TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/29 W192 2234796-1

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Veröffentlicht am 29.10.2020
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Entscheidungsdatum

29.10.2020

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §67
FPG §70

Spruch

W192 2234796-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Serbien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.07.2020, Zahl: 465154400-190169686, zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird gemäß §§ 67, 70 FPG i.d.g.F stattgegeben und der angefochtene Bescheid wird ersatzlos aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Die Beschwerdeführerin, eine volljährige Staatsangehörige Serbiens, ist seit 05.10.2017 Inhaberin einer Aufenthaltskarte als Angehörige eines EWR-Bürgers, welche ihr unter Berufung auf eine im September 2017 geschlossene Ehe mit einem bulgarischen Staatsbürger erteilt worden war.

Einem Bericht der Landespolizeidirektion Wien vom 10.08.2018 lässt sich entnehmen, dass im Zuge von über Ersuchen der MA 35 durchgeführten Erhebungen betreffend eine mögliche Aufenthaltsehe der Ex-Schwiegermutter der Beschwerdeführerin bei einer Wohnsitzüberprüfung die (an der gleichen Anschrift gemeldete) Beschwerdeführerin angetroffen worden sei, welche angegeben hätte, seit dem 02.09.2017 mit einem bulgarischen Staatsbürger verheiratet zu sein und aus erster Ehe zwei minderjährige Kinder zu haben. Laut Ausführungen im Polizeibericht sei es im serbischen Kulturkreis als ausgeschlossen zu betrachten, dass die Ex-Schwiegermutter ihre Ex-Schwiegertochter mit ihrem neuen Mann in ihrer Wohnung Unterkunft nehmen ließe, sodass der Verdacht bestehe, dass es sich auch bei der zwischen der Beschwerdeführerin und dem bulgarischen Staatsangehörigen geschlossenen Ehe um eine Aufenthaltsehe handeln würde, um irgendwann die gesamte Familie in Österreich zu vereinen.

Einem weiteren Bericht der Landespolizeidirektion Wien vom 29.01.2018 lässt sich entnehmen, dass aus dortiger Sicht anzuzweifeln sei, ob der bulgarische Ehegatte der Beschwerdeführerin in Österreich je erwerbstätig gewesen sei und vielmehr der Verdacht bestehe, dass dieser seine Freizügigkeit als EU-Bürger nur „vorgetäuscht“ hätte, um der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat die Beschwerdeführerin und ihren Ehemann sodann für den 05.06.2019 und den 05.09.2019 geladen, wobei die anberaumten Einvernahmen jeweils nicht stattfanden, da sich der Ehemann der Beschwerdeführerin laut Auskunft in Bulgarien befunden habe.

Mit Schreiben vom 13.11.2019 informierte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Beschwerdeführerin im Wege ihres bevollmächtigten Vertreters über die beabsichtigte Erlassung „einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot“ wegen Vorliegens einer Aufenthaltsehe und gewährte ihr die Möglichkeit, hierzu sowie zu näher angeführten Fragen zu ihren persönlichen Verhältnissen und dem Zustandekommen ihrer Ehe, binnen Frist eine Stellungnahme einzubringen.

Eine Stellungnahme langte nicht ein.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.07.2020 wurde gegen die Beschwerdeführerin gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 70 Abs. 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit der Entscheidung erteilt (Spruchpunkt II.).

In der Entscheidungsbegründung wurde ausgeführt, bei der Beschwerdeführerin handle es sich um eine serbische Staatsangehörige, welche sich laut Aktenlage seit dem 18.05.2017 durchgehend im Bundesgebiet aufhalte und aufgrund der Heirat eines bulgarischen Staatsbürgers einen bis 05.10.2022 gültigen Aufenthaltstitel erhalten hätte. Die Beschwerdeführerin sei verheiratet und sorgepflichtig für zwei in Österreich lebende Kinder, welche ebenfalls im Besitz eines Aufenthaltstitels wären. Der Aufenthaltsort des Gatten der Beschwerdeführerin sei nicht bekannt; er habe in der gemeinsamen Wohnung niemals angetroffen werden können und habe bei Vorladungen stets angegeben, sich in Bulgarien aufzuhalten. Es sei nicht bekannt, ob die Beschwerdeführerin in Österreich einer Beschäftigung nachginge oder Versicherungsschutz aufweise, da sie hierzu keine Angaben getätigt hätte. Aufgrund der Ehe gelte sie als begünstigte Drittstaatsangehörige.

