schulen wieder geöffnet werden (COVID-19).
Die Handelstage an der äthiopisch-somalischen Grenze wurden von zwei Tagen auf einen Tag verringert. Im Distrikt Belet Xaawo in der Region Gedo ist der grenzübergreifende Handel zwischen Äthiopien und Somalia weiterhin eingestellt. Diese Einschränkungen haben zu steigenden Nahrungsmittelpreisen in den Distrikten Luuq, Doolow und Belet Xaawo für unter anderem Kartoffeln und Tomaten geführt. In Galmudug und Somaliland ist der grenzüberschreitende Handel mit Äthiopien aktiv. Der Handel über alle anderen Grenzen ist aktiv (COVID-19).
Nach einer viereinhalbmonatigen Unterbrechung wurden am 3. August 2020 internationale Flüge in Somalia wiederaufgenommen. Somalische Inlandsflüge sind am 5. Juli wiederaufgenommen worden. Die somalische Regierung hat zudem mit 15. August die Wiedereröffnung von Schulen und Universitäten angeordnet (COVID-19).
In Somalia spüren sowohl die Aufnahmegemeinschaften als auch die Vertriebenen, wie MigrantInnen und Binnenvertriebene, unverhältnismäßig die Auswirkungen der Pandemie. Die Gründe dafür sind die geschwächten Strukturen zur sozialen Unterstützung, düstere sozio-ökonomische Aussichten, ungleicher Zugang zu Gesundheitsversorgung und grundlegenden sozialen Diensten, prekäre Wohnverhältnisse, dürftige Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Anfälligkeit für Falschinformation und gesellschaftliche Stigmatisierung, Bedrohung durch Ausbeutung und Misshandlung. Dies führt in weiterer Folge zu einem steigenden Level von Unsicherheit und Not und zur Instabilität von Personen, Familien und Gemeinschaften. Es gibt nur eingeschränkt Bereitstellung von und Zugang zu Unterstützungsleistungen für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung. Durch Falschinformationen hervorgerufene gesellschaftliche Stigmatisierung kann möglicherweise Auswirkungen auf gefährdete Gruppen wie MigrantInnen, vertriebene Gemeinschaften und zuvor von Covid-19 betroffene Personen haben (COVID-19).
Der Großteil der Flüchtlinge, Asylwerber und Rückkehrer lebt in armen städtischen Gebieten mit eingeschränkten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, schlechter Wasser- und Sanitärversorgung, unangemessenen Unterkünften sowie eingeschränkten sozialen Sicherungssystemen und ist mit bestimmten Hindernissen und Gefährdungen konfrontiert, die aufgrund der Covid-19-Lage ihre Vulnerabilität erhöhen würden (darunter auch genderbasierte Gewalt). Viele Flüchtlinge und Asylwerber werden vernachlässigt, stigmatisiert und sind mit Schwierigkeiten beim Zugang zu Gesundheitsdiensten, sozialen Schutz und anderen Diensten, die für die allgemeine Bevölkerung verfügbar sind, konfrontiert (COVID-19).
Die Kapazitäten der IDP-Lager sind erschöpft und viele vertriebene Familien daher gezwungen, informell auf privatem Land zu wohnen, wo sie ständig von Zwangsräumungen betroffen sind. Sowohl städtische als auch weiter abseits gelegene Binnenvertriebenenlager sind aufgrund von Überbelegung und engen Lebensverhältnissen weiterhin von Covid-19-Übertragung bedroht (COVID-19).
Die Kapazität Somalias, eine globale Gesundheitsbedrohung zu verhindern, zu erkennen und darauf zu reagieren, ist im Jahr 2016 mittels des Health Emergency Preparedness Index mit sechs von 100 bewertet worden. Auf 100.000 Personen kommen zwei MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen, im Vergleich zum globalen Standard von 25 pro 100.000 Personen. Krankheitsausbrüche wie der seit Dezember 2017 andauernde Choleraausbruch belasten die Gesundheitssysteme des Landes. Weniger als 20 Prozent der eingeschränkt vorhandenen Gesundheitseinrichtungen verfügen über die notwendige Ausrüstung und Vorräte, um auf Epidemien zu reagieren (COVID-19).
Der Zugang zu Gesundheitsversorgung ist eingeschränkt und es gibt in den IDP-Lagern keine Covid-19-Testeinrichtungen. Aufgrund der nächtlichen Ausgangssperren und weiterer Einschränkungen sind die Gesundheitsdienste in bedeutendem Ausmaß aufgrund fehlender Finanzierung, Bewegungseinschränkungen und Maßnahmen zur Vermeidung von Gedränge in Gesundheitseinrichtungen heruntergefahren worden (COVID-19).
Bewegungseinschränkungen und weitere in Verbindung mit Covid-19 stehende Regierungsverordnungen, Unterbrechung von Importen und lokalen Versorgungsketten und Herausforderungen beim Zugang aufgrund von Überflutungen haben Auswirkungen auf die Verfügbarkeit grundlegender Güter und haben zu steigenden Preisen geführt. Trotz der Aussetzung der Steuern auf grundlegende Güter durch die somalische Bundesregierung zwischen April und Juni 2020, um einen möglichen Nahrungsmittelmangel sowie einen Preisanstieg zu entschärfen, hat sich die K