Entscheidungsdatum
04.11.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W128 2235297-1/6Z
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Mag. Michael FUCHS-ROBETIN über die Beschwerde des iranischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch Verein für Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.09.2020, Zl. 1096585710/200574611:
A)
Das Beschwerdeverfahren wird gemäß § 17 VwGVG in Verbindung mit § 38 AVG bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache C-18/20 über die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 18.12.2019, EU 2019/0008 (Ro 2019/14/0006), vorgelegten Fragen ausgesetzt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein iranischer Staatsangehöriger, stellte erstmals am 22.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund nannte er, im Iran nicht „normal“ Leben zu können. Aufgrund seines Aussehens werde er immer für einen Afghanen gehalten und aus diesem Grund von den Behörden kontrolliert, festgenommen und verprügelt. Im Laufe des Verfahrens brachte er zudem vor, mittlerweile in Österreich zum Christentum konvertiert zu seien, weshalb ihn nunmehr auch aufgrund seiner Religion im Iran Verfolgung drohe.
2. Mit Bescheid vom 04.05.2017 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Iran zulässig sei und setzte eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise.
3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchfüh-rung einer Verhandlung – mit Erkenntnis vom 29.05.2020, Zl. L506 2161096-1, rechtskräftig seit 29.05.2020, als unbegründet ab.
4. Am 08.07.2020 stellte der Beschwerdeführer einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass ihm – neben seinem Religionswechsel – auch aufgrund seinen politischen Aktivitäten in den sozialen Medien bei einer Rückkehr in den Iran Verfolgung drohe. Er sei schon seit seiner Einreise in Österreich (vor vier Jahren) als politischer Aktivist tätig und verbreite auf Instagram regelmäßig negative Propaganda gegen die iranische Regierung. Auf den Videos, die er in den sozialen Medien geteilt habe, sei sein Gesicht zu erkennen; er sei deshalb auch schon bedroht worden.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des BF hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl sowie subsidiären Schutz gemäß § 68 Ab. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt I. und II.), erteilte dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung in den Iran zulässig sei (Spruchpunkt V.), stellte fest, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.) und erließ ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.).
6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde, die er gleichzeitig mit einem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 17 Abs. 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) verband. Darin brachte er vor, zusätzlich zu seinen bisherigen Ausführungen sei ihm auch aufgrund seiner Homosexualität eine Rückkehr in den Iran nicht möglich. Er habe bisher nicht über seine sexuelle Orientierung gesprochen, weil er sich zu sehr geschämt habe. Er habe im Alter von 16 Jahren seine ersten sexuellen Kontakte zu einem Freund gehabt. Sie seien in einem Park während ihrer sexuellen Handlungen von den „Sittenwächtern“ „erwischt“ und auf die Polizeistation gebracht worden, wo sie in Folge beschimpft, geschlagen sowie schwer sexuell misshandelt worden seien. Im Iran würde ihm bei einer nunmehrigen Rückkehr aufgrund seiner homosexuellen Handlungen die Todesstrafe drohen.
7. Mit Beschluss vom 01.10.2020 erkannte das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde gemäß § 17 Abs. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zu.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Zur Aussetzung des Verfahrens [Spruchpunkt A)]
1.1. Gemäß § 38 AVG (der gemäß § 17 VwGVG auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten – somit im vorliegenden Verfahren – anzuwenden ist) ist – sofern die Gesetze nicht anders bestimmen – die Behörde berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.
Unter einer „Vorfrage“ ist eine für die Entscheidung der Behörde präjudizielle Rechtsfrage zu verstehen, über die als Hauptfrage von anderen Verwaltungsbehörden oder Gerichten zu entscheiden ist (vgl. VwGH 29.08.2018, Ro 2017/17/0022; VwGH 19.12.2012, 2012/06/0141, mwN).
Nach nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bildet auch ein beim EuGH anhängiges Vorabentscheidungsverfahren für eine Verwaltungsbehörde, für deren Entscheidung die vorgelegten Fragen ebenfalls wesentlich sind, eine Vorfrage, sodass die Behörde nach § 38 AVG vorgehen kann. Für die Aussetzung des Verfahrens reicht es aus, wenn eine (bloß) ähnliche Rechtsfrage anhängig ist. Ob eine dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegte Rechtsfrage der im anhängigen Verfahren zu beurteilenden Rechtsfrage „ähnlich“ ist, ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen (vgl. zum Ganzen VwGH 13.09.2017, Ra 2017/12/0068 mwN; der VwGH bejaht diese Möglichkeit auch für sich selbst, weil er ja ebenfalls § 38 AVG anzuwenden hat: zuletzt VwGH 22.06.2020, Ra 2019/20/0248).
1.2. Mit dem im Spruch genannten Beschluss vom 18.12.2019 legte der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
„1. Erfassen die in Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung), im Weiteren: Verfahrensrichtlinie, enthaltenen Wendungen ‚neue Elemente oder Erkenntnisse‘, die ‚zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind‘, auch solche Umstände, die bereits vor rechtskräftigem Abschluss des früheren Asylverfahrens vorhanden waren?
Falls Frage 1. bejaht wird:
2. Ist es in jenem Fall, in dem neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im früheren Verfahren ohne Verschulden des Fremden nicht geltend gemacht werden konnten, ausreichend, dass es einem Asylwerber ermöglicht wird, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen früheren Verfahrens verlangen zu können?
3. Darf die Behörde, wenn den Asylwerber ein Verschulden daran trifft, dass er das Vorbringen zu den neu geltend gemachten Gründen nicht bereits im früheren Asylverfahren erstattet hat, die inhaltliche Prüfung eines Folgeantrages infolge einer nationalen Norm, die einen im Verwaltungsverfahren allgemein geltenden Grundsatz festlegt, ablehnen, obwohl der Mitgliedstaat mangels Erlassung von Sondernormen die Vorschriften des Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 Verfahrensrichtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt und infolge dessen auch nicht ausdrücklich von der in Art. 40 Abs. 4 Verfahrensrichtlinie eingeräumten Möglichkeit, eine Ausnahme von der inhaltlichen Prüfung des Folgeantrages vorsehen zu dürfen, Gebrauch gemacht hat?“
1.3. Der Beschwerdeführer stützt seinen zweiten Asylantrag (Folgenantrag) im Wesentlichen auf seine seit seiner Einreise nach Österreich ausgeübten (gegen die iranische Regierung gerichteten) politischen Aktivitäten in den sozialen Medien – somit auf Umstände, die schon vor rechtskräftigem Abschluss des ersten Asylverfahrens vorhanden waren. Es liegt demnach eine zu beurteilende Rechtsfrage vor, die den obengenannten, dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten, Rechtsfragen (zumindest) ähnlich ist, weshalb das Beschwerdeverfahren nach § 38 AVG auszusetzen war (vgl. auch die Aussetzungsbeschlüsse des VwGH: 22.06.2020, Ra 2019/20/0248; VwGH 16.06.2020, Ra 2020/19/0006; VwGH 23.03.2020, Ra 2019/14/0398).
2. Zur Unzulässigkeit der Revision [Spruchpunkt B)]
Die Revision ist unzulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Ob eine dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegte Rechtsfrage der im anhängigen Verfahren zu beurteilenden Rechtsfrage „ähnlich“ ist, ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen (siehe VwGH 13.09.2017, Ra 2017/12/0068).
Schlagworte
Aussetzung entschiedene Sache EuGH Fluchtgründe Folgeantrag VorabentscheidungsverfahrenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W128.2235297.1.00Im RIS seit
14.01.2021Zuletzt aktualisiert am
14.01.2021