Zur Begründung des Aufenthaltsverbots wurde ausgeführt, im Jahr 2018 seien Erhebungen bezüglich der Ehe der Beschwerdeführerin geführt worden und es habe festgestellt werden können, dass sich deren Gatte ständig in Bulgarien aufhielte. Aufgrund der Ehe seien der Beschwerdeführerin und ihren Kindern Aufenthaltstitel erteilt worden. Die Beschwerdeführerin habe die Ehe offensichtlich mit dem Zweck geschlossen, einen Aufenthaltstitel und freien Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten und sie sei offensichtlich nicht gewillt, sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten. Ihr persönliches Verhalten stelle zweifelsfrei eine Gefährdung des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und des sozialen Friedens dar. Die Beschwerdeführerin führe mit ihrem Gatten kein gemeinsames Familienleben und lebe mit ihren Kindern in Österreich. Diese weise keine außerordentlichen integrativen Leistungen vor und es sei keine positive Zukunftsprognose zu erkennen. Die Beschwerdeführerin sei strafgerichtlich unbescholten. Diese habe die Ehe mit einem bulgarischen Staatsbürger zu dem Zweck geschlossen, sich einen Aufenthaltstitel und freien Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen. Der Unrechtsgehalt der „Straftat“ überwiege bei weitem das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung und die privaten Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet. Die Beschwerdeführerin habe sich aus eigenen Stücken und im vollen Bewusstsein dazu entschlossen, „oben angeführtes Verbrechen auszuführen.“ Bezüglich der familiären Verhältnisse der Beschwerdeführerin sei nichts bekannt; es sei lediglich bekannt, dass diese mit ihren Kindern bei der Mutter ihres ehemaligen Gatten wohne. Es sei davon auszugehen, dass ein Aufenthaltsverbot in der ausgesprochenen Dauer notwendig sei, um einen Gesinnungswandel bei der Beschwerdeführerin zu bewirken.

3. Gegen den dargestellten Bescheid richtet sich die am 01.09.2020 durch den bevollmächtigten Vertreter der Beschwerdeführerin fristgerecht eingebrachte Beschwerde, zu deren Begründung ausgeführt wurde, dem bekämpften Bescheid sei lediglich zu entnehmen, dass die Behörde von einer Aufenthaltsehe ausginge. Beweiswürdigende Überlegungen, außer der Feststellung, dass der Ehegatte nicht zur Befragung erschienen sei, seien dem Bescheid nicht zu entnehmen. Eine Einvernahme der Ehegatten sei bis dato nicht durchgeführt worden. Der Ehegatte befinde sich oft in Bulgarien und habe daher der Ladung für den 05.06.2019 nicht Folge leisten können, sodass ein anderer Termin vereinbart worden sei. Im Bescheid werde angemerkt, dass zu diesem beide Ehegatten unentschuldigt nicht erschienen seien. Dem sei entgegenzuhalten, dass dem BFA bei einer persönlichen Vorsprache am 03.09.2019 von einer Mitarbeiterin des rechtsfreundlichen Vertreters mitgeteilt worden sei, dass sich der Ehegatte zu dieser Zeit in Bulgarien befinde. Da eine Einvernahme der Beschwerdeführerin ohne ihren Gatten laut zuständigem Beamten nicht zielführend gewesen wäre, sei von diesem entschieden worden, die Einvernahme am 05.09.2019 doch nicht durchzuführen. Die Durchführung einer Einvernahme hätte zur Feststellung geführt, dass die Ehegatten die Wohnung gemeinsam bewohnen und dort ein tatsächliches Familienleben führen würden. Der maßgebliche Sachverhalt sei daher ungeklärt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige Serbiens und führt die im Spruch angeführten Personalien. Die Beschwerdeführerin hat im September 2017 die Ehe mit einem bulgarischen Staatsbürger geschlossen, welcher seit 21.09.2017 Inhaber einer Anmeldebescheinigung (Arbeitnehmer) und seit dem 05.09.2017 durchgehend mit einem Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet ist.

Am 21.09.2017 stellte die Beschwerdeführerin einen Erstantrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte als Angehörige eines EWR-Bürgers. Am 05.10.2017 wurde der Beschwerdeführerin der beantragte Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeit bis zum 05.10.2022 ausgestellt. Seit dem 14.09.2017 ist diese durchgehend mit einem Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet.

Die unbescholtene Beschwerdeführerin hat zwei minderjährige Töchter, welche ebenfalls serbische Staatsbürgerinnen und Inhaber von Aufenthaltskarten (Angehörige eines EWR-Bürgers oder Schweizer Bürgers) mit einer Gültigkeit von 05.10.2017 bis 05.10.2022 sind; die Beschwerdeführerin lebt mit ihren beiden Kindern in einem gemeinsamen Haushalt in Wien.

Der Ex-Ehegatte der Beschwerdeführerin, ein serbischer Staatsbürger, ist seit dem 10.08.2020 mit einem Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet, jedoch aktuell nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels.

Dem angefochtenen Bescheid sowie dem Verwaltungsakt lassen sich keine einzelfallbezogenen Feststellungen zur Begründung der Annahme des Vorliegens einer Aufenthaltsehe sowie einer mit einem Aufenthalt der Beschwerdeführerin einhergehenden tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit entnehmen.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen zu den von der Beschwerdeführerin geführten Personalien und zur Staatsangehörigkeit gründen sich auf den im Veraltungsakt dokumentierten Umstand, dass diese Inhaberin eines serbischen Reisepasses sowie eines Aufenthaltstitels lautend auf die im Spruch genannten Personalien ist.

Die Ausführungen zum Verfahrensverlauf ergeben sich aus dem Inhalt der entsprechenden Verwaltungs- und Gerichtsakten.

Die Feststellungen über die Staatsangehörigkeit und den aufenthaltsrechtlichen Status des Ehegatten der Beschwerdeführerin ergeben sich aus dem unstrittigen Akteninhalt sowie der aktuellen Einsichtnahme in das Zentrale Fremdenregister. Die erfolgte Eheschließung wurde auch dem Verfahren vor der Niederlassung- und Aufenthaltsbehörde und vor dem Bundesamt zugrunde gelegt. Der Aufenthalt von zwei minderjährigen Töchtern der Beschwerdeführerin in Österreich und deren aufenthaltsrechtliche Stellung ergibt sich aus den Erwägungen im angefochtenen Bescheid in Zusammenschau mit personenbezogenen Abfragen im Zentralen Fremdenregister, der gemeinsame Wohnsitz mit der Beschwerdeführerin lässt sich dem Zentralen Melderegister entnehmen. Die Feststellungen über die behördlichen Wohnsitzmeldungen der Beschwerdeführerin, ihres Ehegatten und ihres Ex-Ehegatten ergeben sich ebenfalls aus dem Zentralen Melderegister.

Die Feststellungen über die strafrechtliche Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin ergibt sich aus einem aktuellen Auszug aus dem Strafregister.

Die Feststellung, dass der angefochtene Bescheid keine einzelfallbezogenen Erwägungen über die Gründe für die Annahme einer Aufenthaltsehe sowie eine von der Beschwerdeführerin ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit enthält, ergibt sich aus jener Erledigung in Zusammenschau mit dem sonstigen Inhalt des Verwaltungsakts (siehe dazu sogleich).

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG, BGBl I 2012/87 idF BGBl I 2013/144 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

Zu Spruchteil A) Stattgabe der Beschwerde

3.2. Zur Erlassung eines Aufenthaltsverbots stellen sich die maßgeblichen Rechtsgrundlagen wie folgt dar:

§ 67 Abs. 1 FPG lautet:

"Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist."

Gemäß § 70 Abs. 1 FPG werden die Ausweisung und das Aufenthaltsverbot spätestens mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar; der EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige hat dann unverzüglich auszureisen. Der Eintritt der Durchsetzbarkeit ist für die Dauer eines Freiheitsentzuges aufgeschoben, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde.

Gemäß § 70 Abs. 3 FPG ist EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen bei der Erlassung einer Ausweisung oder eines Aufenthaltsverbotes von Amts wegen ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat zu erteilen, es sei denn, die sofortige Ausreise wäre im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich.

Die mit "Schutz des Privat- und Familienlebens" betitelten § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG lauten wie folgt:

"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.       die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.       das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.       die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.       der Grad der Integration,

5.       die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.       die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.       Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.       die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.       die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."

Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG ist ein begünstigter Drittstaatsangehöriger der Ehegatte, eingetragene Partner, eigene Verwandte und Verwandte des Ehegatten oder eingetragenen Partners eines EWR-Bürgers oder Schweizer Bürgers oder Österreichers, die ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht in Anspruch genommen haben, in gerader absteigender Linie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, darüber hinaus, sofern ihnen Unterhalt tatsächlich gewährt wird, sowie eigene Verwandte und Verwandte des Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie, sofern ihnen Unterhalt tatsächlich gewährt wird, insofern dieser Drittstaatsangehörige den unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, von dem sich seine unionsrechtliche Begünstigung herleitet, begleitet oder ihm nachzieht.

3.3. Die Beschwerdeführerin ist aufgrund ihrer serbischen Staatsangehörigkeit Drittstaatsangehörige iSd. § 2 Abs. 4 Z 10 FPG.

Staatsangehörige der Republik Serbien, die Inhaber eines biometrischen Reisepasses sind, sind nach Art. 1 Abs. 2 iVm Anlage II der Verordnung (EG) Nr. 539/2011 vom 15.03.2001, ABl. L 81 vom 21.03.2001, S. 1, von der Visumpflicht für einen Aufenthalt, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet, befreit.

Die Beschwerdeführerin ist seit September 2017 mit einem bulgarischen Staatsbürger verheiratet, welcher im Bundesgebiet über eine unbefristete Anmeldebescheinigung (Arbeitnehmer) verfügt und hier mit einem Hauptwohnsitz gemeldet ist.

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits zum Ausdruck gebracht, dass einem Fremden, der mit einem in Österreich lebenden, sein unionsrechtliches Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmenden EU-Bürger aufrecht verheiratet ist (unabhängig davon, ob die Ehe als Scheinehe zu qualifizieren wäre), die Rechtsposition als begünstigter Drittstaatsangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG zukommt. Insofern treffe zu, dass das formell aufrechte Bestehen der Ehe maßgeblich ist. Das steht der Wahrnehmung einer Scheinehe aber nicht entgegen, sondern bedeutet nur, dass sich die Konsequenzen dieser Scheinehe nach den für begünstigte Drittstaatsangehörige geltenden Regeln bestimmen. Insbesondere käme etwa die Erlassung eines Aufenthaltsverbots nach § 67 Abs. 1 FPG, weil auf Grund des persönlichen Verhaltens des begünstigten Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist, in Betracht. Daran kann auch auf Grundlage der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) kein Zweifel bestehen, sieht doch deren Art. 35 vor, dass die Mitgliedstaaten die Maßnahmen erlassen können, die notwendig sind, um die durch die Richtlinie verliehenen Rechte "im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z.B. durch Eingehung von Scheinehen - zu verweigern" (vgl. VwGH 14.4.2016, Ro 2016/21/0005 mwN).

Der Beschwerdeführerin kommt aufgrund ihrer Ehe mit einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger in Österreich ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu. Sie ist begünstigte Drittstaatsangehörige, hat aber noch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 54a NAG erworben. Nachdem sich die Beschwerdeführerin auch noch nicht seit zehn Jahren im Bundesgebiet aufhält, ist bei ihr nicht der Prüfungsmaßstab des § 67 Abs. 1 Satz 5 FPG anzuwenden, sondern jener des § 67 Abs. 1 Satz 2 FPG. Ihr persönliches Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Es ist vielmehr abzuwägen, ob das Allgemeininteresse an der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes schwerer wiegt als andere relativierende Momente, wie etwa auch das Familien- und Familienleben des Betroffenen.

3.4. Bei der Erstellung von Gefährdungsprognosen ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FrPolG 2005 zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dessen Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne Weiteres die erforderliche Gefährdungsprognose begründen können (vgl. VwGH 27.4.2020, Ra 2019/21/0367).

Auch ein festgestelltes Fehlverhalten eines Fremden, das (noch) nicht zu einer gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Bestrafung geführt hat, kann zur Beurteilung der für ein Aufenthaltsverbot erforderlichen Gefährdungsprognose herangezogen werden (vgl. VwGH 23.3.2017, Ra 2016/21/0349).

Gemäß § 60 AVG sind in der Begründung eines Bescheides die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Die Begründung eines Bescheides bedeutet die Bekanntgabe der Erwägungen, aus denen die Behörde zur Überzeugung gelangt ist, dass ein bestimmter Sachverhalt vorliegt und dass damit der Tatbestand einer bestimmten Rechtsnorm verwirklicht ist. Die Begründung eines Bescheides hat Klarheit über die tatsächlichen Annahmen der Behörde und ihre rechtlichen Erwägungen zu schaffen. In sachverhaltsmäßiger Hinsicht hat sie daher alle jene Feststellungen in konkretisierter Form zu enthalten, die zur Subsumierung dieses Sachverhaltes unter die von der Behörde herangezogene Norm erforderlich sind. Denn nur so ist es möglich, den Bescheid auf seine Rechtsrichtigkeit zu überprüfen (VwGH 23.11.1993, 93/04/0156; 13.10.1991, 90/09/0186; 28.7.1994, 90/07/0029).

3.5. Genau diesen Erfordernissen an eine Bescheidbegründung ist das Bundesamt aber nicht nachgekommen. Die Behörde stellt das der Beschwerdeführerin zur Last gelegte und den Grund für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes bildende Fehlverhalten nicht einmal rudimentär dar.

Die Begründung des angefochtenen Bescheides beschränkt sich fallgegenständlich auf die Annahme, dass die zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem bulgarischen Ehegatten geschlossene Ehe als Aufenthaltsehe zu qualifizieren sei, wobei dies im Wesentlichen auf den Umstand gestützt wird, dass die Beschwerdeführerin und ihr Ehegatte zu den im Verfahren vor dem Bundesamt anberaumten Einvernahme-Terminen nicht erschienen seien, zumal sich der Ehegatte (zu den fraglichen Zeitpunkten) in Bulgarien aufgehalten hätte. Weitergehende Ausführungen dazu, aufgrund welcher Sachverhaltsaspekte eine Aufenthaltsehe anzunehmen sei, wurden im angefochtenen Bescheid nicht dargelegt. Alleine die Umstände, dass die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann im behördlichen Verfahren nicht mitgewirkt haben und der Ehegatte sich in Bulgarien aufgehalten hätte, vermögen die Feststellung einer Aufenthaltsehe nicht zu tragen. Selbst das Fehlen eines gemeinsamen Haushaltes bzw. eines gemeinsamen Wohnsitzes führt nämlich nicht per se zu der Annahme, dass eine Aufenthaltsehe vorliegt (vgl. VwGH 27.2.2020, Ra 2019/22/0205). Es lassen sich zwar im Verwaltungsakt einliegenden Berichten einer Landespolizeidirektion vom 10.10.2018 und vom 29.01.2019 gewisse Verdachtsmomente für das Vorliegen einer Aufenthaltsehe entnehmen, doch enthält der angefochtene Bescheid einerseits keine Auseinandersetzung mit dem Inhalt jener Berichte und es lassen sich den darin getroffenen Ausführungen ungeachtet dessen keine konkreten Sachverhalte entnehmen, welche die Feststellung einer Aufenthaltsehe für sich genommen tragen würden. Schließlich ist auch festzuhalten, dass die Ladungen zu Einvernahmen im Verfahren vor dem Bundesamt für Juni und September 2019 erfolgten, sodass sich die im angefochtenen, am 31.07.2020 ausgefertigten, Bescheid getroffenen Ausführungen zum Auslandsaufenthalt des Ehegatten auch insofern nicht mehr aktuell erweisen.

In der Folge hat die Behörde auch keine individualisierte Gefährdungsprognose getroffen, sondern lediglich auf das Vorliegen der – wie dargelegt nicht hinreichend begründeten – Aufenthaltsehe verwiesen. Der angefochtene Bescheid legte nicht offen, aufgrund welchen Verhaltens der Beschwerdeführerin ein (weiterer) Aufenthalt im Bundesgebiet eine tatsächliche, erhebliche und auch gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bewirken würde, welcher die Erlassung eines Aufenthaltsverbots in der höchstzulässigen Dauer erforderlich werden lässt. Der angefochtene Bescheid legt einerseits zugrunde, dass die Beschwerdeführerin strafgerichtlich unbescholten sei; in der Folge wird auf das Vorliegen einer Aufenthaltsehe verwiesen und vermerkt, dass „der Unrechtsgehalt dieser Straftat“ „bei weitem das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung und die privaten Interessen am Verbleib im Bundesgebiet“ überwiege; weiters wurde ausgeführt, dass sich die Beschwerdeführerin im vollen Bewusstsein dazu entschlossen habe, das „oben angeführte Verbrechen auszuführen.“ (vgl. jeweils Verwaltungsakt, Seite 70). Da sich dem gesamten Akt jedoch keine Hinweise auf ein strafgerichtliches Fehlverhalten respektive eine Verurteilung der Beschwerdeführerin entnehmen lassen, kommt jenen Erwägungen kein nachvollziehbarer Begründungwert zu.

Die Begründung des angefochtenen Bescheides lässt vor dem Hintergrund dieser Voraussetzungen nähere fallbezogene Erwägungen dazu vermissen, weshalb im Falle der Beschwerdeführerin auf Grund ihres bisherigen Gesamtverhaltens die Annahme einer gegenwärtigen und als hinreichend schwer zu qualifizierenden Gefahr gerechtfertigt wäre.

Vor diesem Hintergrund kann im konkreten Fall keine für die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes gebotene tatsächliche, erhebliche und auch gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung seitens der Beschwerdeführerin erkannt werden.

3.6. Im Übrigen erweist sich auch die vorgenommene Interessensabwägung nach Art. 8 EMRK als unzureichend; hierzu wurde im Wesentlichen festgehalten, dass mangels Vorbringens der Beschwerdeführerin keine Feststellungen über ihr Familien- und Privatleben getroffen werden konnten. Da jedoch aktenkundig ist, dass die Beschwerdeführerin sorgepflichtig für zwei minderjährige Töchter ist, welche im gemeinsamen Haushalt mit ihr leben und zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt sind, wäre jedenfalls auf die Auswirkung einer Aufenthaltsbeendigung auf die Beziehung zu den beiden Minderjährigen einzugehen gewesen.

3.7. Da die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid keine für die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes gebotene tatsächliche, erhebliche und auch gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aufgezeigt hat, liegen die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots nicht vor. Demzufolge war der Beschwerde stattzugeben und der angefochtene Bescheid zu beheben.

4. Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Die Verhandlung kann nach Abs. 2 entfallen, wenn der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist (Z 1) oder die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist (Z 2).

Da der Bescheid aufzuheben war, konnte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß §§ 21 Abs. 7 BFA-VG iVm 24 Abs. 2 VwGVG unterbleiben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

Schlagworte

Aufenthaltsehe Aufenthaltsverbot aufgehoben begünstigte Drittstaatsangehörige Behebung der Entscheidung Durchsetzungsaufschub ersatzlose Behebung Gefährdungsprognose Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W192.2234796.1.00

Im RIS seit

14.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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